Buch, Deutsch, Band 6, 228 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 331 g
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
Buch, Deutsch, Band 6, 228 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 331 g
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
ISBN: 978-3-593-38615-7
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Dank
Einleitung
Kapitel 1
Zum Status quo europäischer Vorgaben und seinen Konsequenzen für die nationalstaatliche Steuerautonomie
Die Mehrwertsteuer: der europäische Status quo und seine Bedeutung für die nationalstaatliche Steuerautonomie
Der Status quo: mehrwertsteuerliche Vorgaben heute
Nationale Autonomieverluste bei der Gestaltung und Verwaltung der Mehrwertsteuer
Spezielle Verbrauchsteuern: der europäische Status quo und seine Bedeutung für die nationalstaatliche Steuerautonomie
Der Status quo: Vorgaben an die speziellen Verbrauchsteuern heute
Autonomieverluste bei der Gestaltung und Verwaltung der speziellen Verbrauchsteuern
Kapitalverkehrsteuer: der europäische Status quo und seine Bedeutung für die nationalstaatliche Steuerautonomie
Der Status quo: Vorgaben an die Kapitalverkehrsteuern heute
Autonomieverluste bei der Gestaltung und Verwaltung der Kapitalverkehrsteuern
Die persönliche Einkommen- und Unternehmensbesteuerung: der europäische Status quo und seine Bedeutung für die nationalstaatliche Steuerautonomie
Der Status quo: Gestaltungs- und Verwaltungsvorgaben heute
Autonomieverluste bei der Gestaltung und Verwaltung der Einkommensbesteuerung
Prozessrisiko: Autonomieverluste bei der Gestaltung der mitgliedstaatlichen Einnahmenseite
Noch autonom? Ein Fazit
Kapitel 2
Die steuerpolitische Integration und wie es dazu kommen konnte
Die Harmonisierung der indirekten Steuerpolitiken
Die Angleichung der Umsatzsteuersysteme in den späten 1960er Jahren
Die Angleichung der mehrwertsteuerlichen Bemessungsgrundlagen Ende der 1970er Jahre
Die Angleichung der speziellen Verbrauchsteuern, der Mehrwertsteuersätze und der Verwaltungsvorgaben Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre
Erklärungen für die Integration direkter Steuerpolitiken
Die Angleichung der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlagen durch die Verhinderung der doppelten Besteuerung im Gemeinsamen Markt
Die Angleichung der Zinsbesteuerung
Zusammenfassung und Fazit
Kapitel 3
Zur steuerpolitischen Verfasstheit Europas
Wettbewerbsföderalismus und kooperativer Föderalismus: idealtypische Merkmale der steuerlichen Einnahmenseite der Staatsebenen im Bundesstaat
Die Merkmale eines wettbewerbsföderal organisierten Besteuerungssystems
Die Merkmale eines kooperativ organisierten Besteuerungssystems
Idealtypische Merkmale im Abgleich mit der US-amerikanischen, der bundesdeutschen und der europäischen Gegenwart
Zur Einordnung der einkommensteuerlichen Mehrebenenverflechtung Europas
Zur Einordnung der mehrwertsteuerlichen Mehrebenenverflechtung Europas
Zur Einordnung der Finanzausgleichströme
Aufkommensseitiger Wettbewerbsföderalismus in Europa? Ein Fazit
Zusammenfassung: Geteilte Steuerstaatlichkeit in Europa
Tabellen
Literatur
Kein Geld mehr da? Ein Blick in Tageszeitungen europäischer Staaten macht die Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland nicht zur Ausnahme: Die Krise der öffentlichen Finanzen ist (fast) überall.
Ohne Geld aber ist kein Staat zu machen. Oder, etwas weniger pointiert formuliert, dafür aber mit Blick auf die "Blütezeit" der europäischen Wohlfahrtsstaaten: Ohne staatliche Steuereinnahmen und die Umverteilungsfunktion der Besteuerung ist der Sozialstaat der Moderne nur schwer denkbar. Nicht nur, dass die europäischen Wohlfahrtsstaaten auf Steuereinnahmen angewiesen waren und sind, um soziale Rechte wie beispielsweise ein gewisses Existenzminimum garantieren und soziale Sicherungssysteme und Dienste, Bildung und öffentliche Infrastruktur (mit) finanzieren zu können. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten haben mit ihren Steuersystemen selbst eine soziale Funktion verbunden: So soll(t)en mit dem Ziel gesellschaftlicher Umverteilung Einkommensunterschiede angeglichen werden, beispielsweise durch eine deutlich progressive und umfassende Einkommensbesteuerung.
Diese engen Zusammenhänge zwischen Sozialstaat und "Steuerstaat" - ein Begriff, den Rudolf Goldscheid Anfang des letzten Jahrhunderts prägte - beschäftigt seither auch die Staatsrechtslehre. Dabei waren im historischen Rückblick unterschiedliche steuerpolitische Konzepte und Steuerarten mit "dem Staat" in seiner jeweiligen Ausprägung verbunden. Die Entwicklung der steuerpolitischen Gerechtigkeitsvorstellungen und ihre jeweilige staatspolitische Konkretion waren dabei durchaus fortschrittlich: weg von den Kontributionen und Schatzungen (einmalige, direkte Abgaben) und dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung im Feudalismus, hin zur teilweisen Verallgemeinerung der Besteuerung durch die Akzisen (was in etwa den Verbrauchsteuern entspricht) des späten Absolutismus und schließlich - über die proportionale - hin zur progressiven Besteuerung von Einkommen, Erträgen, Vermögen im modernen demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Dabei wandelten sich auch die Zielsetzungen, die mit der Besteuerung verbunden wurden: Neben dem fiskalischen Ziel der mehr oder weniger gerecht gestalteten Mittelbeschaffung zur Budgetdeckung gewannen zunehmend sozial- und wirtschaftspolitische Vorstellungen Einfluss auf die Steuergestaltung und mit ihnen der Gedanke der Einkommensumverteilung über die Besteuerung.
Über Steuern nachzudenken kann entsprechend kein bloßer Selbstzweck sein. Der bürgerliche, demokratische Rechts- und Wohlfahrtsstaat ist eng verknüpft mit dessen Fähigkeit, Steuern zu gestalten und zu erheben, um die Aufgaben zu erfüllen, die in teilweise langen politischen Auseinandersetzungen als öffentliche erstritten wurden und die in ihrer institutionellen Konkretion gesellschaftliche Kompromisse darstellen. Und: der Steuerstaat des 20. Jahrhunderts ist verknüpft mit dem Grundgedanken, Einkommensunterschiede auch über die Besteuerung selbst auszugleichen, wofür insbesondere die Umverteilung über die einkommensbezogenen Steuern auf Erträge und Vermögen steht.
Wenn heute die Fähigkeit, Steuern zu erheben, ins Gerede gekommen ist, geht der Blick in Richtung Europa. Im politischen Raum wird die Erwartung formuliert, zumindest auf europäischer Ebene den Steuersenkungswettlauf bei der Kapital- und Unternehmensbesteuerung zu stoppen. Dabei ist Europa nicht zufällig der Ort, auf den sich die Blicke richten: Europa ist der Ort, der bereits über erprobte gemeinsame Institutionen verfügt. Und Europa ist der Ort, an dem aus Sicht der europäischen Mitgliedstaaten Facetten der sogenannten Globalisierung spürbar werden, wie die seit Ende der 1980er Jahre stetig wachsende Kapitalmobilität.
Dies sind Gründe genug, Europa als Ort der Zusammenarbeit in Steuerfragen ins zentrale Blickfeld zu rücken und dabei sehr schnell auf ein weit geteiltes Urteil zu stoßen: dass die nationalen Steuertraditionen und deren konkrete Ausprägungen im Steuersystem viel zu unterschiedlich seien, als dass eine Politik der europäischen Harmonisierung denkbar wäre. Überdies seien die institutionellen Anforderungen des EU-Vertrages an einen diesbezüglichen Beschluss im Rat - die Einstimmigkeit - kaum zu erreichen. Deshalb stehe auch die steuerpolitische Integration Europas noch immer erst an ihrem Anfang (Mette 1994; Radaelli 1995; Randzio-Plath 1999; Scharpf 1999b; Cnossen 2000; Genschel 2002). Loukas Tsoukalis (2005: 127) fasst seine Befunde mit folgenden Worten zusammen: "Taxes are an issue on which the Union has spent an inordinate amount of time with rather little to show for it." Um es gleich vorwegzunehmen: Meine Beschäftigung mit der Integration und Europäisierung nationaler Steuerpolitiken lässt mich heute zu einem anderen Schluss kommen: Zwar haben sich die europäischen Institutionen und Akteure tatsächlich ausgiebig mit dem Thema Steuern befasst, aber sie haben auch einiges dafür vorzuweisen. Und zwar immerhin so viel, dass sie heute - so eine der Thesen dieses Buches - ihre Steuerautonomie weitgehend eingebüßt haben. Die Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedstaaten haben sich seit den 1960er Jahren etappenweise und aktiv auf diese steuerstaatliche Transformation in Richtung Europa eingelassen - mit der Konsequenz, dass Europa selbst mittlerweile steuerstaatliche Qualität aufweist. So geht es mir im Folgenden darum,
- aufzuzeigen, welche steuerpolitischen Vorgaben auf europäischer Ebene bereits geschaffen wurden und wie diese in Bezug auf die Steuerautonomie in die Nationalstaaten zurückwirken (Kapitel 1),
- aus den öffentlichen politischen Diskussionen und Dokumenten historische Abläufe herauszuarbeiten, die Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage liefern, warum sich die Nationalstaaten auf diese weitreichende europäische Integration und Transformation ihrer nationalen Steuerpolitiken eingelassen haben (Kapitel 2), und
- zu begründen, warum die steuerpolitische Verfasstheit Europas heute wettbewerbsföderale Züge trägt (Kapitel 3).
Das erste Kapitel wird damit beginnen, die Maßnahmen der steuerpolitischen Integration und Europäisierung aufzuzeigen. Die empirische Aufarbeitung und Beschreibung des Status quo wird dabei sowohl diejenigen steuerpolitischen Vorgaben umfassen, die seitens der Mitgliedstaaten im Wege der Kompetenzübertragung an die europäische Ebene beschlossen wurden, als auch die Darstellung der Rück- beziehungsweise Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Gezeigt werden wird, dass vieles, darunter steuerpolitisch Einschneidendes beschlossen wurde. Dies gelang im Übrigen trotz hoher institutioneller Hürden wie der Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Steuersysteme oder der Einstimmigkeitserfordernis im Europäischen Rat. Untersucht werden im ersten Kapitel auch die Auswirkungen von einmal geschaffenem europäischem Recht beziehungsweise europäischer Koordination und europäischem Wettbewerb auf alle relevanten Steuerarten und wie dies de jure oder de facto die Autonomie, das heißt die Gestaltungs- und Verwaltungshoheit der Nationalstaaten beschränken.
Warum sich die Nationalstaaten auf eine derart weitreichende europäische Integration ihrer Steuerpolitiken eingelassen haben, diese sogar vorangetrieben haben, diese Frage steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Ich möchte versuchen, diejenigen Abläufe historisch zu rekonstruieren, die zu einer steuerpolitischen Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene geführt haben. Hierzu wurden sowohl die europäischen Dokumente und die Berichte von Expertenkommissionen ausgewertet, als auch die europa- und steuerpolitische Berichterstattung in Qualitätszeitungen ausgewählter Mitgliedstaaten seit den frühen 1960er Jahren.