Teuscher | Erzähltes Recht | Buch | 978-3-593-38494-8 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 44, 359 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 452 g

Reihe: Campus Historische Studien

Teuscher

Erzähltes Recht

Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter
1. Auflage 2007
ISBN: 978-3-593-38494-8
Verlag: Campus

Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter

Buch, Deutsch, Band 44, 359 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 452 g

Reihe: Campus Historische Studien

ISBN: 978-3-593-38494-8
Verlag: Campus


Gab es im Mittelalter ein auf mündlicher Überlieferung gründendes 'gutes altes Recht', wie es etwa die Gebrüder Grimm zu entdecken meinten? Um diese Frage zu beantworten, untersucht Simon Teuscher den Ausbau zentraler Verwaltungen und die Ausbreitung neuer Schreibpraktiken auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Er zeigt einerseits, dass beide Entwicklungen einen Wandel lokaler Herrschaftskulturen und die Ausbildung neuer Normsysteme mit sich brachten. Andererseits räumt er mit alten Vorstellungen über orale Gesellschaften und ihre Rechtsgewohnheiten auf – denn das 'erzählte Recht' wurde entscheidend durch Praktiken des Schriftgebrauchs geformt.

Ausgezeichnet von H-Soz-u-Kult als "Das Historische Buch 2008" in der Kategorie "Mittelalterliche Geschichte"

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Inhalt

Dank 11

1 Einleitung 13
1.2 Problemstellung 13
1.2 Forschungsdiskussionen 15
1.3 Untersuchungsraum 26
1.4 Untersuchungsmaterial und Vorgehensweisen 35

2 Zwei Befragungsverfahren 45
2.1 Einleitung 45
2.2 Kundschaft: Ein Verfahren im Umbruch 48
Von der Konsensbildung zur Wahrheitsfindung 48
Innovationen der territorialherrlichen Kanzleien 58
2.3 Zwischen Weisung und Weistum 73
Protagonisten und Aufgaben der Dinggerichte 73
Spielarten der Rechtstradierung 85
2.4 Schluss 98

3 Umgang mit Herrschaftsrechten 101
3.1 Einleitung 101
3.2 Rechte ausüben 106
Abwesende Herren 106
Verzweigungen der Herrschaftsorganisation 113
Um Rechte streiten 123
3.3 Gewohnheiten, Rechte oder Rechtsgewohnheiten? 131
Unregelmäßige Gewohnheiten 131
Ungewohnte Rechte 142
3.4 Schluss 149

4 Kundschaftsaufzeichnungen: Protokollier- und Erzähltechniken 152
4.1 Einleitung 152
4.2 Objekteigenschaften und Handhabung der Aufzeichnungen 156
Von der Urkunde zum Rodel 156
Vom Rodel zum Buch 164
4.3 Typisierte Erzählungen 175
Erinnerungen an Rechtsverfahren und Rechtsformeln 175
Der zitierte Alltag 184
Funktionswandel der 'grauen Vorzeit' 189
4.4 Schluss 202

5 Weistümer: Mikrokosmische Rechtsdarstellungen 206
5.1 Einleitung 206
5.2 Varianten der Verschriftlichung lokaler Rechte 210
Prozesse der Gattungsdifferenzierung 210
Alternativen und Anlässe der Aufzeichnung von Weistümern 218
5.3 Weistumsgenesen 228
Zürcher Offnungen 228
Waadtländer Plaicts 239
5.4 Schluss 252

6 Stile des Dokumentgebrauchs 256
6.1 Einleitung 256
6.2 Zeigen und Erzählen 260
Mit Dokumenten argumentieren 260
Funktionsweisen der Ostentation 270
6.3 Kanzleipraktiken 278
Sammeln und Ordnen 278
Auf dem Prüfstand des Gebrauchs 284
Textus und Gewohnheitsrecht 291
6.4 Schluss 302

7 Zusammenfassung und Ausblick 305
Bibliographie 318
1 Quellen 318
1.1 Ungedruckte Quellen 318
1.2 Gedruckte Quellen 320
2 Darstellungen 323
Abkürzungen 349
Register 350


Recht ist im modernen Selbstverständnis untrennbar mit Schrift verbunden. Ob Gesetze konsultiert, Formulare ausgefüllt oder Aktenstöße bewältigt werden – Schriftstücke sind aus dem gegenwärtigen Rechtsleben nicht wegzudenken. Dagegen muten spätmittelalterliche Rechte, die statt durch Schrift durch Erzählungen vermittelt wurden, exotisch an und haben die Forschung gerade deshalb seit langer Zeit fasziniert. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentliche Jacob Grimm neben seinen berühmten Märchen eine nicht weniger umfassende Sammlung spätmittelalterlicher Aufzeichnungen lokaler Rechte, sogenannter Weistümer. Wie im Fall der Märchen ging Grimm davon aus, dass die Bevölkerung diese vor ihrer Niederschrift seit unvordenklichen Zeiten mündlich tradiert hatte. In dieser Auffassung bestärkten ihn die poetischen Eingangspassagen der Weistümer. Diese schildern ritualisierte Versammlungen, bei denen der Herr eines Dorfs seinen Bauern gegenübertrat und sie aufforderte, Rechte aus der Erinnerung zu verkünden. Die jüngere Forschung hat manche der Annahmen Grimms widerlegt. Gleichzeitig erlangte das Interesse an ungeschriebenen Rechten und ihrer Verschriftlichung neue Relevanz und rückte in den Mittelpunkt sozial- und kulturwissenschaftlicher Debatten über die Implikationen der Ausbreitung neuer Medien.
Dieses Buch befasst sich mit Prozessen der Verschriftlichung von Rechten, besonders von lokalen Herrschaftsrechten, im Gebiet des heutigen schweizerischen Mittellands zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Es untersucht, wie sich mittelalterliche Akteure über ungeschriebene Rechte verständigten und wie sich Herrschaftsordnungen im Zusammenhang mit der vermehrten schriftlichen Aufzeichnung von Normen veränderten. Zur Untersuchung solcher Fragen steht auch heute wenig mehr zur Verfügung als erstmalige Aufzeichnungen zuvor ungeschriebener Rechte. Weder Grimm noch seine Kritiker nutzten allerdings die Erkenntnismöglichkeiten, welche die Materialität der Dokumente eröffnet. Denn diese sind nicht nur Texte, welche die eine und die andere Schilderung von Praktiken enthalten. Sie sind auch Artefakte und waren als solche selbst immer schon Bestandteile von Praktiken ihrer Herstellung und ihres Gebrauchs, deren Geschichte noch weitgehend unerforscht ist.
Als ältester in der Schrift schon fassbarer Ausdruck eines schriftlosen Rechtslebens gelten Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten, deren Verbindlichkeit dadurch begründet wurde, dass sie schon vor ihrer Niederschrift in der Praxis befolgt oder mündlich tradiert worden waren. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen zwei Typen solcher Dokumente, die jeweils mit spezifischen Verfahren der Rechtsfeststellung in Verbindung standen. Dabei handelt es sich zum einen um die schon von Grimm gesammelten Weistümer und verwandte Dokumente. Sie halten ganze Serien dörflicher Rechtsregeln fest und weisen diese als Inhalte traditioneller mündlicher Rechtsverkündigungen oder Rechtsweisungen an lokalen Gerichtsversammlungen aus. Zum andern gelangen hier sogenannte Kundschaftsaufzeichnungen zur Untersuchung. Diese hielten Ergebnisse von Zeugenbefragungen fest, die nicht regelmäßig, sondern nach Bedarf durchgeführt wurden, um einzelne jeweils umstrittene Regeln zu klären. Die Untersuchung stellt das Rechtsleben ländlicher Gebiete in den Vordergrund, in denen diese Verfahren hauptsächlich zur Anwendung gelangten, bezieht aber auch einzelne Beispiele aus Städten ein.
Weistümer und Kundschaftsaufzeichnungen erlauben es, die Verschriftlichung von Rechten auf unterschiedlichen Ebenen der Herrschaftsorganisation zu untersuchen. Als Texte gewähren diese Schriftstücke lebhafte Einblicke in lokale Praktiken, durch die Rechte im Alltag angerufen, umgesetzt oder auch missachtet wurden. Als Dokumente wurden Weistümer und Kundschaftsaufzeichnungen dagegen vorwiegend in formalisierten Verfahren der übergeordneten territorialen Gerichts- und Herrschaftsinstanzen gebraucht, was Sache juristisch geschulter Kanzleispezialisten war und meist mit Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Herren zusammenhing. Auf beiden Ebenen veränderten sich Kommunikationsformen im Lauf des Spätmittelalters grundlegend. Damit veränderte sich auch die Art und Weise, in der solche Rechte aus Traditionen hergeleitet und zum Gegenstand von Traditionsbildungen gemacht wurden.


Simon Teuscher ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich.



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