Toman | Lob des Opportunismus | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 400 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm

Toman Lob des Opportunismus


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99047-116-6
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 400 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm

ISBN: 978-3-99047-116-6
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Im Roman "Lob des Opportunismus", der im Original 2016 erschien und den Preis des Tschechischen Literaturfonds erhielt, trifft ein unerwarteter und außergewöhnlicher Erzähler auf ein spannendes Stück mitteleuropäischer Geschichte. Dieser Erzähler bildet sich sehr viel auf seine Größe, seine Urteilsfähigkeit und Allwissenheit ein, wirkt dabei aber häufig borniert und manchmal witzig. Ein Palast als Erzähler? Von der angesehenen Familie Czernín in Prag erbaut, hat er in seiner langen Historie viele Funktionen erfüllen müssen: Residenz, Kaserne, Armenhaus, Sitz des Reichsprotektors und Außenministerium eines neuen Staates. So bewahrt er in seinen Wänden viele Geheimnisse, denen er seine eigene Interpretation mitgibt. Als Leitmotiv zieht sich durch das ganze Buch die Suche nach einem Verständnis für die Person und das tragische Ende des tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk. Aber auch zartere Gefühle spielen eine Rolle – hofft doch der Palast, ein standhafter Soldat und Fechtmeister, seine Gefühle mögen von der feinsinnigen und barmherzigen Loreto-Kapelle erwidert werden.
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II. Guardia d’intrare
»In dieser Position müsst ihr euch mit Geduld wappnen, denn wenn wir lieber angreifen als geduldig warten wollen, entstehen nur wenige Angriffe aus ihr. Ich mahne euch, zu warten, bis euer Gegner angreift, und euch dann entsprechend zu parieren …«, rät A. Marozzo. Da Marozzo andeutet, dass ein Fechter aus dieser Position nicht viel angreifen kann, dient guardia d’intrare als Endposition für einen Gegenangriff, der in einen Ausfall gegen das Gesicht des Gegners mündet, mit einem angedeuteten Schrägschritt nach links. Während Jan Masaryk ein ganz anderer Kaffee war. Oder in seinem Fall wohl eher Tee, da er lange Jahre auf den Britischen Inseln engagiert war. Oder vielleicht auch ein Cocktail mit Martini, den er so gern zubereitete? – Nein, wir wollen ja nicht um jeden Preis Lebemänner sein. Nun gut, also Sliwowitz. Volkstümlicher Sliwowitz passt. Den mochte der Herr Minister auch. Über Jan Masaryk hatte ich so einiges gehört. Seit 1934, als sich das angesehene Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der Tschechoslowakischen Republik meiner annahm, und mich so aus den Klauen der Soldateska befreite. (Mit den Soldaten, denen ich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte, fand ich als Fechter natürlich eine gemeinsame Sprache, aber die Interieure büßten das.) Und ich hörte nichts Gutes. Dass sich die niederen Beamtenränge über die höheren unterhalten, ist ja nichts Ungewöhnliches. Diese Tatsache verurteile ich keineswegs. Ich muss doch genau wissen, was ich von den Chefs zu erwarten habe und wie ich ihnen nützlich sein kann. Für mich ist das eine wertvolle Informationsquelle. In diesem Falle tratschten leider nicht nur die niederen, sondern auch die höheren. Sie beschwerten sich, dass Jan Masaryk ausgezeichnet in den Sozialkontakten war und in der Propagierung des guten Namens der Tschechoslowakei, aber sonst … organisatorisch … sagen wir, seine Schwächen hatte. Ich werde nicht um den heißen Brei herumreden. Hinsichtlich seiner Fähigkeiten, Kontakte anzuknüpfen, fielen auch Wörter wie »Playboy«. Was seine Talente betraf, das Büro in Gang zu halten und dabei den letzten Wortlaut der geltenden Vorschriften zu berücksichtigen, hörte man Wörter wie »Liederjan«. Es tut mir leid, aber wenn wir die Realität verschleiern, kommen wir nicht weit. Und wir wollen hier doch etwas über Masaryks rätselhaften Tod herausfinden, das stimmt doch, oder? Nach diesem Tod hörte man Wörter wie »Mord«, »Selbstmord« und »unglücklicher Zufall«. Also entschuldigt ihr sicher, wenn ich zuweilen etwas undiplomatisch bin. Wegen seiner spezifischen Stimmungslage (seht ihr, ich komme schon zu offiziellerem Vokabular zurück) berief man ihn nach einem Jahr aus Washington ab, Jans erstem diplomatischen Posten. Was soll’s, dass nach seinem Weggang zwanzig weitere Menschen aus eigenem Entschluss die Mission verließen. Und das Personal beschwerte sich nach dem Antritt des neuen Gesandten, dass die tägliche intensive gesellschaftliche Tätigkeit nachließ. Seine Kritiker fügten meistens etwas in der Art wie »Na ja, aber Sie wissen doch, er ist der Sohn …« an. Anstelle eines Namens hörte man wörtlich die drei Punkte. Zuerst wusste ich nicht, was ich denken sollte. Jeder Mann ist jemandes Sohn, nicht? Nur ich kann wohl eine gewisse Ausnahme darstellen … Aber allmählich begriff ich. Masaryk. Jan war natürlich der Sohn von Tomáš Garrigue, dem ersten Präsidenten der Tschechoslowakei! Und das war ein anderes Format! Der geliebte Schöpfer des tschechoslowakischen Staats, ein Mann von internationalem Ruf, Führer von Legionen, Träger des Masaryk-Hutes mit der Trikolore! Nun ja, diese Mütze erinnerte an die Mützen aus dem Judenschtetl, aber wenn sich der alte Herr weiß kleidete und aufs Pferd schwang … da konnte Humprecht Cernín nicht mithalten! Nur residierte Masaryk der Ältere leider auf der Burg. Und für mich blieb der Jüngere übrig. Und dann kam er auch nicht so ganz einfach zu mir. Nach einem Jahr in den Vereinigten Staaten war er im diplomatischen Handwerk einigermaßen geschult (dieses Selbstbewusstsein der ersten tschechoslowakischen Diplomaten, dass man Diplomatie erlernen kann!), dann wurde er nach London entsandt, wo er dreizehn lange Jahre verbrachte. Dann kam der Krieg. Gründlicher lernten wir uns erst nach dem Krieg kennen. Ich erinnere mich, wie er damals im Juni 1945 zum ersten Mal ins Vestibül kam. (Es wurde nicht einmal der Prunkeingang geöffnet, ich sage ja, so ganz kann man Diplomatie nicht erlernen.) Er lächelte, das gefiel mir, aber in seinen Augen stand eine seltsame Scheu, oder sogar Trauer. Er sah sich um – das war in Ordnung – und dann blieb sein Blick an den Gesichtern der einzelnen Anwesenden hängen, von denen er nicht wissen konnte, wer sie waren. Er begann sie zu begrüßen, einen nach dem anderen. Ich war entsetzt! Er konnte doch nicht wissen, ob das nicht vielleicht einfache Lakaien waren! Nun gut, Lakaien gab es damals eigentlich nicht mehr. Dann stellte sich heraus, dass er mit ihnen bekannt war. Er erinnerte sich an die Lakaien – woran nichts Schlimmes wäre, das gehört zum guten Ton – aber er schüttelte ihnen die Hände, als wären sie die besten Freunde! Und das war nicht mehr in Ordnung. Der erste Eindruck war also ziemlich armselig. Was sollte ich auch denken? Ein protegiertes Söhnchen, dem sein Vater den Weg geebnet hatte. Jemand, der gekonnt mit den Herzen der Menschen in seiner Umgebung umgehen konnte, aber nicht mehr. Jemand, der sich über die Menschen erheben sollte, aber stattdessen sich zu ihnen herabließ. Wer sich herablässt, wird häufig erniedrigt … Nun gut, ein tüchtiger Redner, ein gewandter Spaßmacher, ein großer Esser … etwas fehlt aber, nicht? Wie wäre es mit Mut? Unnachgiebigkeit? Und wie mit Autorität? Alles das, was bei einem Fechter unabdingbar ist! Für die heutige Zeit würde ich noch konzeptionelles und strategisches Denken hinzufügen. Nein, anders. Niveau. Mit diesem Wort kann man alles erfassen, was nicht zu kaufen ist. Erst als mein Schock, der leichte Verdruss und die Welle der Erinnerungen an Humprecht Jan abklangen, begannen andere Erinnerungen zu keimen. Diesen Mann hatte ich doch schon einmal irgendwo gesehen. Damals war er schlanker, hatte aber auch schon wenig Haare und die traurigen Augen, die konnte man nicht übersehen. Ich bemerkte ihn, als an der Vorderfront (zum Loretoplatz, damit wir uns verstehen) am Beginn der Fahrbahn, die hinunter zur Loreta führte, ein offenes Cabriolet anhielt. Ein paar Herrschaften stiegen aus – fast nur Männer, hier und dort auch eine Frau dabei, die sich so typisch steif hielten, wie es das Merkmal eines offiziellen Besuchs ist, und dabei den brennenden Wunsch unterdrückten, etwas anderes als nur Verhandlungen zu erleben. Der junge Mann führte sie zu dem rundlichen Platz, an dem früher die Matthäuskirche stand und der noch heute bei Fremdenführern sehr beliebt ist. Er stellte sich vor die Gäste – aber nicht wie ein Fechter, der sich einem ehrenwerten Kampf mit einer Übermacht stellt. Seine Körperhaltung war weich, gebeugt und in einer freundlichen Geste bot er offene Arme an; Marozzo kämen die Tränen. Er hatte nicht einmal einen Dolch am Gürtel. Und dann begann er zu erzählen. Über mich natürlich, über wen sonst. Dann auch über die Loreta, selbstverständlich. Seine Sprachbegabung musste man ihm lassen. Englisch sprach er perfekt, er wechselte leicht vom britischen Englisch ins amerikanische und flocht gern Slangausdrücke in seine Sprache ein (er selbst würde sagen, er »spickte sie« damit). Im Deutschen war er wie zu Hause. Polnisch und Ungarisch sprach er so tüchtig wie ein Offizier der österreichisch-ungarischen Armee mit deren gründlich gemischten Mannschaften. (Wie ich das alles erkannte? Über die Jahrhunderte lernt der Mensch so einiges … und von seinem Sprachenrepertoire sprachen selbst seine Kritiker in den ministerialen Fluren mit Hochachtung.) Fröhlich wechselte er auch in eine Sprache, die anders sein soll als Tschechisch, mir aber ganz gleich vorkommt – ins Slowakische (früher verstand ich »Slawisch« und dachte, es handelte sich um eine irgendwie universelle Sprache, bis ich begriff, dass die Slawen sich zu so etwas nie aufraffen werden.) Trotzdem hielt ich ihn für einen Touristenführer und widmete ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Die anderen interessierten mich. Sie genossen meinen Anblick, wie es nur Ausländer vermögen. Und ich musste feststellen, dass sie ähnliche Verehrung auch dem jungen Mann zuteilwerden ließen. Oh, das war kein Reisebürovertreter. Das musste ein größeres Unternehmen sein. Nach den Manieren zu urteilen, handelte es sich weder um einen Geschäftsmann noch um einen Soldaten. Es war gleichzeitig etwas Musisches an ihm, die perfekte Sprachmelodie erinnerte mich an die einstigen italienischen Architekten; leider bekam ich Italienisch nie von ihm zu hören. Musikalisches Einfühlungsvermögen, das als Einziges ermöglicht, eine Fremdsprache perfekt zu erlernen, Sprachgefühl und Redetalent...


Hauck, Raija
Raija Hauck: Geboren 1962, Dr. phil., Studium in St. Petersburg, Brno, Odessa. Slawistin, Übersetzerin, Lektorin an der Universität Greifswald. Leitet Übersetzungsworkshops und Kulturaustauschprojekte im In- und Ausland. Zahlreiche Veröffentlichungen.

Toman, Marek
Marek Toman: Geboren 1967, ist Dichter, Prosaautor und Publizist. Er studierte an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität, arbeitete 1992–1997 beim Tschechischen Rundfunk und seit 1997 ist er Angestellter des Außenministeriums der Tschechischen Republik. Nach mehreren Gedichtbänden erschienen eine Vielzahl zum Teil preisgekrönter Kinderbücher und mehrere Romane für Erwachsene mit unterschiedlichster historischer Thematik, die aber immer in die Gegenwart hinüberreicht. Seine Geschichten sind häufig aus ungewöhnlichen Perspektiven erzählt, Perspektiven, die einen anderen Blick auf überkommene Vorstellungen zu Geschichte und Gegenwart erlauben. Tomans Bücher wurden in mehrere europäische Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen 2019 “Die große Neuigkeit vom schrecklichen Mord an Šimon Abeles” (Veliká novina o hrozném mordu Šimona Abelese) bei Wieser und das Kinderbuch “Der Prager Golem” bei bahoe books (Muj Golem) und 2020 das Kinderbuch “Die Konditorei Zum Schielenden Jim” im Drava Verlag (Cukrárna u Šilhavého Jima).



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