E-Book, Deutsch, Band 102023, 154 Seiten
Tschechow / Sommermeyer / Syrg Anton Tschechows Ausgewählte Prosa III
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-7844-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Späte Schauspiele: Drei Schwestern, Der Kirschgarten
E-Book, Deutsch, Band 102023, 154 Seiten
Reihe: Orlando Syrg Taschenbuch: ORSYTA
ISBN: 978-3-7583-7844-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Einsamkeit, Bitternis, Verlassenheit, Leid, Indolenz des Milieus, kaputte Beziehungen, Pseudoidealismus, elende Liebe, Lebensangst, existenzielle Langeweile, banale Konversation innerhalb öder Konventionen, Erschöpfung, aussichtslose Fluchten; sinnfremd, sinnlos, ausweglos, fruchtlos! Nach den Meistererzählungen (Orlando Syrg Taschenbuch, OrSyTa 12021) sowie zwei seiner berühmten Meisterdramen: Die Möwe und Onkel Wanja (Orlando Syrg Taschenbuch, OrSyTa 92023) beschließen diese Auswahledition der Werke Anton Tschechows seine späten Schauspiele: Drei Schwestern und Der Kirschgarten; Spitzenwerke der Weltliteratur, nach wie vor mitreißend und uneingeschränkt aktuell.
Anton Pawlowitsch Tschechow, geb. am 29. Januar 1860 in Taganrog (Russland). Novellist und Dramatiker. Vater Kaufmann. Gymnasium Taganrog, 1879-1884 Studium der Medizin in Moskau. 1884 Ausbruch einer Lungenkrankheit. Kurzzeitige Ausübung des Arztberufs, danach vorwiegend literarische Tätigkeit. Zunächst Humoresken und Anekdoten für Zeitungen und Zeitschriften, später viele ernste und tragische Erzählungen sowie Kurzgeschichten. 1890 Reise zur Strafkolonie auf der Insel Sachalin. 1892-1897 auf seinem Landgut Melichovo bei Moskau, seit 1898 vorwiegend in Jalta auf der Krim. Reisen nach Westeuropa. Die Möwe, 1895. Onkel Wanja, 1896. Drei Schwestern, 1901. Heirat mit der Schauspielerin Olga Knipper. Der Kirschgarten, 1903. Tschechow stirbt am 15. Juli 1904 im Kurort Badenweiler (Markgräflerland; 30 km südlich von Freiburg).
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Erster Akt
Im Hause der Prosorows. Wohnzimmer, das durch Säulen vom Saal geschieden ist; draußen ist es heiter, sonnig. Man sieht, wie im Saal der Frühstückstisch gedeckt wird. Olga im blauen Uniformkleid einer Lehrerin am Mädchengymnasium; Mascha im schwarzen Kleid, den Hut auf den Knien, sitzt und liest in einem Buch; Irina im weißen Kleid, steht sinnend da. OLGA: Heut vor einem Jahre ist der Vater gestorben – gerade an deinem Namenstag, Irina, am fünften Mai. Es war sehr kalt an dem Tag – es schneite sogar. Ich glaubte nicht, dass ich's überleben würde – du lagst ohnmächtig da, wie tot. Und nun ist kaum ein Jahr vergangen – und wir reden davon so gleichgültig, du hast schon dein weißes Kleid an, und dein Gesicht strahlt. Die Uhr schlägt zwölf. Auch damals schlug gerade die Uhr. – Pause. – Ich erinnere mich noch: als sie den Vater hinaustrugen, spielte die Militärkapelle, und auf dem Friedhof wurde geschossen. Merkwürdig übrigens – er war doch General und Brigadekommandeur, und doch waren nur wenig Leute am Grab. Allerdings fiel an dem Tag ein starker Regen – Regen und Schnee ... IRINA: Wozu die Erinnerung auffrischen! An der Tafel im Saal erscheinen Baron Tusenbach, Tschebutykin und Ssoljony. OLGA: Heut ist's warm, man kann die Fenster weit aufmachen – aber die Birken haben noch nicht ausgeschlagen. Genau elf Jahre ist's her, dass der Vater die Brigade bekam und wir von Moskau abreisten. Ich habe es noch ganz frisch im Gedächtnis: es war Anfang Mai, in Moskau prangte schon alles in schönster Blüte. So warm war es, alles von Sonnenschein übergossen. Du mein Gott! Wie ich heute Morgen erwachte und die hereinflutende Lichtmasse und den Frühling draußen sah - da wurde mir so wohl, ach, und so sehnsüchtig weh ums Herz. TSCHEBUTYKIN im Saal. Nein, so'n Teufelskerl! TUSENBACH: Ist natürlich alles Unsinn! Mascha, nachdenklich über das Buch gebeugt, pfeift leise eine Melodie. OLGA: Pfeif nicht, Mascha. Wie kann man nur. – Pause. – Dieser Dienst im Gymnasium, dieses Stundengeben bis zum späten Abend verursacht mir immer Kopfschmerzen. Ich glaube wirklich, ich werde schon alt. Während der vier Jahre, seit ich angestellt bin, ist es mir immer, als ob meine Kraft Tag für Tag tropfenweise hinschwände. Und nur ein Gedanke wächst und erstarkt in mir beständig ... IRINA: Nach Moskau zurückkehren. Das Haus verkaufen, alles hier aufgeben – und dann nach Moskau ... OLGA: Ja – so bald wie möglich! Nach Moskau! Tschebutykin und Tusenbach lachen. IRINA: Unser Bruder Andrej wird wahrscheinlich bald Professor werden – denn der darf doch auf keinen Fall hier versauern! Bleibt nur die arme Mascha übrig. OLGA: Mascha kommt jedes Jahr zu uns nach Moskau, für den ganzen Sommer. Mascha pfeift leise eine Melodie. IRINA: Mit Gottes Hilfe wird sich schon alles ordnen lassen. – Schaut zum Fenster hinaus. – Ein Prachtwetter ist das heute. Ich weiß nicht, warum ich so froh gestimmt bin! Heute Morgen fiel mir ein, dass mein Namenstag ist, und mit einem Mal empfand ich eine solche Freude. Ich gedachte meiner Kinderjahre, da Mama noch lebte. Was für wunderbare Gedanken gingen mir durch den Kopf – ach, was für Gedanken! OLGA: Du strahlst heut übers ganze Gesicht, ausnahmsweise hübsch bist du. Auch Mascha ist hübsch, und Andrej wäre ein schöner Mann, wenn er nicht so stark geworden wäre. Das steht ihm gar nicht zu Gesicht. Und ich – ich bin alt geworden, und so abgemagert bin ich, jedenfalls vom Ärger mit den Mädchen im Gymnasium. Heute bin ich mal frei und kann zu Hause bleiben – da hab' ich auch gleich keine Kopfschmerzen und fühle mich jünger als gestern. Achtundzwanzig Jahre bin ich nun alt ... Alles ist schließlich gut, alles kommt von Gott, ich glaube aber, wenn ich verheiratet wäre und den ganzen Tag in meinem Heim zubringen könnte – ich würde mich wohler fühlen. – Pause. – Ich würde meinen Mann lieben. TUSENBACH zu Ssoljony: Sie reden einen Unsinn zusammen – 's wird einem über, Ihnen zuzuhören. – Tritt in das Wohnzimmer ein. – Ich habe ja ganz vergessen, unser Batteriechef Werschinin wird Ihnen heute seine Visite machen. Setzt sich ans Klavier. OLGA: Ah – sehr angenehm! IRINA: Ist er alt? TUSENBACH: Nein, in den besten Jahren. Höchstens vierzig, fünfundvierzig Jahre. – Klimpert leise. – Scheint ein famoser Kerl. Nicht dumm – das ist sicher. Nur spricht er etwas viel. IRINA: Ist er interessant? TUSENBACH: Es macht sich. Etwas stark verheiratet ist er: Frau, Schwiegermutter und zwei Töchter. Übrigens ist es schon seine zweite Frau. Überall, wo er Besuch macht, erzählt er, dass er eine Frau und zwei Töchter hat. Auch hier wird er's erzählen. Die Frau ist halb verrückt, trägt einen langen Zopf wie ein Mädchen, spricht lauter hochtrabendes Zeug, philosophiert und macht jeden Augenblick einen Selbstmordversuch, jedenfalls, um ihren Mann zu ärgern. Ich wäre längst fortgelaufen von einer solchen Frau Gemahlin, er aber trägt es und beklagt sich nur darüber. SSOLJONY tritt mit Tschebutykin aus dem Saal ins Wohnzimmer: Mit einer Hand heb' ich nur anderthalb Pud, mit zweien dagegen fünf, ja sogar sechs Pud. Daraus schließe ich, dass zwei Menschen nicht nur doppelt, sondern dreimal so stark sind als einer oder vielleicht noch stärker ... TSCHEBUTYKIN liest im Gehen die Zeitung »Swjet«: Gegen Ausfallen der Haare ... zwei Drittel Lot Naphthalin auf ein halbes Quart Spiritus ... aufzulösen und täglich zu gebrauchen ... – Macht sich Notizen in ein Taschenbuch; zu Ssoljony. – Ich sag' Ihnen also, das Fläschchen wird gut zugekorkt, und durch den Korken wird ein Glasröhrchen gesteckt ... und dann nehmen Sie ein kleines Quantum ganz gewöhnlichen Alaun ... IRINA: Iwan Romanytsch! Lieber Iwan Romanytsch! TSCHEBUTYKIN: Was denn, mein liebes, gutes Herzchen? IRINA: Sagen Sie mal – warum bin ich heute so glücklich? Als wenn ich auf dem Meer dahinsegelte: über mir dehnt sich der weite blaue Himmel, und große weiße Vögel schweben durch die Lüfte. Warum ist das nur so? Warum? TSCHEBUTYKIN küsst ihr zärtlich beide Hände: Mein weißer Vogel! IRINA: Wie ich heute früh aufstand und mich wusch, da war es mir mit einem Mal, als wäre mir alles auf dieser Welt hier klar, als wüsste ich, wie man leben soll. Ich weiß jetzt alles, lieber Iwan Romanytsch. Der Mensch soll sich beschäftigen, soll arbeiten im Schweiße seines Angesichts, wer er auch sei, darin allein liegt der Sinn und das Ziel seines Lebens, sein Glück, sein Triumph. Wie schön ist es doch, ein Arbeiter zu sein, der mit Tagesanbruch aufsteht und auf der Straße Steine klopft, oder ein Hirt, oder ein Lehrer, der Kinder unterrichtet, oder ein Lokomotivführer. Ja, es ist, bei Gott, besser, ein ganz gewöhnliches Lastpferd zu sein, das doch seine Arbeit tut, als eine junge Dame, die mittags um 12 Uhr aufsteht, im Bett ihren Kaffee trinkt, dann sich zwei Stunden lang anzieht ... o, wie schrecklich ist das! Ich dürste förmlich nach Arbeit – wie man bei großer Hitze nach einem Schluck Wasser dürstet. Wenn ich von jetzt ab nicht täglich ganz früh aufstehe und arbeite, dürfen Sie mir Ihre Freundschaft kündigen, Iwan Romanytsch! TSCHEBUTYKIN zärtlich: Gewiss, gewiss werde ich sie Ihnen kündigen ... OLGA: Der Vater hat uns daran gewöhnt, um sieben Uhr aufzustehen. Jetzt erwacht Irina wohl um sieben Uhr, liegt aber wenigstens bis neun im Bett und simuliert. Und so ein ernstes Gesicht macht sie dabei! IRINA: Du hast dich eben daran gewöhnt, mich als kleines Mädchen zu betrachten, und wunderst dich, wenn ich ein ernstes Gesicht mache. Ich bin doch zwanzig Jahre alt! TUSENBACH: Sehnsucht nach Arbeit! O Gott, wie kann ich dieses Gefühl begreifen! Ich habe nie im Leben gearbeitet. Ich bin in dem kalten, trägen Petersburg geboren, in einer Familie, die niemals die Arbeit oder irgendwelche Sorgen gekannt hat. Ich erinnere mich noch, wie ich aus dem Kadettenkorps nach Hause kam. Der Diener zog mir die Stiefel aus, ich quälte alle Welt mit meinen Launen, und meine Mutter sah mit förmlicher Ehrfurcht zu mir auf und war höchst erstaunt, wenn andere nicht dasselbe taten. Man suchte mich auf jede Weise vor Arbeit zu bewahren, aber auf die Dauer ist's doch nicht gelungen. – Diese Zeiten sind vorüber, und ein reinigender Sturm bereitet sich vor, der von unserer Gesellschaft die Trägheit, die Gleichgültigkeit, das Vorurteil gegen die Arbeit und die faule Langeweile hinwegblasen wird. Ich werde jedenfalls arbeiten, und in dreißig Jahren wird jeder Mensch es tun. Jeder! TSCHEBUTYKIN: Ich werde nicht arbeiten. TUSENBACH: Sie kommen nicht in Betracht. SSOLJONY: In dreißig Jahren werden Sie, Gott sei Dank, nicht mehr auf der Welt sein. Sie gehen entweder in...