E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Reihe: zur Einführung
Tietz Hans-Georg Gadamer zur Einführung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-094-7
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-094-7
Verlag: Junius Verlag
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2. Hermeneutik
In Heidelberg fand Gadamer gute Arbeitsbedingungen vor. Er führte das Leben eines deutschen Universitätsprofessors in einer offenen und zunehmend wohlhabenderen Gesellschaft, so daß sich der passionierte Lehrer nun auch wieder einem größeren Forschungsprojekt zuwenden konnte, in dem er, anknüpfend an Heideggers »Hermeneutik der Faktizität« und an die programmatischen Intuitionen der Habilitation, die Arbeitsergebnisse der letzten zwei Jahrzehnte in einer durchsystematisierten Gesamtkonzeption zusammenfassen wollte. Nun war jedoch Gadamers Stärke nie die begriffliche Konstruktion, sondern eher die aufweisende phänomenologische Konkretisierung im Gespräch. Daher schob er, darin ganz Sokratiker, das Schreiben immer so lange hinaus, wie es eben gerade ging. Nun ging es aber nicht mehr. (SR 354) Wiederholt forderte Heidegger seinen ehemaligen Schüler auf, endlich einmal ein Buch zu schreiben. Und auch seine Frau (ohne die Wahrheit und Methode wahrscheinlich nie fertig geworden wäre), seine neuen Schüler und einige seiner älteren Freunde und Kollegen meinten, daß Gadamer endlich die Gesamtkonzeption, die er im Kopf hatte, in eine geschlossene Form bringen sollte – hatte er doch nach der Habilitation kein weiteres Buch mehr geschrieben. Diese Gesamtkonzeption stellte Gadamer unter den Titel »Theorie der Hermeneutik«. Einen ersten Vorstoß in Richtung auf diese Theorie bildet die Vorlesung »Kunst und Geschichte (Einleitung in die Geisteswissenschaften)«, die er in regelmäßigen Abständen seit dem Sommersemester 1936 hielt. Diese Vorlesung, die er zur Basis eines ausführlichen Rechenschaftsberichts auch über seine eigene historisch-philosophische Arbeitsweise machte, bildete die Grundlage der hermeneutischen Philosophie von Gadamer, die dieser selbst jedoch lieber philosophische Hermeneutik nannte (die Bescheidenheit verbot es Gadamer, »das anspruchsvolle Wort ›Philosophie‹« für sich zu gebrauchen, das er daher »nur attributiv« verwendete). (HDS 199) In einer Rede, die Gadamer aus Anlaß seiner Wahl in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 27. Mai 1951 hielt, kündigte er an, daß diese »Theorie der Hermeneutik« die Rechtfertigung dafür liefern würde, daß »alle Interpretation ein Moment der Selbstauslegung enthält und alle Forschung auf dem Felde der Geschichte der Philosophie selber Philosophie ist«18. Diese Theorie ließ jedoch zunächst einmal auf sich warten. Anfangs kam Gadamer nicht recht voran. Immer hatte er »das verdammte Gefühl, Heidegger gucke [ihm] dabei über die Schulter« (SD 491). So blieb ihm das Schreiben lange Zeit »eine fürchterliche Qual«. Er vermißte sein Gegenüber, den Gesprächspartner, mit dem man im Dialog über die Sache redet. Die angekündigte Fertigstellung des Manuskriptes zog sich daher immer wieder in die Länge. Erst im Verlauf des Wintersemesters 1958/59, Gadamer hatte erstmalig ein Urlaubssemester erhalten, konnte er die Arbeit an seinem Hauptwerk beenden, das im Jahre 1960 unter dem Titel Wahrheit und Methode erschien. Ursprünglich sollte dieses Werk jedoch einen anderen Titel tragen, zumindest wenn es nach Gadamer gegangen wäre. Er schlug seinem Verleger Hans Georg Siebeck den Titel »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik« vor. Dieser konnte sich aber gar nicht mit einem solch sperrigen Titel anfreunden. Er fragte Gadamer: »Na, Hermeneutik, was ist denn das?« – und »verbannte« ihn in den Untertitel. Dennoch setzte sich der seinerzeit verworfene Titel als Kennzeichnung der Gadamerschen Philosophie durch. Und dies verdanken wir weitestgehend der Wirkung eines einzigen Buches, eben Wahrheit und Methode. Nun hatte es jedoch mit Gadamers Projekttitel eine besondere Bewandtnis. Wenn man von dem Begriff der »hermeneutica generalis« und damit von den Hermeneutikauffassungen des 17. und 18. Jahrhunderts einmal absieht, dann steht der Begriff »Hermeneutik« seit Dilthey für eine Methodologie der Geisteswissenschaften. Daher gingen anfangs einige Leser davon aus, daß es sich hierbei um den Versuch handelt, die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften einer gegenüber den Naturwissenschaften eigenständigen Legitimierung zu unterziehen; und Gadamers Werk beginnt zunächst ja auch mit der Frage nach der rechten Epistemologie der Geisteswissenschaften. Gadamer zielt aber gerade nicht auf deren erkenntnistheoretische Legitimation, sondern auf das, was über den Kontrollbereich der Methode hinausführt. Er glaubt nicht, daß es jemals möglich sein wird, den Geisteswissenschaften das systematische Ideal eines strikten Methodenwissens aufzuzwingen. Sein Hermeneutikbegriff steht sowohl gegen die wissenschaftstheoretische Verengung, die die Hermeneutik im 19. Jahrhundert erfuhr, als sie, inspiriert vom deutschen Idealismus, Interpretationslehren entwickelte, mit denen den Geisteswissenschaften ein tragfähiges Fundament verschafft werden sollte, als auch gegen positivistische Selbstmißverständnisse, wie sie im 20. Jahrhundert durch die Rezeption englischer und amerikanischer Methoden befördert wurden. (H 426 und NW 449) »Eine ›Kunstlehre‹ des Verstehens, wie es die ältere Hermeneutik sein wollte, lag nicht in meiner Absicht. Ich wollte nicht ein System von Kunstregeln entwickeln, die das methodische Verfahren der Geisteswissenschaften zu beschreiben oder gar zu leiten vermöchten. Meine Absicht war auch nicht, die theoretischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, um die gewonnenen Ergebnisse ins Praktische zu wenden. […] Mein eigener Anspruch […] war und ist ein philosophischer: Nicht, was wir tun, nicht, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage. Insofern ist von den Methoden der Geisteswissenschaften hier überhaupt nicht die Rede. Ich gehe vielmehr davon aus, daß die historischen Geisteswissenschaften, wie sie aus der deutschen Romantik hervorgingen und sich mit dem Geist der modernen Wissenschaft durchdrangen, ein humanistisches Erbe verwalten, das sie gegenüber allen anderen Arten moderner Forschung auszeichnet und in die Nähe ganz andersartiger außerwissenschaftlicher Erfahrungen, insbesondere der der Kunst, bringt.« (VW 438) Gadamer bestreitet also nicht etwa die Relevanz der neuzeitlichen Methoden in den Natur- und Geisteswissenschaften. Dies wäre einfach absurd. Auch für ihn steht es natürlich außer Zweifel, daß methodische Sauberkeit eine unerläßliche Bedingung jeder wissenschaftlichen Arbeit darstellt. Zudem ist die hermeneutische Reflexion, die in Wahrheit und Methode angestellt wird, ja zu einem großen Teil selbst »aus der konkreten Praxis der Wissenschaften hervorgewachsen, für die Methodengesinnung, d.h. kontrolliertes Verfahren und Falsifizierbarkeit, selbstverständlich ist« (NW 449). Und Gadamer geht es auch nicht darum, den »alten Methodenstreit zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu erneuern« – wenngleich er faktisch von der klassischen Zweiteilung der Natur- und Geisteswissenschaften ausgeht. Er wendet sich gegen die Hypostasierung des »erkenntnistheoretischen Methodologismus« (WM 287), weil er meint, daß sich das Primat des Selbstbewußtseins und das Primat der Methode spiegelbildlich zueinander verhalten. (LT 46) Gadamer will mit seiner Hermeneutik im Rücken der streitenden Parteien Stellung beziehen und aufzeigen, »was durch jenen Methodenstreit verdeckt und verkannt wird, etwas, was die moderne Wissenschaft nicht so sehr begrenzt oder einschränkt, als vielmehr ihr vorausliegt und sie zu ihrem Teile möglich macht« (VW 439). Und das, was den modernen Wissenschaften und ihren Methoden vorausliegt, sind jene Bedingungen, die die wissenschaftlichen Objektivierungen überhaupt erst ermöglichen. Analog zu Heidegger hält auch Gadamer an einer reflexiven Aufklärung dieser Möglichkeitsbedingungen fest und erschließt den Sinn der wissenschaftlichen Thematisierungsweisen in den Natur- und Geisteswissenschaften mit Rekurs auf das Seinsverständnis derer, die sich in ihrer alltäglichen Existenz zu Seiendem in der Welt verhalten. Auf dieses Seinsverständnis stößt der Hermeneutiker nun aber nicht in objektivierender Einstellung, sondern indem er hinter die von der Transzendentalphilosophie am Leitfaden der Wissenschaften freigelegte kategoriale Verfassung des Seienden zurückfragt. In diesem Sinn kann man sagen, daß sich die philosophische Hermeneutik einer philosophischen Bewegung im 20. Jahrhundert eingliedert, die die einseitige Orientierung am Faktum der Wissenschaft überwand, wie sie sowohl für den Neukantianismus als auch für den damaligen Positivismus selbstverständlich war. Gleichwohl hat die philosophische Hermeneutik »wissenschaftstheoretische Relevanz, soweit sie innerhalb der Wissenschaften durch hermeneutische Reflexion Wahrheitsbedingungen aufdeckt, die nicht in der Logik der Forschung liegen, sondern ihr vorausgehen. Das ist im besonderen Maße, wenn auch nicht ausschließlich, in den sogenannten Geisteswissenschaften der Fall, deren englisches...