Buch, Deutsch, 544 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 216 mm, Gewicht: 748 g
Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit
Buch, Deutsch, 544 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 216 mm, Gewicht: 748 g
ISBN: 978-3-593-39051-2
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religion & Wissenschaft
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Wissenschafts- und Universitätsgeschichte
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Religion & Wissenschaft
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Inhalt
I. Einleitung 7
II. ›Natur und Religion‹ im Zeitalter der Krisen und (inner-)konfessioneller Spannungen 26
1. Die Differenzierung der Religiositätsformen im Luthertum des 17. Jahrhunderts und ihre Bedeutung
für die Deutungen von ›Natur‹: das Beispiel Johann Arndt 33
2. Die Dechiffrierung der Natur im Horizont eschatologischer Vorstellungen 60
III. ›Natur‹ als Heilserfahrung und Heilssicherung: Johann Rist 78
1. 'Es bleibet […] ewig wahr / das keine groessere irdische Gluekseligkeit sei unter der Sonnen /
als Alles wissen.' 120
1.1. Das ›Perpetuum mobile‹ oder von der Machbarkeit des Fliegens 121
1.2. 'Ein Prediger: Poët: ein Arzt: ein guter Christ:' Medizin und Alchemie als Mittel der
Verifizierung eines christlichen Lebens 140
2. Die ›Höhe der Zeit‹ als Forschungsstimulans – zwischen Endzeiterwartung und Gottes beständiger Zuwendung 172
IV. Die Insekten-Metamorphose als Passion oder Maria Sibylla Merians langer Weg zur Wiedergeburt 210
1. Gottes 'wunderbare Auffsicht' in der Verwandlung der Raupen 224
2. Zur Bedeutung des Nürnberger Blumenordens und der religiösen Erneuerungsbewegungen 241
3. Gottes Nähe 'schmecken und fühlen': Gottes Nähe – Gottes Ferne 277
V. ›Natur‹ als Mittel gesteigerter Gotteserkenntnis vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts 306
1. Naturerkundung als ›naturtheologischer mainstream‹: die ›physikotheologische Bewegung‹ 306
2. Die Erforschung der Natur als ›praxis pietatis‹ bei August Hermann Francke und in seinem Umkreis 338
VI. Gottes Existenz in Gottes Güte: Friedrich Christian Lesser 373
1. Vielfalt, Einheit und Ordnung – Sammeln, Sehen, Fühlen und Begreifen: Das Sammelobjekt als Reliquie 399
2. Gott als Künstler oder von den 'unerhörten kleinen Machinen' 426
3. Von der Schönheit der Berge, dem Nutzen der Insekten und der Beständigkeit der Welt 449
VII. Schlussbetrachtung 467
Quellen und Literatur 475
Danksagung 536
Register 538
Seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts ließen sich allgemeine Krisenerscheinungen beobachten, die nicht auf Deutschland beschränkt waren, sondern auch in anderen Teilen Europas signifikant wurden. Die europäische Entwicklung trat seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in eine Phase ökonomischer und demographischer Stagnation sowie gesellschaftlicher und staatlicher Konflikte. Europaweit war die Bevölkerung im 16. Jahrhundert stark angewachsen, zunächst schnell, bis etwa 1620 nur noch langsam. Während des Dreißigjährigen Krieges ging die Bevölkerungszahl in Deutschland dann wiederum drastisch zurück. Auch in anderen europäischen Ländern wurde die Bevölkerung durch eine Folge von Kriegen dezimiert, die erst mit dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Nordischen Krieg endeten. Das lange Bevölkerungswachstum führte im 16. Jahrhundert zu einer steigenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln, die das Preisniveau in die Höhe trieb. In den letzten Jahrzehnten herrschte besonders im Südwesten des Reiches ein Überangebot an Arbeitskräften und die Reallöhne verfielen. Im ausgehenden 16. Jahrhundert spitzte sich die Lage – regional und sozial unterschiedlich – dramatisch zu. Missernten und Teuerungswellen häuften sich, führten zu Hungerkrisen, wie besonders zu Beginn der 1570er Jahre. Unterernährung und schlechte hygienische Verhältnisse machten die Menschen anfällig für Krankheiten und Seuchen, wie die Pest und die Ruhr. Besonders die letzten zwanzig bis dreißig Jahre des 16. Jahrhunderts gelten als Seuchenjahre. Nach einem ersten Pestzug in den sechziger Jahren kam es zwischen 1575 und 1578 zu einem großen Pestausbruch, der sich in seinen Ausläufern bis in das 17. Jahrhundert hinein zog. In den dicht bevölkerten Städten war die Sterblichkeitsrate am größten. Nürnberg, mit 45 000 Einwohnern eine der großen oberdeutschen Städte, verzeichnete zwischen 1561 und 1585 mehr als 20 000 Epidemieopfer.
Zur Verschlechterung der Lebensbedingungen trug seit den 1560er und -70er Jahren eine Klimaveränderung bei, die sogenannte ›Kleine Eiszeit‹. Die Durchschnittstemperaturen sanken, mit der Folge, dass es seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts bis ca. 1630 zu einer Häufung von extrem kalten und langen Wintern und kurzen, kalten Sommern kam. Aus dem ungünstigen Klima resultierte eine ungewöhnlich lang anhaltende Serie von Missernten, was zur Verschlechterung der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln führte und wiederum den erwähnten Kreislauf von Unterernährung, erhöhter Krankheits- und Seuchenanfälligkeit und steigender Mortalität in Gang setzte. Inwiefern die Klimaverschlechterung außer der vordringlich betroffenen Landwirtschaft andere politische, ökonomische, soziale und auch kulturelle Konsequenzen nach sich zog, lässt sich bislang nicht feststellen. Zwischen der ›Kleinen Eiszeit‹ und bestimmten Krisenphänomenen lässt sich nicht ohne weiteres ein ursächlicher Zusammenhang herstellen, zumal regional und jahreszeitlich genau differenziert werden muss. Dennoch ist zum mindesten davon auszugehen, dass die extremen Wetterlagen vorhandene Probleme und Krisenerscheinungen nochmals verstärkten. Das galt außer für die teilweise Nahrungsmittelknappheit besonders für die Erneuerung der Eschatologie (siehe Kap. II. 1) und die Hexenverfolgungen. Auch wenn eine ganze Reihe von Faktoren zur geradezu epidemischen Ausbreitung der Hexenprozesse im Alten Reich und in Teilen Europas führten und nicht nach monokausalen Erklärungsmustern gesucht werden sollte, ist ein Zusammenhang zwischen den Verfolgungen und der Klimaverschlechterung mehr als wahrscheinlich. So weisen Regionalstudien nach, dass sich die Anklagen wegen Schadenzaubers genau in den Jahren häuften, in denen es Missernten gab, oder unmittelbar danach. Vor allem aber ist zu berücksichtigen, dass die Anfangsphase der Hexenverfolgungen im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts und ihr erster Höhepunkt um 1600 mit dem Beginn der ›Kleinen Eiszeit‹ zusammenfielen. Die Serie von schlechtem Wetter, von schlechten Ernten und Missernten, die gedrängte Erfahrung von Hunger, Seuchen und Tod gab dem Glauben an vom Teufel abhängige und Schaden stiftende Hexen besondere Evidenz.