E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Ulitzkaja Maschas Glück
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25744-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-446-25744-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die Last der Schönheit
Der Wehrkundelehrer Viktor Iwanowitsch mit dem Spitznamen »Pimpotschka« prüfte sorgfältig, ob die Heringe richtig eingeschlagen und die Zelte genügend straff gezogen waren, riß drei von acht wieder ein und ließ sie neu aufbauen. Kaum war das Lager eingerichtet und eine quadratische Fläche für ein Lagerfeuer gerodet, fing es an zu regnen. Sie kochten Tee in einem großen Kessel und aßen, was sie von zu Hause mitgebracht hatten, doch das geplante Singen am Feuer fiel aus. Sie verschwanden in den Zelten, die innen trocken und außen naß waren. Das Fest war von Anfang an ein Reinfall. Mitten in der Nacht erwachten alle von einem wütenden Schrei. »A-a-ah!« kreischte eine Frauenstimme.»Alle wollen meinen Körper, niemand will meine Seele!« Zwischen den Zelten rannte Tanja Newolina, Schülerin der zehnten Klasse, hin und her, schüttelte in jeder Kurve ihr offenes Haar und hielt ein Kissen oder eine zusammengerollte Decke an die Brust gepreßt. Viktor Iwanowitsch lief hinterher, wollte sie stoppen und ins Zelt bugsieren, doch sie ließ sich nicht fangen und schrie weiter hysterisch: »A-a-ah! Alle wollen nur meinen Kö-ör per!« Aber Tanja war nicht hysterisch – dieser Anfall blieb der einzige in ihrem Leben. Ihr Körper, ihr Gesicht und ihr Haar waren tatsächlich so beschaffen, daß die ganze Straße ihr nachstarrte, wenn sie in ihrer Schulkleidung, die Mappe in der Hand, die Fahrbahn überquerte. Sie war ein stilles, bescheidenes Mädchen, stand nicht gern im Mittelpunkt und hatte bereits mit sechzehn die Blicke der Männer, die Anbändeleien und das Betatschtwerden in der Straßenbahn gründlich satt. Die zarte Mädchenseele der auffälligen Schönen sehnte sich so sehr nach erhabener Liebe, daß sie zu einem subtilen Gegengift griff: Von der fünften Klasse an war sie mit dem unscheinbaren Grinja Bass befreundet, dem Klassenbesten. Ihrer irrigen Logik nach mußte er, da er klug war, ihre Seele zu schätzen wissen, und bis zum Ende der siebten Klasse tat er das auch. Doch im darauffolgenden Sommer erlitt Grinja einen Pubertätsschub, der ihn nicht verschönerte, eher im Gegenteil, und dieser hormonelle Umschwung zerstörte das wunderbar Platonische ihrer Beziehung. Grinja unter liefen Berührungen, die Tanja zunächst als zufällig interpretierte, bis sie begriff, daß der intellektuelle Grinja ungeachtet seiner geistigen Überlegenheit nach körperlicher Nähe trachtete, genau wie ihr Nachbar Wlassow, der Idiot, wie all die Jungen auf dem Hof, in der Schule und auf der Straße, wie sogar manche erwachsenen Männer. Daß Grinja im dunklen Kino ihre Hand knetete, duldete sie noch, aber als er sie beim Nachhausebringen in eine Ecke des Hauseingangs zwängte und mit zusammengekniffenen Augen seine Pfoten auf ihre festen Brüste mit den vorstehenden Knöpfchen legte, heulte sie auf, riß die Arme hoch, hieb ihm die Handtasche ins Gesicht und rannte laut weinend in den zweiten Stock hinauf, ihm ihre unerträgliche Schönheit entziehend. Grinja, erfüllt von Scham und Leidenschaft, stand noch lange im Hausflur, die Hände vor das brennende Gesicht gepreßt. Dann schlich er mit hängendem Kopf davon, denn er genierte sich vor den Passanten, den Wänden und der ganzen Gotteswelt, obgleich die abendliche Dunkelheit ihn vor fremden Blicken schützte. Tanja schluchzte indessen in ihr Kissen, das die unsinnigen Mädchentränen weich aufnahm. Am nächsten Tag, einem Montag, blieben beide der Schule fern – aus Furcht davor, einander in die Augen zu sehen. Tanja erklärte ihrer Mutter, sie habe Halsschmerzen, Grinja schwänzte einfach so. Tanja weinte den ganzen Tag, betrachtete zwischendurch im Spiegel ihr Puppengesicht, schnitt häßliche Grimassen und zog mit den Fingern die Lippen oder die Nase auseinander. Sie wollte anders aussehen – wie genau, wußte sie nicht recht, vielleicht interessant wie die Mnazakanowa mit der langen dünnen Nase, komisch wie die stupsnasige Wilotschkina oder wie die schmaläugige Walijewa mit den schiefen Zähnen, die sogar in ihrer Häßlichkeit anziehend war. Alle Mädchen sehen normal aus, nur ich bin so eine Vogelscheuche, dachte sie und weinte mit neuer Kraft, erfüllt von der Vorahnung, wie schwer es eine schöne Frau hat, wenn sie nach Anerkennung ihrer Persönlichkeit trachtet. Mit Grinja Bass entzweite sie sich völlig. Ein Jahr lang ging er noch in dieselbe Schule und sah sie von weitem unentwegt düster an, dann versetzten ihn seine Eltern an eine Mathematik-Spezialschule, doch er verfolgte Tanja weiter mit sehnsüchtigen Augen, lauerte ihr im Torweg oder vor der Schule auf. Er warf einen raschen, kurzsichtigen Blick auf das blendende Weiß ihres Gesichts – das er nicht in seinen Einzelheiten wahr nahm, sondern nur als weißes Leuchten – und verschwand, ohne den leisesten Versuch einer Annäherung; er sagte nie ein Wort, nicht einmal zur Begrüßung. Tanja wandte sich ab und tat, als bemerkte sie ihn nicht. Sie vertraute ihm nicht mehr. Er war genau wie die anderen – er wollte nur ihre Schönheit. Tanjas Klassenkameradinnen, mit diversen Talenten gesegnet, strebten nach Schönheit und unternahmen da für einige Anstrengungen: Sie zupften sich die Brauen aus und malten sie an, legten sich schicke Kleider zu oder ein auffälliges Benehmen, dreist und herausfordernd. Tanja besaß außer ihrer Schönheit keinerlei Fähigkeiten – ihre Leistungen waren mittelmäßig, auch bei größter Anstrengung stand sie höchstens zwischen Zwei und Drei, selbst in zweitrangigen Fächern wie Singen, Zeichnen und Turnen erzielte sie keine Erfolge. »Durchschnittliche Fähigkeiten«, sagten die Lehrer, doch Tanja selbst urteilte strenger: keinerlei Fähigkeiten. In der zehnten Klasse lernten alle mit großem Eifer, die meisten strebten ein Hochschulstudium an, Tanja aber entschied sich, ihren Kräften angemessen, für die medizinische Fachschule; sie wollte Krankenschwester werden, am liebsten in einer Kindereinrichtung. Mit kleinen Kindern fühlte sie sich am wohlsten – die wollten nichts von ihrer Schönheit. Zur Abschlußfeier erschien Tanja nicht im weißen Kleid, wie es die Mode jener Jahre verlangte – obwohl die Mutter ihr eins gekauft hatte. Sie trug Rock und Bluse, nahm ihr mittelmäßiges Zeugnis entgegen, saß in einer Ecke der Aula, während ihre Klassenkameraden tanzten, und ging nicht einmal mit ihnen auf den Roten Platz, wie es Sitte war. Übrigens forderte ohnehin niemand sie zum Tanzen auf. Ihre Schönheit war allzu unerreichbar, ihre Miene allzu verschlossen. Tanja verließ die Feier ziemlich früh. Als Grinja Bass im Ausgehanzug, mit neuer Brille und Krawatte in seiner alten Schule vorbeischaute, war sie bereits weg. Er trottete zu ihrem Haus, blickte auf das dunkle Fenster und verschwand. Zwei Tage später fand man ihn auf dem Dachboden der Schule. Tot. Einen Abschiedsbrief hatte er nicht hinterlassen. In seiner Tasche steckte ein alter Wollhandschuh. Niemand wußte, daß er Tanja gehörte. Als Tanja von dieser schrecklichen Geschichte erfuhr, zuckte sie zusammen. Sie wußte sofort, daß das mit ihr zu tun hatte, obwohl niemand dergleichen sagte. Der Beerdigung blieb sie fern, sie hatte Angst, ihr Gesicht und ihren Körper den Blicken auszusetzen. Tanja bestand die Aufnahmeprüfungen für die medizinische Fachschule mit guten und befriedigenden Noten, und wieder war sie das schönste Mädchen in ihrem Studienjahr, in dem es nur einen einzigen Jungen gab, den humpelnden Serjosha Tichonow mit dem Kindergesichtchen. Er hatte als Kind Knochentuberkulose gehabt und war mit großen Bedenken aufgenommen worden – Tuberkulosekranke durften eigentlich nicht an medizinischen Einrichtungen arbeiten. Mit ihm freundete sich Tanja an. Die anderen Mädchen lachten darüber. Wie einst Grinja Bass, bot Serjosha Tanja ständig seine Hilfe an; das ganze erste Jahr lang brachte er sie Tag für Tag nach Hause, wobei er auf dem linken Bein humpelte. Im Sommer brach seine Krankheit wieder durch, und er wurde in eine Tuberkuloseklinik eingewiesen, wo Tanja ihn oft besuchte. In der Metro und in der Straßenbahn wurde sie dauernd von jungen und reifen Männern angesprochen, aber sie durchschaute sie alle seit langem: Sie wollten ihr schönes, von dichtem dunkelblondem Haar umrahmtes Gesicht, ihre Beine unter dem unmodernen langen Rock – kurz, ihren Körper, dessen Schönheit trotz ihres Strebens nach Unauffälligkeit durch jede Kleidung hindurchzuschimmern schien. Serjosha wollte nichts von ihr. Er hatte starke Schmerzen und mochte es nicht einmal besonders, wenn Tanja ihn besuchte. Im Hochsommer wurde er operiert, und als Tanja ihm Äpfel auf die Wachstation mitbrachte, warf er damit, sagte, sie solle nicht mehr kommen, drehte sich zur Wand und weinte. Da küßte sie ihn. Den ganzen Sommer und Herbst besuchte sie ihn im Sanatorium, und am Ende des Winters heirateten sie, sehr zum Ärger ihrer beider Eltern – Tanjas Mutter bekniete ihre Tochter, nicht so früh zu heiraten, noch dazu einen Invaliden; Serjoshas Mutter verabscheute Tanja vom ersten Augenblick an, denn sie war streng gläubig, und Tanjas Schönheit kam ihr verdächtig vor. Außerdem fragte sie sich argwöhnisch, wieso Tanja ausgerechnet ihren humpelnden Sohn genommen hatte: Womöglich hatte sie es auf die Wohnung abgesehen? Doch schließlich erlaubte sie ihrem Sohn die Heirat, unter der Bedingung, daß er Tanja nicht bei ihnen anmeldete, sie also keinen Anspruch auf die Wohnung erheben konnte. Tanjas Mutter, vom unerklärlichen Starrsinn der Tochter besiegt, willigte unter derselben Bedingung ein: daß Tanja ihren Mann nicht ins Haus brachte. Serjosha mußte nach der erneut ausgebrochenen Tuber kulose die Fachschule verlassen. Er saß zu Hause und lernte für eine weitere Aufnahmeprüfung, er wollte Fernmeldetechniker...