Uebel Last Exit Volksdorf
2. Auflage 2011
ISBN: 978-3-406-61270-1
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 301 Seiten
ISBN: 978-3-406-61270-1
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Eine Autorin, die wunderbar abseitige Ideen hat und sich noch bis in die allerletzte abgeknickte Hirnwindung ihrer Figuren hineinfühlen kann.'
Angela Wittmann, Brigitte
Volksdorf ist ein gutbürgerlicher Stadtteil im Nordosten Hamburgs, idyllisch und grün. In schmucken Einfamilienhäusern leben die Gewinner unserer Gesellschaft und bereiten die Zukunft ihrer Kinder, der nächsten Siegergeneration, liebevoll, homöopathisch, ökologisch und ganzheitlich vor. Aber so ein Viertel kann man auch als 'Spießerfreigelände' sehen, so wie Joshua, jugendlicher Punk und Anarchist. Die alternde Klara Voss hingegen, tapfer gegen ihre Demenz ankämpfend, liebt das dörfliche Ambiente dieses Vororts.
In ihrem vierten Roman zeichnet Tina Uebel das Bild eines scheinbar gediegenen Mikrokosmos und seiner Bewohner, der Fluchtrituale und Schutzmechanismen, die zuschnappen, wenn sich das Leben dort als weitaus unheiler entpuppt, als das Selbstverständnis der Menschen und ihre soziale Großwetterlage vermuten lassen. Aus wechselnden Perspektiven, aus der Sicht von Jugendlichen und ihren Eltern und Großeltern, Lehrern und Schülern, Mächtigen und Ohnmächtigen, setzt sich in diesem spannenden und meisterhaft komponierten Roman Stück für Stück die ebenso berührende wie empörende Geschichte eines Skandals zusammen. Komisch, grotesk, mit Sarkasmus und Mitgefühl und in immer wieder neuen Tonlagen erzählt Tina Uebel von der oft vergeblichen Suche nach dem Glück oder wenigstens einem Ausweg.
Autoren/Hrsg.
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I. Garden of Serenity
Es schnurren die Rolläden wie Katzen, ein behagliches Summen der Elektromotoren; wenn Renate auf den Schalter hinter den Gardinen drückt, schließt das Haus seine Augen. Vorher noch schaltet sie das Licht an, es ist schönes Licht, auf mehrere Quellen im Wohnbereich verteilt, schönes Licht aus schönen Lampen, die Renate gekauft hat, mit Liebe, viel Liebe, mit all der Liebe, die sie hegt für ihr Heim. Voller Liebe ist Renate, und auch sie schließt kurz die Augen, wie ihr Haus, durch ihre Lider dringt roséfarben der gedämpfte Schein des gedämpften Lichtes aus den schönen Lampen. Durch das Haus weben sich die Nocturnes von Chopin. Juliette spielt, oben, in ihrem Musikzimmer. Sie spielt wie ein Engel, denkt Renate. Und lächelt. Die Rolläden fügen sich mit einem dezenten Geräusch in ihre Arretierung. Es passen die Dinge ineinander. Nasrin jauchzt. Sie jauchzt, als Finn rasant um eine Straßenecke biegt, sein Rennrad neigt sich, kurz das Gefühl zu kippen, zu fallen, rücklings auf den Asphalt, sie zappelt ein bißchen mit den Beinen und fängt sich und lehnt sich dann mit Verzögerung nach hinten, gegen Finns Brust, weil, wegen der Balance. Paß doch auf, du Arsch, sagt sie und kann fühlen, wie warm Finn ist, da, wo ihr Rücken seine Brust berührt. Trust me, babe, sagt Finn, sagt er ganz nah an ihrem Ohr, weil sie sich gegen ihn lehnt, der Balance wegen, sie kann seine Worte gleichzeitig hören und spüren. Sie fühlen sich warm an. Er scheint sich gar nicht anstrengen zu müssen, obwohl er schnell fährt und sie vorn auf der Stange sitzt, der Herrenfahrradstange, Nasrin hat sich schon mal gefragt, warum Herrenfahrräder eigentlich eine Stange haben und Frauenfahrräder nicht, weil diese Stange, wenn man mal fällt, da müssen sich Jungs doch unheimlich weh tun können, wenn das Ding denen in die Eier knallt, dann gibt’s doch Rührei. Aber Finn fällt nicht. Finn ist cool. Die Straße ist leer, abends nach sieben sind die immer leer, es sind kleine Straßen, viele, viele kleine Straßen, große Bäume säumen sie, Bäume, die so alt sind wie Nasrin jung. Sie riechen nach Frühling, alles riecht gut, Finn riecht gut, ein bißchen fremd, er riecht nach Junge. Mit ihm fahren ist wie fliegen. Sie fliegen vorbei an den alten Bäumen, durch die Straßen, hinter hohen blühenden Rhododendronhecken stehen große Häuser mit dunklen Fenstern und verschwimmen vor den Augen Nasrins, die auf der Stange von Finns Rennrad dahinfliegt und so jung ist wie die blühenden Kastanien am Straßenrand alt. Sie breitet die Arme aus, und der Fahrtwind rauscht, sie singt ein bißchen, weil, sie hat kurz darüber nachgedacht und dann gedacht, daß es vielleicht cool sei, zu singen, so cool, wie auf Finns Fahrrad zu sitzen, so cool wie Finn. Sie findet, sie hat eine hübsche Stimme, vielleicht findet Finn sie, Nasrin, hübsch, er hat sie hübsch genug gefunden, daß sie jetzt auf seiner Herrenfahrradstange sitzt, sie, und nicht wer anderes, nicht Sophie, nicht Leah, nicht die. Sie. Sie, sie hier, jetzt. Sie möchte etwas singen, was Finn cool findet, aber weil sie nicht genau weiß, was er so hört, singt sie auf Verdacht. Sie singt Come Undone, weil, das Video ist geil. Irgendwie fies. Sexy. Nasrin hört ihre Stimme und mag die. Sie spürt, wie sich die Muskeln in Finns Körper bewegen. Finn hat einen Jungskörper. Nasrin singt. Der Fahrtwind rauscht. Finn ist schnell, sie sind schnell, beide, zusammen. Die Straßen sind dunkel, nur das Laternenlicht erhellt und verdunkelt die Welt wie ein Stroboskop, wie Sonnen von einer Galaxie, durch die sie fliegen, sie beide. Nasrin hat noch nichts gehört über Relativitätstheorie, sie kennt von Einstein nicht mal das Bild, auf dem er die Zunge rausstreckt, dessen Rechte inzwischen Microsoft erworben hat, sie ist zu jung dazu, und in Physik ist sie schlecht. In Gemeinschaftskunde und Deutsch ist sie am besten, in Physik steht sie auf der Kippe. Hätte sie aber davon gehört, davon, daß die Relativitätstheorie besagt, die Zeit laufe langsamer, je schneller sich ein Körper, oder auch zwei, bewege, sie würde, jetzt und hier, dem sicherlich zustimmen. Je schneller sie fährt, mit Finn, durch die Straßen, an denen alte Bäume stehen, um so langsamer vergeht die Zeit, und es ist nicht schade drum, würde Nasrin meinen, denn das hier ist so gut, so gut könnte es immer bleiben. Sie legt den Kopf in den Nacken, an die Schulter von Finn, die sich im gegenläufigen Rhythmus seiner Beinbewegungen vorschiebt und zurück, und sieht in die Sterne, vor denen die Äste der Kastanien in der Bewegung verflimmern. Zwei der Sterne sind Satelliten auf ihrer Umlaufbahn, die Daten, die sie zur Erde senden, sind nur aufgrund der Einstein-Korrektur korrekt, ohne die Einstein-Korrektur lägen die Positionsangaben des eingebauten GPS im Cayenne von Nasrins Vater um lockere siebzig Meter daneben, aber das weiß Nasrin nicht, und ihren Vater, dem sie ihren Vornamen, der mit Iris’ Vorliebe für Exotik einhergehen mag aber mit Nasrins Sinn für Ästhetik kollidert, ebenso verdankt wie ihre Nase, die sie sich wegen Iris’ Veto erst operieren lassen dürfen wird, wenn sie sechzehn ist, hat sie lange nicht gesehen. Sie sieht: Sterne. Und wünscht sich eine Sternschnuppe, um sich etwas zu wünschen, und was sie sich wünschen würde, hätte mit Finn zu tun. Oder mit ihr. Oder damit, daß das nicht aufhört, hier mit Finn durch die Nacht zu fahren, während alles blüht und rauscht, und Finns Arme rechts und links von ihr, um sie herum, die das Fahrrad durch die leeren Straßen lenken, das Fahrrad und sie, schnell und im Stillstand der Zeit, denn die Zeit läuft langsamer, wenn man schnell ist oder glücklich. Die Stellen von Come Undone, deren Text sie nicht weiß, vernuschelt Nasrin, es kommt nicht drauf an. Darauf nicht. Und auch wenn kein Stern schnuppt, so what. Wen sollte das vom Wünschen abhalten. Nasrin nicht, soviel ist mal sicher. Bestätigend nicken die Kastanien mit ihren Zweigen, es ist nicht mal mehr richtig kalt heute nacht. Auf einen Viertelliter Milch oder Sojamilch, Michael Lindner bevorzugt allerdings die echte, kommt ein gestrichener Eßlöffel Eiweißpulver. Das Pulver löst sich in der Milch. Michael Lindner deckt nahezu seinen Tagesbedarf an Proteinen damit. Der Gedanke macht ihm die Bewegung seiner Muskeln bewußt. Das Zusammenspiel von Bi- und Trizeps bewegt das Glas zu seinen Lippen und zurück auf den Küchentresen. Die Tür zum Garten steht offen, kühle Luft, vielstimmiger Chor von Amseln. Morgen, beschließt Michael Lindner, wird er laufen gehen. Morgen beginnt sein Tag erst mit der zweiten Stunde. Heute frühstückt er mit der Familie. Es ist gut und wichtig, miteinander zu frühstücken. Lindner stellt das Glas in die Geschirrspülmaschine. Wasser rauscht im Badezimmer oben, wahrscheinlich Jana, die zur ersten Stunde muß, ebenso wie Lindner selbst, er wäre sie jetzt wecken gegangen, er war drauf und dran, das zu tun, hochzugehen in ihr Zimmer, um sie zu wecken. Damit sie nicht verschläft. Aber nun ist sie wach. Oder es ist Edith, die duscht. Andererseits schläft Edith meist länger. Obgleich es wichtig ist, daß die Familie miteinander frühstückt, nicht notwendigerweise jeden Tag, nicht, wenn die Kinder schon fast erwachsen sind, aber wenigstens ab und zu. Lindner überlegt kurz und denkt, er sollte sicherstellen, daß Jana nicht vielleicht doch verschlafen hat, und geht nach oben. Er klopft flüchtig und öffnet die Badezimmertür. Jana steht vor dem Spiegel und föhnt sich die Haare. Ihr Haar ist nur noch halblang, obwohl Michael Lindner sehr dagegen war, daß sie es abschneidet. Die derzeitige Länge ist ein Kompromiß. Sie trägt ein T-Shirt anstelle eines Nachthemds. Irgendein Slogan steht darauf, der Lindners Wissen nach nichts bedeutet und nur ein Modegag ist. Sie hat schlanke, muskulöse Beine, sie ist gut in Sport, was Lindner freut, naturgemäß. Er bietet ihr öfters an, auch ihr morgens einen Eiweißdrink zu mixen, was sie aber ablehnt. Man kann halt niemanden zu seinem Glück zwingen. Ich mach mir gerade ein Müsli mit Obst, sagt er zu ihr. Willst du auch welches. Klar, okay, sagt sie, ohne ihn dabei anzusehen, sie betrachtet konzentriert ihr Spiegelbild. Der Spiegel ist ziemlich beschlagen. Lindner bleibt noch einen Moment stehen, sagt dann, trödel nicht zu lang; nee, sagt sie. Okay, sagt Michael Lindner, schließt die Tür hinter sich und geht zurück in die Küche, wo er eine Banane ins Müsli schneiden wird und einen Apfel, für ihn und seine Tochter, und Lindner fühlt sich gut dabei und hört den Vögeln draußen im Garten beim Singen zu. Es ist die perfekte Farbe für das Kinderzimmer. Aquamarinblau. Ein sanfter, heiterer Farbton, ganz Yin. Eine der Sommerfarben, auch der Zeitpunkt ist nicht schlecht gewählt. Eine Farbe für Inspiration und Erfolg. Element Wasser, nicht Holz, gedämpft, das Blau, aquamarinig, nicht Yang, ganz Yin. Sie wird sich freuen, wenn sie nachher aus der Schule kommt, dann werden sie gemeinsam weitermachen. Erstmal streicht Iris allein, es soll ja eine Überraschung werden. Sie streicht gern, es ist eine fast meditative...