Ulitzkaja | Jakobsleiter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 640 Seiten

Ulitzkaja Jakobsleiter

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25772-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 640 Seiten

ISBN: 978-3-446-25772-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nach der Revolution ziehen Jakow und Marussja mit ihrer kleinen Familie nach Moskau. Während Marussja der neuen Regierung vertraut, erkennt Jakow bald die Missstände. Unter Stalin wird er nach Sibirien verbannt. Seine Frau lässt sich scheiden, auch der Sohn wendet sich von ihm ab, und seine Enkelin Nora sieht er nur einmal als Kind. Sie, die ein bewegtes Leben führen wird – Bühnenbildnerin, alleinerziehend, georgische Liebschaft – lernt ihren Großvater erst aus seinen Liebesbriefen an die Großmutter kennen. Angeregt durch den Briefwechsel ihrer eigenen Großeltern hat Ljudmila Ulitzkaja einen Roman geschrieben, der die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert aus unmittelbarer Nähe erzählt.
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Erstes Kapitel
Die Weidentruhe
(1975)
Der Kleine war vom ersten Augenblick an schön – er hatte ein deutliches Grübchen am Kinn, und sein Köpfchen schien durch die Hand eines guten Friseurs gegangen zu sein: Die Haare waren kurz wie die seiner Mutter, nur ein wenig heller. Nora liebte ihn sofort, obgleich sie vorher ihre Zweifel gehabt hatte. Sie war zweiunddreißig und glaubte, Menschen nur noch lieben zu können, wenn sie es verdienten, nicht einfach so, nur weil sie mit ihr verwandt waren. Der Kleine rechtfertigte die unmotivierte Liebe vollkommen – er schlief gut, schrie nicht, trank fleißig und betrachtete interessiert seine geballten Fäustchen. Disziplin zeigte er nicht – er schlief mal zwei, mal sechs Stunden hintereinander, dann wachte er auf, bewegte schmatzend die Lippen, und Nora legte ihn sofort an die Brust. Auch sie hielt nichts von Disziplin, und sie registrierte diese Gemeinsamkeit. Ihre Brüste hatten eine märchenhafte Verwandlung erfahren. Schon während der Schwangerschaft ansehnlich angeschwollen, waren die einst flachen Schalen, aus denen nur die Nippel herausragten, nun, da reichlich Milch einschoss, zu etwas sehr Gewichtigem geworden. Nora betrachtete sie mit Respekt und empfand diese Verwandlung als merkwürdig angenehm. Obwohl sie körperlich eher lästig und unbequem war, vor allem das ständige Druckgefühl. Das Stillen selbst weckte verdächtig wohlige Empfindungen, die mit dem eigentlichen Vorgang nichts zu tun hatten. Inzwischen war der Kleine bereits drei Monate auf der Welt und hieß nicht mehr »Baby«, sondern Jurik. Er bekam das einstige Zimmer von Noras Mutter, das unbewohnt war, seit Amalia Alexandrowna endgültig zu ihrem Mann Andrej Iwanowitsch aufs Land gezogen war. Zwei Wochen vor der Entbindung hatte Nora das Zimmer rasch gestrichen, und nun schlief Jurik in dem weißen Kinderbett, das im zweiten Akt der Drei Schwestern als Requisite hatte dienen sollen. Die Aufführung war verboten worden, was inzwischen niemanden mehr interessierte, doch in der vorigen Spielzeit hatte der Skandal das ganze Theater erschüttert. Nora war die Ausstatterin gewesen, Tengis Kusiani der Regisseur. Vor seinem Abflug nach Tbilissi hatte Tengis gesagt, er werde nie wieder nach Moskau zurückkehren. Ein Jahr später rief er Nora an und erzählte ihr von einem Angebot aus Barnaul, er solle Ostrowskis Mädchen ohne Mitgift inszenieren, er überlege noch. Am Ende des Gesprächs forderte er Nora auf, ihn als Ausstatterin zu begleiten. Er schien nicht zu wissen, dass sie ein Kind bekommen hatte. Oder tat er nur so? Erstaunlich – sollte der Buschfunk diesmal versagt haben? Die Theaterwelt war ein Misthaufen, in dem stets im Privatleben gewühlt, jede noch so nichtige Kleinigkeit bekannt wurde; und wer wen liebte, wer bei einem Gastspiel in der Provinz mit wem zusammen auf den Hotellaken gelandet war und welche Schauspielerin wessen Kind abgetrieben hatte – solche Dinge verbreiteten sich erst recht im Nu. Nora betraf das kaum, sie war kein Star. Sie hatte lediglich ein glänzendes Fiasko hingelegt. Und ein Kind geboren. Die Theaterwelt fragte sich im Stillen: Von wem wohl? Denn natürlich wussten alle über ihr Verhältnis mit dem Regisseur Bescheid. Noras Mann war nicht am Theater, er war »von draußen«, und sie selbst gerade mal eine junge Bühnenbildnerin, deren Karriere erst begann. Und womöglich schon beendet war. Deshalb zeigte der Theaterklüngel kein besonderes Interesse an ihr, es gab kein Getuschel hinter ihrem Rücken und keine verstohlenen Blicke. Aber auch das war nun ohne Belang, denn Nora hatte im Theater gekündigt. Jurik war seit acht Uhr wach. Um neun hatte die Krankenschwester Taissija kommen sollen, um ihn zu impfen, doch es war schon nach zehn, und sie ließ sich noch immer nicht blicken. Nora ging ins Bad, Wäsche waschen. Sie hätte das Klingeln fast überhört, stürzte zur Tür und öffnete. Taissija plapperte gleich auf der Schwelle los. Sie war nicht nur Krankenschwester in der Kinderarztpraxis, sie empfand ihre Arbeit als Mission: Sie erzog die unverständigen jungen Mütter, weihte sie in das heilige Mysterium der Kinderaufzucht ein und vermittelte ihnen nebenbei jahrhundertealte Frauenweisheiten, belehrte sie über Ehe und Familie, war eine Expertin im Umgang mit Schwiegermüttern und dem übrigen Anhang der Ehemänner, einschließlich ihrer Exfrauen. Sie war eine fröhliche und eifrige Tratscherin und überzeugt, dass all die Kleinen ohne ihre Betreuung – »Betreuungsschwester« war ihre offizielle Bezeichnung – nicht gut gedeihen würden. Sie akzeptierte keine anderen Methoden als ihre eigenen. Fiel der Name Doktor Spock, geriet Taissija außer sich. Von allen »Mamas« mochte sie solche wie Nora am liebsten – Erstgebärende, ohne Ehemann, ohne mütterlichen Beistand. Nora war ein Idealfall: Geschwächt von der Entbindung, schonte sie ihre Kräfte fürs Überleben und wehrte sich nicht gegen Taissijas Belehrungen. Zudem hatte sie bei ihrer Arbeit am Theater, wo sich die Schauspieler aus Neid und Eifersucht ständig zankten wie kleine Kinder, gelernt, sich jeden Blödsinn mit gut gespielter Aufmerksamkeit anzuhören, an den richtigen Stellen zu schweigen und mitfühlend zu nicken. Nora stand neben Taissija, hörte ihrem Geplapper zu und beobachtete, wie die Schneeflocken auf den nadelfeinen Haaren von Taissijas Pelzmantel zu kleinen Tropfen wurden und hinunterrollten. »Entschuldige, ich bin zu spät, stell dir vor, ich komme zu den Siwkows – kennst du Natascha Siwkowa aus Wohnung fünfzehn? Ihre Olenka ist acht Monate, eine passende Braut für deinen Kleinen –, und da ist gerade Zoff. Die Schwiegermutter aus Karaganda ist zu Besuch und mäkelt an Natascha rum, von wegen sie kümmert sich nicht genug um ihren Mann und ernährt das Kind falsch, deshalb ist es ganz wund. Na, du kennst mich, da hab ich mal ein Machtwort gesprochen.« Taissija ging ins Bad, Hände waschen, und kritisierte Nora nebenbei: »Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst zum Waschen Babyseife nehmen, die Pulver taugen nichts. Hör auf mich, ich bring dir nichts Schlechtes bei.« Es war kurz nach elf. Jurik war eingeschlafen, und Nora wollte ihn nicht wecken. Sie bot Taissija Tee an. Taissija setzte sich in der Küche auf den Platz des Familienoberhaupts. Den wichtigsten Platz einzunehmen passte zur ihr, zu ihrem großen Kopf voller Locken, die zu einem Knoten hochgesteckt waren und von einer Kammspange gehalten wurden; alles im Raum ordnete sich respektvoll um sie herum, sie wurde sofort zum Mittelpunkt der Tassen und Teller, die zu ihr strebten wie Schafe zum Hirten. Ein schönes Arrangement, registrierte Nora mechanisch. Sie stellte eine Pralinenschachtel mit einem fliegenden Rentier auf den Tisch. Gäste brachten manchmal so etwas mit, doch Nora mochte nichts Süßes, die Schokolade wurde »für Gelegenheiten« aufgehoben und bekam einen weißen Belag. Taissija langte nach der Konfektschachtel, wobei Tropfen aus ihrem Haar auf den Tisch fielen, überlegte, welche der teuren Pralinen sie wählen sollte, ließ die Hand in der Luft schweben und fragte plötzlich: »Nora, bist du eigentlich verheiratet?« Sie weiht mich in die Geheimnisse der Babypflege ein und will meine dafür, als Gegenleistung für die Seife. Dialoge so zu verstehen, ihren verborgenen Sinn wahrzunehmen, hatte Tengis Nora beigebracht. »Ja, bin ich.« Kein Wort zu viel, das konnte alles verderben, der Dialog musste so laufen, dass der andere nachfragte. »Schon lange?« »Seit vierzehn Jahren, seit der Schulzeit.« Pause. Es funktionierte wunderbar. »Na ja, immer wenn ich komme, bist du allein zu Hause … Er unterstützt dich nicht, auch in die Praxis kommst du immer allein …« Nora überlegte einen Augenblick: Sollte sie sagen, er sei Hochseekapitän? Oder sitze im Gefängnis? »Er kommt nur zu Besuch. Lebt bei seiner Mutter. Er ist ein ganz besonderer Mensch, sehr begabt, Mathematiker, aber im praktischen Leben etwa so wie Jurik.« Nora sagte die Wahrheit. Ein Zehntel der Wahrheit. »Oh«, entgegnete Taissija lebhaft, »ich kenne einen ähnlichen Fall!« Doch da vernahm Nora mit ihrem feinen Gehör ein Rascheln und ging zu ihrem Sohn. Er war aufgewacht und schaute seine Mutter wie erstaunt an. Hinter ihr stand Taissija, und auf die war sein Blick geheftet. »Na, Jurotschka, sind wir aufgewacht?« Taissija lächelte breit. Nora nahm den Jungen aus dem Bett. Er drehte den Kopf zur Kinderschwester und schaute abwartend. Nora besaß keinen Wickeltisch. Nur einen aufklappbaren Sekretär, und auf den passte Jurik kaum noch drauf. Aber Nora wickelte ihn auch nicht. Die Mädchen in der Theaterschneiderei hatten ihr zwei Bodys genäht, von einem westlichen Modell abgekupfert. Taissija murrte ein bisschen über die kapitalistischen Höschen mit Gummieinlage, in denen die nasse Windel zum Wundsein führe, küsste das Baby auf den Po, wies Nora an, ein sauberes Laken auf die Couch zu legen, und ging die Impfung vorbereiten. Sie mixte etwas aus zwei Ampullen zusammen, zog die Spritze auf und pikste die Nadel leicht in den Kleinen. Er verzog das Gesicht, wollte losschreien, besann sich aber. Schaute seine Mutter an und lächelte. Kluger Junge, er versteht alles, dachte Nora begeistert. Taissija ging in die Küche, den Wattebausch wegwerfen, und rief von der Schwelle: »Das Wasser! Nora! Das Wasser läuft noch! Überschwemmung!« Die Wanne war übergelaufen, das Wasser hatte den Flur überschwemmt und lief nun in die Küche. Sie steckten Jurik ins Bett, offenbar zu...


Ulitzkaja, Ljudmila
Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015) und Jakobsleiter (Roman, 2017). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur sowie 2020 den Siegfried Lenz Preis.

Braungardt, Ganna-Maria
Ganna-Maria Braungardt, 1956 in Crimmitschau geboren, studierte Slawistik im russischen Woronesh. Sie übersetzte u.a. Swetlana Alexijewitsch, Teffy, Wladimir Jabotinsky, Boris Akunin, Polina Daschkowa und Ljudmila Ulitzkaja.



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