E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Thesenfitz Sylt oder Sahne
20001. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8437-2317-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Glücksroman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2317-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
- 5 -
Wie war das eigentlich passiert? Wodurch war sie so dick und träge geworden? Lag es am Alter, an den nahenden Wechseljahren? An ihrer bedenklichen Untervögelung? Während ihrer langen, einsamen Abende hatte sie schon oft versucht, die Gründe für ihre Gewichtsexplosion zu finden. Als Hauptursache hatte sie die Großfamiliensituation ausgemacht, in der sie aufgewachsen war. Mit zwei Cousins und einer Cousine und zwei jüngeren Schwestern hatte sie in einem Doppelhaus in einem Dorf bei Hamburg gewohnt. Plus Tante, Onkel und Mutter saßen sie meist zu neunt am Tisch. Wenn die Kinderhorde nach sechs bis sieben Stunden Unterricht und 45 Minuten Busfahrt ausgehungert aus der Schule kam, biss der Hunger derart in ihren Mägen, dass jeder Einzelne von ihnen für Essen gemordet hätte. Nie wieder war Nele so hungrig gewesen wie zu dieser Zeit, als Teenager im Wachstum. Ihr Pausenbrot war quasi verglüht, schon in der ersten Pause aufgegessen und stets nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen. Neun ausgehungerte Personen am Esstisch, die ungeduldig mit den Füßen scharrten und die Löffel schwenkten – da war Futterneid vorprogrammiert. Die neidischen, gierigen Blicke auf die Teller der anderen hatten sich Nele tief eingebrannt: Hatte ihre Schwester Merle ein größeres Stück Fleisch? Cousine Anke mehr Nudeln und Cousin Olaf mehr Soße? Die Familienmitglieder schauten futterneidisch von links nach rechts – und vor allem auf und in die Töpfe und Servierschüsseln, in denen das Essen so rasant schwand, als hätte man eine Sperrwerkschleuse geöffnet. Schon früh hatte Nele deshalb verinnerlicht, ihre Portion möglichst schnell herunterzuschlingen, damit sie noch eine zweite oder sogar dritte bekam. Die Angst, sie könnte beim Essen zu kurz kommen, war bis heute geblieben. In Hotels oder auf Familienfesten befiel sie regelmäßig eine regelrechte Panik: Vollkommen gehetzt und schweißüberströmt tigerte sie dann vor dem Buffet von links nach rechts und wusste nicht, was sie sich zuerst nehmen sollte, bevor es vielleicht »aus« wäre. Geübt scannte sie die Servierplatten nach teuren Zutaten ab und nahm sich – ganz Profi – zuerst Scampi, Lachs, Krabben und Rinderfilet, denn das war immer am schnellsten weg. Ob sie darauf Appetit hatte, war nebensächlich, Hauptsache, die Beute war gesichert! Nahrung am Buffet zu bunkern war harte Arbeit. In Windeseile schaufelte sie einen Riesenteller voll und füllte dabei Vorspeisen und Hauptgerichte durcheinander. Manchmal nahm sie auch gleich noch den Nachtisch mit. Bevor er weg war – man wusste ja nie … Wieder am Tisch, aß sie ihre Beute in Rekordgeschwindigkeit auf, um schnell wieder am Buffet sein und nachladen zu können. Mit Genuss hatte das nicht viel zu tun. Oft schmeckte sie gar nicht, was sie da im Eiltempo hinunterschlang. Am Ende fühlte sie sich regelmäßig so vollgestopft, dickbäuchig und unbeweglich wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag. Auch sonst, im Restaurant und sogar, wenn sie für sich allein etwas kochte, aß sie extrem schnell. Ihr unbewusster innerer Befehl lautete immer noch, die Nahrung rasant im Magen zu sichern, damit sie ihr keiner mehr wegnehmen konnte. Es machte sie schier wahnsinnig, wenn sie mit ihrer Langsam-Esser-Freundin Maren im Restaurant saß, die endlos redete und dabei ihre gefüllte Gabel immer wieder zum Mund führte, dann doch nicht aß, sondern die Gabel wieder ablegte und weiterquasselte. Essen in Extrem-Zeitlupe. Aber die war ja auch Einzelkind und hatte nie Angst gehabt, nicht genug zu bekommen. Und noch eine zweite Ursache hatte Nele für ihre Gewichtszunahme ausgemacht: Sie war als Kind immer sehr gerne bei ihrer Oma gewesen, und die wiederum liebte es, ihre kleine Enkelin kulinarisch zu verwöhnen. Toast mit Scheiblettenkäse zum Frühstück, Tri Top Schwarze Johannisbeere zum Mittagessen, Mon Chéri zum Kaffee und Funny Chipsfrisch abends vor dem Fernseher. Mittags kochte die Oma ihr regelmäßig ihr Lieblingsessen, Rinderhackfrikadellen mit Schnittbohnen und gebratenen Champignons, und war stolz, wenn die kleine Nele drei Teller verputzte und danach aussah wie ein Kugelfisch. Schon als Kind galt sie als »gute Esserin«, was eine Auszeichnung war und fast so toll wie eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen. Aber »gute Esser« waren aus der Mode geraten, komplett im Wert gefallen, wie eine Immobilie, in deren Nähe plötzlich Umweltschäden entdeckt worden waren oder eine Autobahn gebaut wurde. In ihrem Erwachsenenleben hatte noch nie jemand begeistert ausgerufen: »Boah! Kannst du viel essen! Wie toll!«, oder: »Du bist aber richtig schön dick geworden! Beneidenswert! Wie machst du das bloß, dass du so viel zunimmst? Du siehst echt super prall und rund aus – das würde ich auch gerne mal schaffen!« Sich mindestens einmal nachzunehmen hatte Nele aber trotzdem beibehalten. Die dritte Ursache war: Nele aß und trank einfach außerordentlich gerne, sie war ein sogenannter »Genussmensch« durch und durch. Sie konnte sich zum Beispiel noch genau an den Geschmack bestimmter Speisen erinnern, die sie vor Jahren besonders lecker gefunden hatte. Und an das herrliche Tuborg-Bier, das sie mit 18 getrunken hatte. Da hatte sie den ganzen Tag nichts gegessen, und ihr Geld (zwei Mark achtzig) reichte im Restaurant nur noch für ein »kleines Blondes«. Ausgehungert schlürfte sie das Getränk, als wäre es eine nahrhafte Suppe. Das würzige Hopfenaroma, das leicht bittere Prickeln, die goldgelbe Farbe – selten hatte sie etwas Köstlicheres getrunken, nie war ihr ein Getränk leckerer vorgekommen. Es war wirklich wie flüssiges Brot, so wie es die Sängerin Sade, die sich angeblich vorwiegend von Guinness ernährte, in einem Interview behauptet hatte. Auch »Chicken Tikka«, ihr erstes indisches Gericht, als sie gerade aus ihrem Dorf nach Hamburg gezogen war, lag ihr geschmacklich immer noch auf der Zunge, denn es war eine Offenbarung gewesen: diese unfassbar zarten, rot marinierten Tandoori-Hühnerbruststücke, die köstlich-süßliche Kokosnuss-Joghurtsoße oder der pikante Tomaten-Fenchel-Dip dazu. Und dann noch die knusprigen Papadams und der herrlich aromatische gelbe Safran-Basmatireis. Der indische Imbiss, in dem Nele das Gericht eines Abends eher aus Verzweiflung bestellt hatte, weil sie sehr hungrig und in Eile war, wurde ihre Initialzündung in Sachen Aromenvielfalt exotischer Gerichte: Chicken Jalfrezi mit frischem Gemüse in roter Currysoße oder scharfes Lammcurry – fast jeden Tag aß sie ab sofort dort. Und als sie die Karte einmal komplett durchprobiert hatte, wechselte sie zum Thai-Imbiss um die Ecke. Wenn Gerichte wie Schweinerippchen mit Erbsen und Möhren, Königsberger Klopse, Sauerkraut mit Kassler oder Grünkohl mit Kochwurst ein musikalisches Solo waren, dann war die kulinarische Vielfalt der Großstadt nun für sie wie ein ganzes Orchester, denn bis dahin hatte sie nur deutsche Hausmannskost gekannt, plus vereinzelte Ausflüge zum Griechen, Italiener oder Chinesen. Kreationen wie »Tempura von der Black Tiger Garnele in Erdnussbutter-Sesam-Grapefruit-Jus« oder die »New Surf & Turf-Sushirolle mit Gurke, Avocado, gegrillter Gamba, Beef, Habanero-Dip und Trüffel Ponzu« brannten sich für immer in Neles kulinarisches Gedächtnis ein, denn die Komposition fand sie ähnlich perfekt wie ein Musikstück, ein berührender Text oder ein perfekt getanztes Ballettstück. Tagliatelle mit weißer Trüffel, Gnocchi in Gorgonzolasoße, Oktopussalat mit Olivenöl und Zitrone oder mit Artischockenböden gefüllte Ravioli in Salbeibutter – das waren beim Italiener ihre Favoriten. Im Wok geschwenktes Rindfleisch mit roten Zwiebeln, Porree, Sellerie und buntem Pfeffer oder gegrilltes Entenbrustfilet mit Thai-Basilikum, Knoblauch, Chili und frischem Gemüse auf sautiertem Pak Choi – das liebte sie beim Vietnamesen. Natürlich mit jeder Menge Koriander, denn sie mochte Koriander sehr gerne – auch wenn viele fanden, dass er wie Seife schmeckt, und es auf Facebook sogar eine Gruppe eingeschworener Koriander-Hasser gab, die sich das mit einem Balken durchgestrichene Kraut auf die Wade hatten tätowieren lassen. Nele liebte Essen – und Essen war allgegenwärtig: Allein auf dem Weg von der Arbeit nach Hause lockten zahlreiche Coffeeshops mit leckersten Ciabattas oder Panini, aus türkischen Imbissen duftete Dönerfleisch, und Burgerbuden offerierten neue Kreationen. Überall lauerten kulinarische Versuchungen und Verlockungen – wie Zuhälter, die Kunden für ihre Mädchen einfingen. In einer Großstadt wie Hamburg wurde ständig überall Essen angeboten – aber warum waren dann trotzdem alle schlank?, fragte sich Nele. Wer aß das ganze Zeug und sicherte den Tausenden Imbissen, Restaurants und Coffeeshops ihre Existenz? Horden von Dicken, die unbemerkt einfielen und sich dann wieder in ihre Wohnungen verkrochen? Nele fiel es jedenfalls sehr schwer, all den täglichen Verführungen zu widerstehen. Sie konnte einfach schlecht maßhalten. Das galt beim Essen – und auch beim Wein. Nur ein Glas – das war nicht...