Buch, Deutsch, 552 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 692 g
Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1907-2007
Buch, Deutsch, 552 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 692 g
ISBN: 978-3-593-38330-9
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Inhalt
Grußwort 9
Michael Glos
Grußwort 11
Sigmar Wittig
Einleitung: Perspektiven der Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland im langen 20. Jahrhundert 13
Helmuth Trischler/Kai-Uwe Schrogl
Einblicke und Durchblicke aus historischer Perspektive
Ballonfahrer und Meteorologen: Die Frühgeschichte der Luftfahrtforschung 31
Sabine Höhler
Aerodynamik und Hydrodynamik: Die Prandtl-Schule 1904-1933 51
Michael Eckert
Zwischen Herd und Himmel, zwischen Kochbuch und Flugbuch: Frauen in der deutschen Luftfahrt 70
Evelyn Zegenhagen
"Airmindedness" - der Luftfahrtkult der Deutschen zwischen der Weimarer Republik und dem Dritten Reich 88
Peter Fritzsche
Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus 104
Helmut Maier
Raumfahrteuphorie und Raketentechnik 1925-1945 123
Thomas H. Lange
Die Luftfahrtmedizin von der Weimarer Republik bis zur frühen Bundesrepublik 138
Alexander Neumann
Staatsnähe und Unsicherheit: Die deutsche Luftfahrtindustrie 156
Lutz Budraß
Das Raketen- und Luftfahrtwissen deutscher Wissenschaftler im Dienst der alliierten Sieger 177
Burghard Ciesla
Auf der Suche nach institutioneller Stabilität: Luft- und Raumfahrtforschung in der Bundesrepublik Deutschland 195
Helmuth Trischler
Luftfahrt und Weltbild: Zur Raumrevolution in Kunst und Kultur der Moderne 211
Christoph Asendorf
Technikvisionen und Alltagskultur: Populäre Bilder in Luft- und Raumfahrt 233
Anja Casser
Durchblicke und Ausblicke aus gegenwartsbezogener Perspektive
Luft- und Raumfahrtforschung - angekommen in der Mitte der Gesellschaft: Innovationen und Ambivalenzen 253
Armin Grunwald
Zwischen Konzentration und Europäisierung: Die Luft- und Raumfahrtindustrie in der Bundesrepublik 275
Hans-Joachim Gante
Luftfahrtforschung in der Bundesrepublik 295
Ernst H. Hirschel
Raumfahrtforschung in der Bundesrepublik 320
Niklas Reinke
Luft- und Weltraumrecht in Deutschland 352
Marietta Benkö
Nationale Luftfahrtpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 371
Jürgen Bandel
Deutsche Luftfahrtforschung in europäischer Perspektive 387
Adriaan de Graaff
Die Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten (DARA) GmbH,
1989-1997 - Weltraummanagement als Chance und Problem 405
Jan-Baldem Mennicken
Deutsche Raumfahrtforschung in europäischer Perspektive 427
Karl-Egon Reuter
Deutschlands Raumfahrtforschung in transatlantischer Perspektive 442
John M. Logsdon
Weltraumforschung in der DDR 460
Achim Zickler
Rationale Technikfolgenbeurteilung bemannter Raumfahrt: Die deutsche Diskussion 479
Carl Friedrich Gethmann/Stephan Lingner
Anhang
Chronologie 491
Bibliographie 497
Abkürzungen 527
Bildnachweise 533
Autorinnen und Autoren 536
Personenregister 546
Leseprobe
Unmittelbar im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg publizierte der prominente amerikanische Soziologe William F. Ogburn eine umfassende Studie über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Luftfahrt (Ogburn 1946). Ogburn hatte bereits in den zwanziger Jahren seine heute als klassisch geltende Theorie der kulturellen Phasenverschiebung ("cultural lag") zwischen einer technischen Innovation und der Anpassung der Gesellschaft an die neue Technologie aufgestellt. Als Leiter des von Präsident Herbert Hoover in den frühen dreißiger Jahren eingerichteten Research Committee on Social Trends hatte er sich dann als einer der Pioniere der Technikfolgenabschätzung profiliert. Im September 1945, wenige Monate nach dem Ende des Krieges in Europa, schloss er seine Forschungsarbeiten ab und publizierte seine Zukunftsszenarien zur Luftfahrt auf mehr als 750 Seiten. Allein ein Wirkungsfeld blieb außerhalb seiner Betrachtung: die Auswirkungen der Luftfahrt auf künftige Kriege. Hier war der Eindruck eines rapiden, ja revolutionären technischen Wandels vor dem Hintergrund der Erfahrungen des europäischen und pazifischen Krieges so überwältigend und der Grad der Geheimhaltung so groß, dass Ogburn keine Zukunftsprognosen anzustellen wagte.
Die von Ogburn untersuchten zwei Dutzend Wirkungsfelder reichten von der Bevölkerungsentwicklung, Familie, Gesundheit und Religion über Erziehung und Kriminalität bis hin zu Marketing, Börsenentwicklung und internationale Beziehungen. Nie zuvor und nie wieder seither ist ein ähnlich umfassend angelegter Versuch unternommen worden, das wissenschaftlich-technische System der Luftfahrt in seinen Wechselwirkungen mit der Gesellschaft differenziert zu erfassen und auf dieser Basis Prognosen für die kommenden Jahrzehnte abzuleiten.
Abgesehen von einigen Abschätzungen, die sich aus heutiger Sicht als zu optimistisch erwiesen haben, lagen Ogburn und sein Team mit ihren Szenarien zu den großen Wachstums- und Veränderungspotentialen der Luftfahrt bemerkenswert häufig richtig. Auch der Bedarf an Wissen darüber, wie die Luftfahrt sich weiterentwickeln würde, war nie so groß wie nach dem Ende des Krieges. Die aufgeblähten Produktionskapazitäten mussten im Übergang zur Friedenswirtschaft drastisch reduziert werden, und es war unklar, wie sich der Bedarf an zivilen Transportkapazitäten im Personen- und Güterbereich entwickeln würde. Nicht von ungefähr war Ogburns Studie von United Air Lines angeregt und finanziell unterstützt worden.
Hätte Ogburn seine Studie nicht vornehmlich auf die USA, sondern auf Deutschland bezogen, so wäre seine bemerkenswert hohe prognostische Trefferquote wohl niedriger ausgefallen. Denn in Deutschland wirkte die Zäsur des Jahres 1945 noch weitaus drastischer auf die Luftfahrt ein als in den USA, wo der Zweite Weltkrieg fast nahtlos in den Kalten Krieg überging. Die deutsche Luftfahrtindustrie, die in den letzten Kriegsjahren zum industriellen Leitsektor schlechthin geworden war und rund zwei Millionen Arbeitskräfte direkt beschäftigt hatte (Budraß 1998, 832, sowie Budraß in diesem Band), wurde mit Kriegsende auf einen Schlag restlos demobilisiert. Der Bau von Flugzeugen blieb bis zur Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität 1955 verboten - mit Ausnahme des Segelflugbaus, der bereits 1951 wieder zugelassen wurde. Die alliierten Restriktionen betrafen auch die Luftfahrtforschung, die in ihren potentiell militärisch relevanten Bereichen verboten und im Übrigen unter alliierte Kontrolle gestellt wurde.
Hier spiegeln die Luftfahrt im Allgemeinen und die Luftfahrtforschung im Speziellen die Geschichte Deutschlands im "langen" 20. Jahrhundert wider. Vom späten 19. Jahrhundert, als sich die Luftfahrtforschung ausgehend von der Höhen- und meteorologischen Forschung mit Hilfe von Ballonen herauszubilden begann, bis in unsere unmittelbare Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts hinein wirkten die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Zäsuren auf Luftfahrt und Luftfahrtforschung zurück. In diesen langen hundert Jahren, die den Betrachtungszeitraum dieses Buches umfassen, erlebte Deutschland nicht weniger als ein halbes Dutzend unterschiedlicher politisch-gesellschaftlicher Systeme: die parlamentarische Monarchie des Kaiserreichs bis 1918, den demokratischen Verfassungsstaat der Weimarer Republik bis 1933, das faschistische Regime des Nationalsozialismus bis 1945, nach dem Intermezzo der Besatzungszeit die demokratische Bundesrepublik im Westen und die staatssozialistische DDR im Osten Deutschlands bis 1990, seither die wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland. Dieser im internationalen Vergleich einzigartig dramatische Wandel des politisch-gesellschaftlichen Ordnungssystems schlug naturgemäß in erheblichem Maße auch auf das Produktionsregime und das Innovationssystem Deutschlands durch (Abelshauser 2001, Keck 1993). In der Luftfahrt, die von Anbeginn durch ihre Orientierung an staatlichen Instanzen als Förderer und Nachfrager ihrer Innovationen und Produkte eine staatsnahe Technologie war, hinterließ dieser ebenso dynamische wie markante soziopolitische Wandel besonders tiefe Spuren. Hinzu traten die beiden Weltkriege, die mit jeweils abrupten Übergängen von einer explosionsartigen Aufrüstung zu einer völligen Demobilisierung die Dramatik des Wandels verschärften.