Vanderbeke | Alle, die vor uns da waren | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Vanderbeke Alle, die vor uns da waren

Roman
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99250-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-492-99250-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unsere Zukunft speist sich aus unserer Vergangenheit. Die Erzählerin dieses autobiografischen Romans, mittlerweile selbst Großmutter, spürt den Fäden und Verbindungen zwischen den Generationen nach: Was bewog die eigene Großmutter, Ostende zu verlassen und ihrem 14-jährigen Sohn Gaston, der sich der deutschen Wehrmacht angeschlossen hatte, nach Deutschland zu folgen? Wie hielt sie, die nie wieder nach Belgien zurückkehrte, das Leben in der Fremde aus? Und wie können diese Erinnerungen in Zeiten, die erneut von Flucht und Vertreibung geprägt sind, Trost und Hilfe sein? Im abschließenden Teil ihrer beeindruckenden Roman-Trilogie umkreist Birgit Vanderbeke Fragen, die weit zurückführen und doch aktueller nicht sein könnten.
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Es sind vielleicht nicht alle bei dir, denke ich. Alle vielleicht nicht. Aber da drüben kennt einfach jeder jeden, und wenn du einen von ihnen bei dir hast, kannst du nie wissen, wen noch, und schon sind es im Grunde alle. Bei mir fing das mit meiner Oma Maria an, ohne dass ich überhaupt merkte, dass sie bei mir war und mich behütete. Mich hat nie jemand behütet. Der einzige Mensch, der auf mich aufgepasst hat, war immer nur ich selber gewesen. Deshalb wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass meine Oma Maria mich behüten könnte. Immerhin war sie tot, und wenn schon die Lebenden nicht mit mir sprachen und auf mich aufpassten, wäre ich nicht darauf gekommen, dass die Toten bei mir sein und mich behüten könnten. Alle vielleicht nicht, aber erstaunlich viele dann doch. Aber das merkt man erst mit der Zeit. Wenn überhaupt.   Angefangen hatte es also mit meiner Oma Maria, und dann kam irgendwann später der Heinrich Böll dazu, und dabei hatte vermutlich der Gerhard Zwerenz seine Hände im Spiel, der den Böll schon zu Lebzeiten gekannt hatte, und wenn Sie den Böll und den Zwerenz nicht kennen sollten, wundern Sie sich nicht. Wir vergessen heute sehr schnell. Das hat mit der schwarzen Magie zu tun, die dafür sorgt, dass die Wirklichkeit vor unseren Augen verschwindet und zerrinnt, und mit der Wirklichkeit verschwindet das Erinnern an alle, die vor uns da waren und uns von der Wirklichkeit erzählen könnten.   Meine Oma Maria war meine andere Oma. Sie war die Mutter von meinem Vater. Sie hieß andere Oma, weil sie anders war und weil wir in Dahme bei meiner Oma Frieda in der Bahnhofstraße 16 wohnten und nicht bei ihr in der Wallstraße 5. Wir hätten bei ihr auch gar nicht wohnen können, weil ihre Wohnung viel zu klein und meine Oma Maria viel zu arm war. Aber ich konnte schon als kleines Kind von der Bahnhofstraße in die Wallstraße laufen und die andere Oma besuchen. Ich habe sie gern besucht. Min meisje, sagte sie, wenn ich reinkam. Ihre Haustür war nie abgeschlossen.   Schließlich war sie gestorben und tot. Zu der Zeit, als sie starb, hatte ich in Frankfurt gerade mit dem Studium angefangen, kurz zuvor war ich volljährig geworden und kam natürlich nicht auf die Idee, dass sie bei mir sein und mich behüten könnte. Ich war etwas zerschlagen und zerschunden aus meiner Kindheit rausgekommen, fühlte mich benommen und hatte keine Ahnung, warum manche zerschlagen und zerschunden werden und andere nicht. Eine Frage der Gerechtigkeit, dachte ich. Für Fragen der Gerechtigkeit ist das Recht zuständig, also studierte ich Jura. Damals war Fritz Bauer schon ein paar Jahre lang tot. Es dauerte nicht sehr lange, bis ich verstand, dass es mit der Gerechtigkeit nichts würde, wenn Fritz Bauer es nicht geschafft hatte, die Nazis vor Gericht zu bringen. Falls Sie auch von Fritz Bauer noch nie gehört haben, wundern Sie sich nicht. Er hatte im Krieg vor den Nazis abhauen müssen. Nach dem Krieg wurde er Staatsanwalt und versuchte, die Nazis vor Gericht zu bringen. Einmal hat er den Israelis einen Obernazi verraten, den er ohne den israelischen Geheimdienst nicht vor Gericht gekriegt hätte, weil die Deutschen und die Amis nicht besonders scharf darauf waren, die Nazis vor Gericht zu stellen, aber dann erwischten die Israelis den Obernazi, und so kam er vor Gericht. Das war dann der Eichmann-Prozess; aber Fritz Bauer kapierte schnell, dass es den Deutschen und den Amis nicht darum ging, die Nazis vor Gericht zu bekommen und zu bestrafen. Mein Vater war kein Nazi und Massenmörder gewesen, nur Direktor in der pharmazeutischen Industrie, und da war wiederum ein früherer Nazi der oberste Chef. Der hatte so richtig in der Sache mit dringehangen und anschließend dafür gesorgt, dass die Leute, die bei der IG Farben gewesen waren, gute Stellen bei den Farbwerken bekamen. Aber mein Vater hatte nichts mit den Experimenten zu tun oder mit den Medikamenten, die die IG Farben in den KZs getestet hatte. Er war bei Kriegsende erst zehn Jahre alt und also dafür viel zu jung gewesen. Vermutlich hatte er auch mit der Sache in Chile nichts zu schaffen gehabt. Das waren die Amis gewesen, die den Putsch angezettelt und den Präsidenten umgebracht hatten, und mein Vater hatte nur indirekt mit den Amis und eher mit dem Auswärtigen Amt in Bonn zu tun. Keine Ahnung, was er von diesen ganzen Mord- und Foltersachen und den Lagern in Chile überhaupt wusste, aber natürlich fand er auch, dass die Regierung Allende das Ende gefunden hatte, das sie verdiente. So stand es in einem Brief, den die chilenische Filiale nach Vollzug der Angelegenheit an die Farbwerke nach Hause schrieb. In dem Brief stand auch, dass das Vorgehen der Polizei und des Militärs nicht intelligenter hätte geplant und koordiniert werden können und dass es sich um eine Aktion handelte, die bis ins letzte Detail vorbereitet war und glänzend ausgeführt wurde, und nachdem der Diktator Pinochet eingesetzt worden war, wurde Chile ein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt. Aber ich bekam davon nicht mehr sehr viel mit, weil ich nicht mehr bei meinen Eltern wohnte. Ich bin auch nicht sicher, ob mein Vater zu Hause überhaupt noch davon sprach. Von Vietnam und dem Agent Orange hatte er noch gesprochen, aber wenn er davon sprach, dass die Farbwerke den Amis das Dioxin für ihr Agent Orange geliefert hatten, sagte er immer gleich dazu, dass ich darüber nicht reden sollte. Kein Sterbenswörtchen davon zu irgendjemand, sagte er. Haben wir uns verstanden. Natürlich sagte ich kein Sterbenswörtchen davon zu irgendjemandem, auch wenn ich wusste, dass man genau hinschauen, hinhören und die Klappe aufmachen muss, wenn man nicht will, dass es immer wieder Krieg gibt. Aber ich war noch ein Kind. Ein Kind hat keine Stimme, also habe ich die Klappe gehalten, wenn mein Vater mir gesagt hat, dass ich die Klappe halten solle, und trotzdem bin ich ziemlich zerschlagen und zerschunden aus meiner Kindheit herausgekommen, auch wenn ich versucht hatte, alles so zu machen, dass ich halbwegs ungeschoren davonkomme. Aber es hatte nicht funktioniert.   Schließlich machte ich Abitur und zog sofort aus der Wohnung meiner Eltern aus. Kurz danach starb meine Großmutter Maria. Meine andere Oma. Ein paar Wochen vorher war sie achtzig Jahre alt geworden. Nach ihrem Tod fing sie an, mich zu behüten, auch wenn ich davon sehr lange Zeit nichts gewusst und mitgekriegt habe.   Als sie noch am Leben und viel jünger war, hatte sie natürlich zuerst einmal versucht, ihre beiden Söhne zu behüten. So habe ich es später mit Noah gemacht, und so macht es Noahs Frau heute mit dem Kleinen. Nur ist das bei meiner Großmutter Maria auf der ganzen Linie danebengegangen. Das war im Zweiten Weltkrieg. Da ist kaum jemand heil herausgekommen, und ihre beiden Söhne waren zwar am Ende des Krieges noch am Leben, aber das war auch schon alles, was meine Großmutter hatte ausrichten können, und auch das hätte beinahe nicht geklappt. Sie war so unverheiratet, wie man nur sein konnte, und ihr Leben lang arm wie eine Kirchenmaus. Als sie gestorben ist, hat sie einen alten Pappkoffer hinterlassen, in den sie ihre Siebensachen gepackt hatte. Gewaschen, geplättet und ordentlich zusammengefaltet. Den Koffer hat mein Vater später weggeschmissen. Obendrauf lag ein Briefumschlag, und in den Briefumschlag hatte sie genau die Summe gesteckt, die für ihre Beerdigung gebraucht würde. Die Beerdigung ist dann doch teurer geworden. Sie ist sogar sehr viel teurer geworden, als meine Großmutter sich das hätte leisten können, weil mein Vater nicht wollte, dass seine Mutter in einem Armeleutegrab beerdigt würde.   Er hat nach dem Tod seiner Mutter entsetzlich gelitten. Ich fand das sonderbar, weil er sich nie um sie gekümmert hatte, als sie noch am Leben war. Sogar ihren Geburtstag hat er alle Jahre wieder vergessen. Mein Vater hatte am selben Tag Geburtstag wie seine Mutter, und also war es besonders merkwürdig: Seinen eigenen Geburtstag hat er sich merken können, aber nicht den seiner Mutter. Deshalb kam es mir sonderbar vor, wie er plötzlich gelitten hat. Aber er war tatsächlich vor Schmerz ganz im Wahn, hat geklagt und sich die Haare gerauft; tagelang ist er nicht aus dem Schlafzimmer herausgekommen, in das er sich eingesperrt hatte, und dann setzte er sich in den Kopf, dass sie das schönste Grab im ganzen Ort bekäme. Er hat alle Leute, die er in Dahme gekannt hat, zu ihrer Beerdigung eingeladen, und schließlich ist tatsächlich alles, was einen Namen hatte, auf den Friedhof gekommen, und danach noch in den Ratskeller, und alle haben meinen Vater bestaunt, weil er im Westen ein hohes Tier und so reich geworden war, dass er sich das teure Grab und die Blattgoldinschrift leisten und noch den ganzen Ratskeller reservieren konnte für das königliche Mahl nach der Trauerfeier für seine geliebte Mutter. Gleich nach ihrem Tod hat mein Vater alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das beste handgeschlagene Blattgold von den besten Goldschlägern zu bekommen. Er ist selbst nach Schwabach gefahren, um sich vor Ort darum zu kümmern, und schließlich hat er einen Steinmetz in Westberlin ausfindig gemacht, der den Grabstein gestalten und die Inschrift mit dem Schwabacher Blattgold verzieren konnte. Wie der Stein später vom Westen in den Osten gekommen und am Grab meiner Großmutter in Dahme aufgestellt worden ist, weiß ich nicht mehr; jedenfalls hat sich mein Vater darüber gefreut, wie eindrucksvoll die Beerdigung gewesen ist, obwohl natürlich der Stein mit dem Blattgold noch längst nicht da war, aber mein Vater hat allen, die er eingeladen hatte, davon erzählt, und allen...


Vanderbeke, Birgit
Birgit Vanderbeke,geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.



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