Tavaststjerna | Harte Zeiten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Tavaststjerna Harte Zeiten

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-423-42484-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-423-42484-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein großer Klassiker aus Finnland

Finnland im Jahr 1867: Ein eisiger, nicht enden wollender Winter zieht sich bis in den Juni. Erst am Mittsommertag zeigt sich die Frühlingssonne, die Felder liegenbrach, an Ernte ist nicht zu denken. Hunger, Krankheit und Tod sind die Folge. Diese'harten Zeiten' bilden die Kulisse, vor der Karl August Tavaststjerna ein Bild der erschreckenden sozialen Gegensätze und desgesellschaftlichen Umbruchs in seinem Landzeichnete. Während sich die Oberschicht auf den Gutshöfen dem Luxus hingibt, kämpfen die Armen ums Überleben.

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1
Ein Karren voll Lumpen in schmutziggrauen, zerschlissenen Säcken schob den vorgespannten Gaul einen gewundenen, abschüssigen Weg hinab. Oben auf der Anhöhe ein tavastländisches Dorf mit grauen Gehöften, von gleicher Farbe wie der trübe Himmel darüber, nur eine Spur kompakter. Diese Eintönigkeit einer lavierten Tuschzeichnung wurde durchbrochen von einem abseits gelegenen zweistöckigen Haus – dem des Dorfmagnaten – mit seinen einstmals roten Fensterrahmen und Eckpfeilern, mit weiß leuchtendem Kitt an den Scheiben und Kalk an den Schornsteinen. Oben auf dem Hügel zweigte von der Landstraße ein Nebenweg ab; sie selbst lief weiter durch das Dorf, durch die Einmündung kaum merklich verbreitert. Das war die große Chaussee zwischen Helsingfors und Tavastehus1, deren sandige, ausgefahrene Rinne sich abseits der schmalen Karrenwege der Gemeinden hielt. Der Mann, der hügelabwärts hinter dem Lumpenwagen ging, sprang plötzlich auf die Fuhre, schnalzte dem Pferd zu, und schon setzte der Gaul seine steifen Beine in rascheren Trab, um dem Karren zu entkommen, der am Abhang immer schneller wurde. Unterhalb des Hügels lag beiderseits der Straße ein Moor mit tiefen schwarzen Gräben im torfigen Erdreich sowie eine schmale Brücke, die über einen Waldbach führte. Hier fiel der Gaul wieder in seinen gemächlichen Alltagstrott und wedelte nur wütend mit dem zotteligen Schwanz, wenn der Fuhrmann ihm aus guter alter Gewohnheit eins mit der Peitsche überzog. Herr und Gaul versanken jeder in seiner Welt: der eine die Stummelpfeife im Mund, ruhig auf dem Bauch liegend über die Lumpen in all ihrer Schmuddeligkeit hingestreckt, der andere im Schritt vor der Fuhre, mit hängender Unterlippe, mürrisch angelegten Ohren und einem Ausdruck geduldiger, zäher Energie um seine zottige Gestalt. Es war ein winterlicher Vorfrühlingstag, schon ein Stück im Juni des Jahres 1867. Der Wind blies beißend kalt aus Nordosten, einzelne große Schneeflocken vor sich her treibend, die auf dem moorigen Boden liegenblieben, ohne zu schmelzen. Der Fuhrmann ließ seinen nach innen gekehrten, schläfrigen Blick über die erstarrte Landschaft schweifen, die nicht den geringsten Schimmer grünenden Lebens zeigte, obgleich die Sonne schon um drei Uhr morgens hinter den Wolkenmassen aufging und selbst die Nacht in schwaches Dämmerlicht tauchte. Der Frühling ließ lange auf sich warten, obwohl Mittsommer vor der Tür stand, und es gab Leute, die schon ganz den Glauben daran verloren hatten, daß er sich in diesem Jahr überhaupt einstellen würde. So weit man zurückdenken konnte, hatten sonst um diese Zeit im Sommer immer schon die Früchte angesetzt. Jetzt lag noch Wintereis auf dem Moor rechts des Weges, die Schneewehen hielten sich hartnäckig an den Nordhängen und hinter den Holzzäunen, die Birken im Unterholz hatten kaum Knospen, und die Salweide am Moorgraben trug ihre grauen Kätzchen wie schon im März. Der Fuhrmann sandte einen halbfrommen Gedanken zum Jüngsten Gericht, das gewiß in diesem Jahr kommen würde, hatte Gott doch sogar die Ordnung der Natur auf den Kopf gestellt. Dann verfiel er erneut ins Grübeln über die Möglichkeiten, sich und das Pferd wenigstens bis dahin vor dem Hunger zu bewahren. Er unterdrückte einen pflichteifrigen Peitschenhieb und musterte von der Fuhre aus seinen alten Kumpan. Immerhin war es der Gaul gewesen, der ihm über den langen Winter geholfen hatte, seit er aus Not und Futtermangel seine Kate in Österbotten schon kurz nach Neujahr hatte verlassen müssen und sich auf der Suche nach Arbeit und Lohn auf Fahrt über Land begeben hatte. Und er bereute es nicht, so frühzeitig aufgebrochen zu sein – im Gegenteil! In den Dörfern daheim hätte er lange auf einen Verdienst warten können, und in der Zwischenzeit wäre ihm der Gaul unter den Händen verhungert. So hatten ihm seine Voraussicht und Entschlossenheit wenigstens die wichtigste Erwerbsquelle gerettet. Zwar hatte der Abschied von Frau und Hof seine Standhaftigkeit nicht wenig auf die Probe gestellt, aber nachdem er es einmal über sich gebracht hatte, beide samt seinen drei Kindern und zwei hungernden Kühen den Händen Gottes und des Gutsbesitzers zu überlassen, sah er der Zukunft gelassener entgegen: ein wendiger Mann von dreißig Jahren mit eigenem Pferd, das weder lahmte noch zerschunden war, würde sich schon durchschlagen, sollte sich die Not auch von Österbotten über das gesamte Land ausbreiten. Der Verdienst, den er der Frau hatte heimschicken wollen, war zwar voll und ganz für das Pferd und seine eigene Verpflegung draufgegangen; aber dafür waren die daheim ja auch die größten und begierigsten Mägen losgeworden, und – herrgottnochmal! – war ihm denn etwas anderes übriggeblieben? Da war es doch besser, nur eine Frau und ein paar Kinder und zwei Kühe hungerten, als daß ein flinker Gaul und ebensolcher Kerl das Elend noch vergrößerten. So lautete summa summarum seine praktische, einfache und beschränkte Bauernphilosophie, die ihm vollauf genügte und die Ruhe der Weisen schenkte. Jetzt hatte ihn nach Irrfahrten im nördlichen Tavastland, wo der Gaul mit Fuhren für die Fabriken in Tammerfors2 Brotkrumen für sich und seinen Herrn zusammengekarrt hatte, der höhere Tagesverdienst immer weiter nach Süden gelockt, wo noch nicht die Not vor der Tür stand, wo man in besseren Kreisen Geldmittel und als Bauer Heu und Brot besaß. Zuletzt hatte er in der Gegend von Tavastehus auf eigene Faust von seinem mageren Ersparten die Lumpen aufgekauft und war damit jetzt unterwegs zur Papierfabrik von Tervakoski3, um Geschäfte zu machen. Die Idee stammte eigentlich nicht von ihm; sie war ihm bei einem Gespräch mit einem Händler in Tavastehus gekommen, der ihn für die gleiche Spekulation gewinnen wollte, die er jetzt auf eigene Rechnung betrieb. Sein österbottnischer Unternehmungsgeist hatte die glänzende Idee sogleich in die Tat umgesetzt, und nunmehr trennte ihn nur noch eine Meile4 von dem Augenblick im Fabrikkontor, wenn er seine neuen Geldscheine einstreichen würde – ganze drei vielleicht, wenn das Glück ihm hold war. Unversehens spuckte er den braunen Tabaksaft in den Graben, pfiff ein übermütiges Liedchen und riß so heftig an den Zügeln des Gauls, daß der nach einem wilden Protest mit dem Schwanz wieder in seinen gewohnten Trott fiel. »Spring, mein Pferd, sorg du dich um deinen Trab, so kriegst du zum Knabbern lauter Hafer, statt in die Krippe zu beißen!« fabulierte der Österbottnier im Übermaß seiner Zuversicht. Den Gaul elektrisierte der Übermut seines Herrn, und er setzte in beinahe vollem Trab durch eine Birkenallee, die hier eher zufällig gepflanzt worden war, noch ein gutes Stück vom Gutshof entfernt, der oben vom Dorf aus in einigem Abstand bereits flüchtig zu sehen gewesen war. Durch ein offenes Gatter am Ende der Allee jagte die Lumpenfuhre auf die bestellten Äcker des Gutes. Kein Mensch war auf den weiten, toten Feldern zu sehen, wo vom Vorjahr noch die gelben Roggenstoppeln standen, die in dem gefrorenen Boden nicht untergepflügt worden waren, und wo die Saat gelblich braungrün dalag und in den Ackerfurchen dahinsiechte, statt in die Ähren zu schießen wie sonst im Frühsommer. »Wird wohl lange auf seine Ernte warten müssen, der Gutsherr!« sinnierte der Fuhrmann mit einer leicht hinterlistigen Schadenfreude im innersten Winkel seiner Seele. Jetzt brach der Zorn Gottes über Herren wie Bauern herein, und ersteren konnte es kaum schaden, auch einmal auf die Probe harter Schicksalsschläge gestellt zu werden, die für gewöhnlich nur Bauern und Kleinkätner trafen. Aber diesmal sollten selbst die Herren nicht ungestraft davonkommen, wie sie oben in ihren blitzblanken Gutshöfen saßen, in Wolken von Tabakrauch Karten spielten und die Bauern aus ihren mit Scheinen gefüllten Tischkästen auszahlten. Im allgemeinen, so meinte er, hätten sie gar nichts anderes zu tun. Nun würden auch sie zusehen müssen, wie ihre großen Felder erst im Juli ins Korn schössen und ihnen die Saat bei den ersten Nachtfrösten im August halbreif abfröre. Woher nähmen sie dann das Geld, um ihre Tischkästen zu füllen …?! An sich hatte er gar nichts gegen die Herren; schlug dem Bauern die Ernte fehl und mußte er sich nach einem anderen Verdienst umschauen, war es schon gut, daß es sie gab, zumal sie ihm meistens Arbeit gaben. Ja, er selbst hatte ja mehr als einmal von seinem Herrn Saatgut wie Futter zu guten Bedingungen geliehen bekommen, aber trotzdem … Trotzdem! Er konnte nicht umhin, ein klein wenig Schadenfreude darüber zu empfinden, daß Gott einmal eigenhändig ohne Rücksicht auf den Stand Gerechtigkeit übte, daß er die Strafe für aller Sünden allen miteinander und nicht nur den Bauern aufbürdete. Mochten die Herren auch, da sie es sich leisten konnten, vielleicht ein klein bißchen weniger sündigen als die Bauern, frei von Schulden waren gewiß auch sie nicht! Frei von Schuld war niemand. Er hatte schon Landjäger wie auch den Landvogt angetrunken gesehen, wenn sie auch nicht gegrölt oder sich geprügelt hatten wie die Bauern. Deshalb war die Strafe Gottes auch ihnen gegönnt. Gleichwohl rückte er Hose und Mütze ein wenig zurecht, als er in einiger Entfernung über den Dächern einer kleinen Ansammlung von Katen das mächtige Giebeldach des Herrenhauses auftauchen sah. Die Größe des Gutes imponierte ihm, und als er das Dorf passiert hatte, stieg er von der Fuhre, strich dem Gaul unterm Zaumzeug die zerzauste Mähne glatt, zog ihm einen kräftigen Hieb mit der Peitsche über, damit er Haltung annähme, und traf alle Vorkehrungen, um in großer Gala unter den Fenstern des Gutshauses vorüberzufahren; denn der Weg führte...


Tavaststjerna, Karl August
Karl August Tavaststjerna (1860-1898) arbeitete als Architekt, Schriftsteller und Redakteur. Von Strindberg beeinflusst, gilt er als bedeutendster Vertreter realistischer finnlandschwedischer Literatur des 19. Jahrhunderts.

Karl August Tavaststjerna (1860-1898) arbeitete als Architekt, Schriftsteller und Redakteur. Von Strindberg beeinflusst, gilt er als bedeutendster Vertreter realistischer finnlandschwedischer Literatur des 19. Jahrhunderts.

Karl August Tavaststjerna (1860-1898) arbeitete als Architekt, Schriftsteller und Redakteur. Von Strindberg beeinflusst, gilt er als bedeutendster Vertreter realistischer finnlandschwedischer Literatur des 19. Jahrhunderts.



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