E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Tate Wir, wir, wir
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7530-0086-2
Verlag: Ecco
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Eine Coming-of-age-Geschichte: »The Virgin Suicide« meets »The Florida Project« und Mary Gaitskills »Bad Behaviour« | »Das spannendste Debüt der Saison.«Vogue
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7530-0086-2
Verlag: Ecco
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dizz Tate wuchs in Florida auf und lebt derzeit in London. Ihre Kurzgeschichten wurden in diversen Medien veröffentlicht, 2018 gewann sie den Bristol Short Story Prize. Wir, wir, wirist ihr erster Roman.
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1
»Wo ist sie?« Wir stellen uns vor, dass ihre Mutter zuerst fragen wird. Anfangs leise, wenn sie im Türrahmen von Sammys Zimmer steht. Dann wird sie das leere Bett sehen. Das hin und her schaukelnde Insektengitter, das vom Fenster gerissen wurde. Wenn sie das zweite Mal fragt, wird ihre Stimme zittern, und beim dritten Mal wird sie sich überschlagen. Dann wird ihr Vater ins Zimmer rennen und die gleiche Frage stellen: »Wo ist sie?« Zuerst wird seine Stimme furchtsam klingen, wie bei unseren kleinen Schwestern, wenn sie in unsere Betten kriechen, weil sie schlecht geträumt haben. Beim zweiten Mal wird seine Frage fordernd klingen, als wollte das Zimmer ihm etwas verschweigen. Beim dritten Mal wird er die Frage am Telefon stellen und die Stimme benutzen, mit der er vor der Gemeinde seine Predigten hält und die selbst dann ruhig und gemessen klingt, wenn er den Teufel und die Hölle beschreibt. Die Frage wird durch Telefonleitungen rauschen und Männer dazu bringen, sich von ihren Stühlen zu erheben und in ihre Autos zu steigen. Sammys Mutter wird ihre eigene Mutter und sämtliche Frauen der Stadt anrufen, denen sie vertraut, und die Frauen werden die Frage nicht wiederholen, sondern sofort auflegen und andere anrufen, sie werden sogar loslaufen und bei Nachbarn an die Tür hämmern, weil die Frage dringend ist, ihr fehlt die Zeit für greinendes Geklingel. Wir stellen uns vor, wie die Frage aus Sammys Haus und aus Falls Landing heraussickert, wie sie über den Highway und die Ruinen der Baustelle rinnt und sich in unseren Wohnblöcken ausbreitet. Wie sie über den stillen See streicht wie ein erster bedrohlicher Windstoß. Die Abenddämmerung zieht langsam auf, dann ist es plötzlich dunkel. Wir schauen zu, so wie immer. Schon bald sehen wir flackernde Blaulichter. Ein Polizeiwagen nach dem anderen taucht auf dem Highway auf. Wir schauen zu, wie sie die Kurve der Ausfahrt entlangschlittern und um das rechte Ufer des Sees rasen. Dann fädeln sie sich durch das Tor von Falls Landing und verschwinden. Wir sehen das Dach von Sammys Haus über den weißen Wänden, wie es blinkt, schwarz, blau, schwarz, blau. Wir stellen uns vor, wie die Cops sich der Haustür nähern und mit schwerer Hand anklopfen, und die verzerrten Gesichter von Sammys Eltern, wenn die Mutter sich an den Vater und der Vater sich an den Türrahmen klammert. Wir stellen uns vor, wie die Nachbarskinder aufwachen und fremdartige Lichter auf ihren Zimmerwänden erblicken, blaue Botschaften, die ihre Eltern dazu bringen, sich eilig zu vergewissern, dass ihre Töchter und Söhne gut behütet im Bett liegen. Unsere Hände zittern, wir können kaum noch durch unsere Ferngläser schauen. Wir zwingen uns zur Konzentration. Erste Gestalten treten aus dem Tor von Falls Landing. Einige sind allein, andere bilden Grüppchen. Es sind Frauen. Wir kennen sie nicht persönlich, doch sie kommen uns vertraut vor, wie Frauen, die in Filmen oder unseren Träumen im Hintergrund auftauchen. Sie sehen wie Gemeindefrauen aus in ihren Hosenröcken und pastellfarbenen Pullis. Sie tragen Stirnlampen, weshalb wir ihre Gesichter nicht erkennen können. Ihre Gesichter sind wie Lichtkreise, wie unvollendete Bilder. Sie marschieren über die Baustelle Richtung See wie Eroberinnen. Einige kratzen mit langen Metallstäben im Dreck herum. Andere haben Schaufeln und Mistgabeln dabei. Sie stochern und schaben in unserem Terrain. Sie laufen bis zum Ufer des Sees, und einige halten ihre Geräte über das Wasser, aber zum Glück wagt keine es, die stille Oberfläche zu zerreißen. Der See ist dunkel und geht nahtlos in den sternlosen Himmel über, der ab und an von den schweifenden Scheinwerfern der Freizeitparks erhellt wird. Über dem See leuchtet der Mond, klein und diffus wie ein Unterwasserlicht. Wir verfolgen die Frauen mit unseren Blicken. Sie laufen zielstrebig, zögern nicht. Sie scheinen keine Angst zu haben, und das nehmen wir Fremden übel. Sie versammeln sich auf der Baustelle, nehmen die Fundamente der nicht erbauten Häuser unter die Lupe, spähen unter vergessene Planen und verrottende Bretter. Sie fallen ins Musterhaus ein, das einzige Gebäude, das fertiggestellt wurde. Die Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen huschen über Spritzennadeln, Weinflaschen und die fleckige Matratze. Die Frauen rümpfen die Nasen. Seit ein Hurrikan das Dach weggerissen hat und die Baustelle brachliegt, ist das Musterhaus ein bekanntes Liebesnest. Irgendwann hat jemand eine Matratze hineingeschleift und mit Starthilfekabeln ein Zelt darüber aufgehängt, um sie vor Regen zu schützen. Das Zelt ist dünn; wir schauen schon seit Jahren auf die schattenhaften Gestalten hinunter, die sich dort treffen, beobachten, wie sie miteinander verschmelzen und wieder auseinandergehen. Wie Schutzengel schauen wir diskret von unseren Fenstern aus zu, aber den suchenden Frauen ist Barmherzigkeit anscheinend fremd. Wie voreingenommen sie sind, kommt in ihren Bewegungen zum Ausdruck. Mit den Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen zerkratzen sie alles, was sie sehen. Als sie nichts finden, gehen sie wieder hinaus und lassen die Tür offen stehen. Zwei Frauen marschieren noch weiter am Seeufer entlang, an unseren Wohnungen vorbei. Sie steuern auf das Stück Wildnis zu, wo selbst wir uns nicht hinwagen. Wir schwenken unsere Ferngläser nach links, um ihnen zu folgen. Der Strahl einer Stirnlampe fällt auf das Warnschild am Stacheldrahtzaun, der das Stück Wildnis umgibt; ein gelbes Dreieck mit schwarzem Blitz. Das hohe Gras hinter dem Zaun ist wie eine dicke Wand. Eine der beiden Frauen leckt sich den Daumen und fasst damit an den Stacheldrahtzaun. Als ihre Hand zurückzuckt, kichern wir in uns hinein. Wir können förmlich sehen, wie dem ungläubigen Pummelchen der Strom durch den Körper schießt. Die Suche der Frauen wirkt entschlossen und choreografiert; während wir ihnen zuschauen, hören wir ihre Gedanken wie ein Mantra: »Wo ist sie?« »Wo ist sie?« »Wo ist sie?« Die Frauen sind wie lautlose, zielstrebige Soldaten. Wir bleiben den Frauen auf den Fersen, doch allmählich wird es zu dunkel, und wir verlieren sie aus den Augen. Wir jagen dem Schein ihrer Stirnlampen hinterher. In den hektisch tanzenden Lichtkreisen sehen wir eine zähnebleckende Streunerkatze, das Schwanzende einer Schlange und Eddies Leiter, die am Boden aufblitzt, aber die Szene ist wie ein schwarzer Bildschirm, auf dem gelegentlich ein Pixelschwall erscheint. Wir kämpfen gegen die Müdigkeit an, obwohl uns bereits die Augen zufallen wie bei Übernachtungspartys, wenn wir um jeden Preis wach bleiben wollen, während uns der Kaffee und die Horrorfilme nur Magenschmerzen und Albträume bescheren. Wir sitzen im Schneidersitz vor unseren Fenstern, die müden Köpfe an die Scheibe gelehnt. Die Handlung fängt an, sich zu verzerren. Die leuchtenden gesichtslosen Frauen steigen in die Luft wie Weltraumspaziergängerinnen. Leitern hängen lose vom Himmelsgewebe herab. Die Frauen springen in die Höhe, um nach den Sprossen zu greifen. Sie öffnen ihre Münder, als wollten sie mit uns sprechen, doch wir hören nur das Kreischen der Streunerkatzen, die zwischen unseren Wohnblöcken ihre nächtlichen Kämpfe austragen. Als wir aufwachen, geht gerade die Sonne auf, ein dicker roter Muskel am Horizont, der über den See blutet. Wir reiben uns die Augen und starren aus dem Fenster. Die Frauen sind auf den Boden zurückgekehrt. Die warme Luft flimmert um sie herum. Sie wirken ernüchtert, bewegen sich langsam durch die rosafarbene Morgendämmerung. Sie haben die Geräte weggelegt und scheinen wieder und wieder ihren Namen zu rufen. Sie sehen verzweifelt aus, ihre Entschlossenheit ist verschwunden. Wir kichern und richten unsere Ferngläser auf ihre Münder, die sich flehend öffnen und schließen: »Sam-my, Sam-my, Sam-my!« Auf dem Highway ertönen wieder Sirenen, und jenseits des Sees hören wir das Gejohle der ersten Touristen, die von den Hotels auf die Freizeitparks losgelassen werden. Unsere Mütter beugen sich über unsere Betten, und wir lassen die Augenlider unter ihren kühlen Händen flattern. Wir mögen ihren verkaterten Geruch nach Gin und Limetten. »Es ist etwas passiert«, sagen sie. »Was?«, flüstern wir. »Die Tochter des Predigers. Eddies kleine Freundin. Sie ist spurlos verschwunden.« Wir halten die Augen geschlossen. Kleine Freundin. Wir verdrehen die Augen unter den Lidern. »Die mit den kurzen Haaren. Wie heißt sie noch mal?« Die mit den kurzen Haaren! Unsere Mütter sind so naiv. Sie haben nicht die geringste Ahnung, wofür wir brennen und für wen unsere Herzen schlagen. »Sammy«, sagen wir leise. »Der Kaffee ist fertig«, sagen sie. »Wir erklären dir gleich alles«, sagen sie. Wir nicken und scheuchen sie aus dem Zimmer. Kaum sind wir wieder allein, kehren wir an unsere Fenster zurück. Die Baustelle unten hat sich in einen Jahrmarkt verwandelt. Um das Musterhaus herum werden Zelte errichtet. Plastikmülleimer mit Eis und Wasserflaschen säumen die Mauer von Falls Landing. An der Straße zum Highway haben Pick-ups geparkt, die Ladeflächen ein Gewirr aus Metalldetektoren, Gehstöcken, Papier und Klebeband. Die Frauen sind noch da, nicht mehr so viele, wie wir dachten, nur ungefähr ein Dutzend, mit frischen pinkfarbenen T-Shirts uniformiert, knallig und unförmig wie aus einem Multi-Pack. Sie hocken vor ihren Zelten, bereiten Kaffee auf dem Campingkocher zu oder putzen sich die Zähne und spucken das Wasser auf das gemarterte Gras. Der Sheriff ist auch da, er steht mit seinem Wagen am Tor von Falls Landing und umklammert sein Funkgerät wie ein Kind, das in die Ecke geschickt wurde. Durch unsere Fenster...