Tumler | Der Schritt hinüber | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Tumler Der Schritt hinüber

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7099-7611-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7611-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nachkriegszeit in Österreich: Susanna Jorhans Leben ist aus der Bahn geraten. Ihr Ehemann ist noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, sie - schwanger von einem anderen Mann - lebt mit ihrem kleinen Kind auf einem entlegenen Hof. Von den russischen Besatzungssoldaten zugleich bedroht und beschützt, bestreitet sie ein Leben voll Ungewissheit. Meisterhaft lässt Franz Tumler die Figuren in den Wäldern nördlich der Donau und zugleich in ihren Seelenwäldern umherirren. Hilft in dieser Situation ein Schritt über den Strom, ein Schritt hinüber? Hin- und hergerissen im Strudel der Zeit suchen Tumlers Figuren nach einem harmonischen, einem wahrhaftigen Leben.

Der 1956 mit dem Schweizer Charles-Veillon-Preis ausgezeichnete Roman wurde nicht nur von Gottfried Benn und Peter Suhrkamp für gut befunden, er bedeutete für Tumler auch einen Aufbruch zu neuen Erzählformen.

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Zweites Kapitel?
Mehr als wir erfuhren
Es war schönes Wetter, und man konnte im Wirtsgarten sitzen, als ob es das alte Leben wieder wäre. Die Bauern saßen um den großen grünen Tisch und redeten. Es war kein gewöhnliches Reden, sondern Spott und Gelächter wie eine Zeremonie. Alle kannten dieses Spiel: da brachte einer etwas vor über einen anderen, und die Runde quittierte den Spott mit lautem Hoho, und dann warteten alle gespannt, was der Angegriffene antworten würde, und wenn die Antwort gut war, lachten sie wieder und riefen durcheinander. Es war ein unbarmherziger Spaß, traf es einen schwerzüngigen Mann, der nicht mitkonnte, glitzernde Augen, Wortpfeile, und immer wieder unterbrach das Gewieher die Reden. In Abständen erscholl es unter den Kastanienbäumen. Bemelman hörte es ein wenig beklommen. Aber das Verlangen, mitzuhalten, trieb ihn zu den anderen. Er setzte sich an den Tisch, und nicht lange, ging es auch schon über ihn her. Ho, der Bemelman! Und wird immer jünger! Das kommt von der jungen Gesellschaft! Ja, wenn man auch noch eine Junge im Haus hat! Bemelman ärgerte sich. Ich hab sie schon nicht mehr, heut früh ist sie mir durch! Gelächter. Sie hatten ihn so weit. Einer sagte: Sie ist ihm durch, er sagt wirklich, sie ist ihm durch! Fleißig, Bemelman, fleißig! Bemelman war nicht der geschickteste Redner, das wußten alle, und daß er sich jedesmal so rasch hineinspielen ließ in Zorn und Hilflosigkeit, war ihr eigentliches Vergnügen. Aber diesmal kam noch etwas anderes heraus dabei, und das ging auf Kosten der Frau Jorhan. Was redest du, fragten ihn die Leute am Tisch, doch er redete weiter, und da rutschten ihm nun wirklich die merkwürdigsten Geschichten heraus über die junge Frau. Darum hatte ihn niemand gefragt, es hatte eigentlich überhaupt niemand etwas gefragt, das über Witz und Anzüglichkeit hinausging. Ein ungeschickter Mensch war dieser Bemelman, voller Gedanken über die Sorgen der anderen, und ratlos wie ein Kind. Um sie loszuwerden, sich mitzuteilen, erzählte er seine Neuigkeiten, redete von zwei Flüchtlingen, verschwieg nicht, daß sie bei ihm gewohnt und gearbeitet hatten, weil eben Frau Jorhan ihn gebeten habe, sie aufzunehmen, leider, denn wie sich nun gezeigt habe, zu ihrem Schaden, wie überhaupt all ihr Gutsein immer wieder zu ihrem Schaden geführt habe. Erst neulich sei ein ganzer Trupp Soldaten bei ihm erschienen, eine betrunkene Rotte zu Pferd, und die Jorhan habe es ihnen auch recht machen wollen, habe ihn um Essen gebeten für diese Gesellschaft, aber was habe sie nun davon gehabt, die Leute seien zwar abgezogen, aber ihr Anführer Kolja, der sei nun alle Tage zu ihr gekommen, ganz ungeniert am hellen Tag, und habe sie belästigt, und zuletzt gestern, spät nachts, und da habe er sie gezwungen, zu ihm hinauszugehen, und vielleicht habe er das auch schon früher getan. Niemand konnte später sagen, ob Bemelman in seiner Hilflosigkeit dies alles auch wirklich so der Reihe nach im Wirtshaus erzählt, oder ob sich das einzelne aus seinen Andeutungen von selber in seinen Zuhörern so weitergebildet hatte zu dieser Geschichte, die am gleichen Abend noch Herr von Wilnow erfuhr, und zwar von dem Müller, bei dem er jetzt wohnte. Der Müller hatte auch im Wirtshaus gesessen und dann war er heimgegangen, ein wenig betrunken, den langen Weg an dem kleinen Haus der Fini vorbei und über die steilen Wiesen zum Bach hinunter und dann immer den Bach entlang bis zum Wehr und am Wehr über die Brücke. Dort hatte er, nachdenklich und schwindlig vom Trinken, in das braunblasige Wasser geschaut und überlegt, was wohl Herr von Wilnow zu dieser Sache sagen würde, oder ob man sie ihm am besten gar nicht erzählte, – eine höchst unwahrscheinliche Geschichte! Aber vielleicht konnte man das dem Herrn gleich, ehe er jemand anderen traf, sagen, das ist wieder einmal Übertreibung und Mißverständnis, man soll es nicht für möglich halten, was die Leute zusammenreden. Das Wasser rauschte braunblasig unter der Brücke weg und stürzte silberig über das Wehr, der Müller verspürte Durst, er hatte noch Most zuhause, da wollte er sich einen Krug voll aus dem Keller holen und ihn austrinken mit dem Herrn. Er ging weiter den Waldsteig und den langen Weg, und es dämmerte schon, als er an dem Knick der Schlucht wieder ans Ufer kam und von fernher, hinter den grünen Sonnen der Misteln, den weißen Schornstein über seiner Mühle erblickte. Dort saß Axel von Wilnow seit dem Nachmittag auf der Bank vor dem Haus. Ihm zu Füßen lag an einer langen dünnen Kette seine Vorstehhündin Hexe. Sie blickte zu ihrem Herrn auf, und manchmal ruckte sie mit dem Kopf, dann sirrte leise die Kette. Axel achtete nicht auf sie. Er war an dem Ort, von dem er zu Susanna gesagt hatte, daß er dort vor sich hinbrüte. Sein Gesicht mit stoppeligen Wangen und kurzem dichten Haar hob sich kaum ab von den wie Gefieder graugesprenkelten Feldsteinen der Mauer. Nur seine Augen glänzten lebendig und weit offen hervor, als wäre er auf einem Anstand. Aber das war Gewohnheit. Ein Mann, der einmal Jäger gewesen ist, sieht so vor sich hin, aufmerksam, still. Da war der Mühlkanal, in dem das Wasser glatt vorbeischoß, das Stück Krautgarten, an dessen Zaun die Sonnenblumen nickten, dahinter war das tiefer ausgehöhlte, rauschende Bachbett, und jenseits stieg aus Granitblöcken das Wald­ufer auf als dunkle Wand und griff mit ein paar zerzausten Fichtenwipfeln hoch in den Himmel. Der Westwind hatte sie gebogen, und daran konnte man ablesen, wo Westen war. Axel wunderte sich schon seit Tagen, wie die Landschaft, in der er daheim gewesen war, sich so hatte verwandeln können. Er kannte sie noch immer, aber allmählich schien es ihm, als befinde er sich trotz allem Bekannten an einem Postkarten-Ort und könne sich nicht mehr orientieren. Diesen Vergleich hatte er für sich schon ein paarmal gemacht, darin war jene sonderbare Erfahrung, von der er auch zu Susanna gesprochen hatte. Beziehungslosigkeit, so daß er sich vorkam fast wie ein Geist. Was für Erfahrungen, so redete er in der Stille zu sich selbst, einem Menschen, der sich versteckt hält, zeigen sich die Dinge anders als einem, der frei ist. Sie zeigen nicht mehr ihr altes Gesicht, sie erinnern nur noch an das, was sie waren. Sogar die Mühle hier: sie hat mir ja einmal gehört, sie hat mir nie viel eingebracht, darum hatte ich sie auch verpachtet und bin nur manchmal heruntergekommen zur Rast nach einem Pirschgang. Aber das hat alles zusammen­gehört: der Pirschgang, die Rast, ein Gespräch mit dem Müller. Und auch die Hexe war dabei. Ich bin zuhause gewesen in diesem Zusammenhang. Jetzt gehört nichts mehr zusammen. Wo bin ich jetzt noch zuhause? Axel, wie er da an der Mauer saß, Bart, Stein und Gefieder, und nur die Augen hell, sah gar nicht auf den Mühlkanal und den Bach und das Fichtenufer, er blickte auf die Vorstellung dessen, was mit ihm geschah. Er saß da wie ein Mensch, der sich auch an das, was vor ihm gegenwärtig ist, nur noch erinnert. Er hörte nach Jägergewohnheit von drüben die Wildtauben und das Schrecken der Rehe, aber er hob wie die Hexe kaum den Kopf; er lag wie sie an einer Kette: das vergangene Leben und die plötzlich sprachlos gewordene Welt. Aber etwas machte ihm doch die Augen noch wacker, so daß die Kette nicht ganz am Boden schleifte, es riß ihn hoch! Er brütete nicht mehr; er dachte an Susanna. Aber, ach Gott, auch mit ihr war es nicht einfach. Axel von Wilnow war vierzig Jahre alt, er hatte in früheren Jahren einige Abenteuer hinter sich gebracht, auf Reisen etwa, ohne Namen; und er war auf Brautschau gewesen, bei Nachbarn oder entfernten Cousinen; diese beiden Möglichkeiten waren immer getrennt geblieben bei ihm: die eine romantisch, – die andere eindeutig nüchtern, und auf eine angemessene Lebensführung ausgerichtet. Lebensführung hieß: Besitz, Familie, Kinder – Zukunft, damit alles weiterginge. Aber dann, und hier! Früher habe ich überhaupt nicht gewußt, was das ist. Man wird ein anderer Mensch, – die Welt bekommt Farbe, Bewegung, – innerlich sieht man das, man macht sich Bilder; und die Zeit, – früher habe ich kaum gewußt, wie sie vergeht, jetzt zähle ich nach Tagen, „bestimmte Tage“ – ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich eigentlich machen sollte mit all dem, wenn ich Susanna nicht hätte. Aber: hab ich sie denn? Er fühlte in seiner Tasche ihren Brief. Ein Schulkind, von Fini geschickt, hatte ihn gegen Abend gebracht – mit einem Tag Verspätung, gestern früh war er geschrieben worden. Axel fragte sich: was soll das bedeuten, dieser Brief, er enthält doch eigentlich nichts. Gewiß, sie schreibt, ich soll diesmal den „bestimmten Tag“ bei Fini ja nicht versäumen. Aber warum sollte ich das, und warum schreibt sie da eigens? Und hier noch: ich muß dich sprechen! Er war unruhig. Briefe, das hatten sie ausgemacht, sollten nur in den allerdringendsten Fällen geschickt werden. Was war hier dringend? Er starrte auf die graue Fichtenwand und dachte nach. Und dann richtete er sich so plötzlich auf aus seinem Grübeln, daß die Hündin Hexe von den Steinen sprang und sich an ihn schmiegte – vielleicht war es etwas, das ihn und Susanna allein anging? In dieser Verfassung traf der Müller ihn an, ein betrunkener Mann einen aufgeregten Mann, der deshalb auch aufgelegt war, zu trinken. Aber der Müller mußte den Steinkrug noch ein zweites Mal füllen im Keller, ehe er sich getraute, seine Geschichte vorzubringen. Keine Geschichte, sagte er, nur von Frau Jorhan eine Neuigkeit, sie sei vom Bemelman weg heute morgen! Weg, sagte...


Franz Tumler, geboren 1912 in Gries bei Bozen/Südtirol, übersiedelte 1913 mit seiner Mutter nach Linz und lebte ab 1954/55 in Berlin, wo er 1998 starb. Tumler zählt zu den prägenden Gestalten der literarischen Moderne der 1950er und 1960er Jahre. Seine Romane und Erzählungen wurden vielfach ausgezeichnet und gelten bis heute als Marksteine moderner Erzählliteratur, u.a. Der Mantel (1959), Nachprüfung eines Abschieds (1961, Haymon 2012), Volterra. Wie entsteht Prosa (1961, HAYMONtb 2011) und Aufschreibung aus Trient (1965, Haymon 2012).



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