E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Vogel Deutschland aus der Vogelperspektive
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-451-82169-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-451-82169-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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18. Mai 1945 – Als der
Krieg zu Ende ging
Kriegsgefangener in Italien
Hans-Jochen Vogel Das Kriegsende habe ich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in einem Lager bei Coltano in der Nähe von Pisa erlebt. Soldat war ich seit Ende Juli 1943. Ich hatte mich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, weil mein Jahrgang besonders nachdrücklich von der Waffen-SS „umworben“, das heißt zum Eintritt in die Waffen-SS gedrängt wurde. Erst der Annahmeschein der Wehrmacht schützte einen vor weiteren Behelligungen. Ich war damals 17 ½ Jahre alt. Auch ohne freiwillige Meldung wäre ich wenig später einberufen worden. Nach Ausbildungszeiten in Frankreich und Mitteldeutschland und einem Fronteinsatz in Italien, der wegen einer komplizierten Verletzung vorzeitig endete, kehrte ich nach längerem Lazarettaufenthalt im Januar 1945 als Unteroffizier zu meiner Einheit nach Italien zurück. Anfang März 1945 wurde ich bei dem Versuch, eine verloren gegangene Berghöhe südlich von Bologna wieder in Besitz zu nehmen, durch einen Bauchschuss verwundet. Unser Gegner war dort eine brasilianische Einheit. Heute wissen nur noch wenige, dass sich an dem von Hitler begonnenen Krieg an der Seite der drei Hauptalliierten USA, Sowjetunion und Großbritannien am Ende 44 weitere Staaten beteiligt haben – darunter neben acht anderen südamerikanischen Staaten eben auch Brasilien, das als einziges Land auch Truppen in Stärke einer Division nach Europa entsandte. Eben diese kam dann um die Jahreswende 1944/45 in Norditalien zum Einsatz. US-Verbindungsoffizier bei dieser Division war übrigens ein Major namens Vernon Walters. Ich habe ihn später in Bonn während meiner Zeit als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion als Botschafter der Vereinigten Staaten persönlich kennengelernt und mit ihm die Befriedigung darüber geteilt, dass aus Feinden, die sich 40 Jahre zuvor an der Front gegenübergestanden hatten, Bundesgenossen geworden waren. Bundesgenossen, die ungeachtet einiger Meinungsverschiedenheiten – etwa in der Nachrüstungsfrage – in den Grundpositionen übereinstimmten. Nach erneutem Lazarettaufenthalt fand ich mich im April wieder bei meinem Bataillon ein. Das Bataillon – in Friedenszeiten 600 bis 1000 Mann, jetzt aber höchstens noch 80 Mann stark – befand sich südlich des Po auf dem Rückzug. Ein Hauptfeldwebel, der es gut mit mir meinte, schickte mich mit den Handwerkern der Einheit (das waren etwa zehn Mann) und 15 Kühen (das war die letzte Verpflegungsreserve von Belang) nach Norden auf den Marsch. Ich sollte die Männer und die Kühe über den Po in Sicherheit bringen und dann irgendwo zwischen Po und Etsch oder auch nördlich der Etsch wieder mit dem Bataillon zusammentreffen. Wahrscheinlich wollte der Hauptfeldwebel so dem jüngsten Unteroffizier seiner Einheit eine Chance geben, zu überleben und früher als andere nach Hause zu kommen. Am Abend vor dem Abmarsch – es war der 19. April 1945 – hörte ich zusammen mit einer Handvoll Kameraden in einem halb zerstörten Bauernhaus Joseph Goebbels’ Rede zu Hitlers 56. Geburtstag. Obwohl wir wussten, dass die westlichen Alliierten und auch die sowjetischen Truppen schon tief nach Deutschland vorgestoßen und die Heimatorte der meisten von uns bereits besetzt waren, und obwohl auch in unserem Frontabschnitt der endgültige Zusammenbruch schon begonnen hatte, gelang es diesem teuflischen Verführer noch einmal, uns für einen Augenblick in seinen Bann zu ziehen. Ob nicht doch im letzten Moment noch die Wunderwaffen eine Wende brächten? Und ob nicht doch vielleicht der Tod des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, den er wohl mit dem Tode der russischen Zarin Elisabeth während des Siebenjährigen Krieges verglich, zum Auseinanderfallen des Bündnisses der Westmächte mit der Sowjetunion führen würde, so wie der Tod der Zarin das Ausscheiden Russlands aus der Allianz gegen Friedrich den Großen zur Folge hatte? So fragten wir uns. Aber die Wirkung dieses letzten Versuchs einer Massensuggestion verflog binnen weniger Minuten. Einschläge in nächster Nähe und der Anblick einzelner oder auch in Gruppen zurückflutender Soldaten brachten uns rasch auf den Boden der Realität zurück. Meine kleine Gruppe erreichte in den folgenden Tagen mit einiger Mühe den Po. Tiefflieger und Partisanen machten jede Bewegung am Tage und auch in der Nacht überaus riskant. Am Po gab es keine intakten Brücken mehr, sondern lediglich noch Fähren, die wegen der ständigen Luftangriffe nur während der Dunkelheit übersetzen konnten. Als wir versuchten, auch unsere Kühe auf eine solche Fähre zu bringen, erklärte mich der Fährenkommandant für verrückt und drohte, uns insgesamt vom Transport auszuschließen. So ließen wir die Kühe zurück und waren froh, dass wir selber über den Fluss kamen. Von dort marschierten wir zwischen Versprengten anderer Einheiten in Richtung Vicenza. Plötzlich umringten uns an einem Ortseingang bewaffnete Zivilisten in großer Zahl. Wir hielten Widerstand für sinnlos und nahmen die Hände hoch. Einige Minuten war die Situation angespannt. Die Partisanen – um solche handelte es sich – schienen unschlüssig, was sie mit uns anfangen sollten. Dann erschien ein katholischer Priester, der begütigend auf sie einredete und uns – inzwischen war die Zahl der Gefangenen auf über 50 angewachsen –, von den Partisanen bewacht, auf den Dorffriedhof führte. Dort saßen wir acht Stunden zwischen den Grabsteinen, bis eine amerikanische Einheit eintraf und uns zu einer Gefangenensammelstelle auf einer großen Wiese brachte. Binnen Kurzem versammelten sich auf dieser Wiese etwa 5000 Gefangene, und zwar nicht nur Deutsche, sondern auch Dienstverpflichtete, Freiwillige und sogenannte Hilfswillige aus vieler Herren Länder, die meisten in einem ziemlich kläglichen Zustand. Auf der anderen Seite der Wiese zogen in einer nicht abreißenden Kolonne amerikanische Einheiten mit Panzern, Lastwagen und Jeeps vorbei. Im Vergleich zu unseren armseligen Resten eine schier erdrückende Fülle an Menschen und Material, die uns den ganzen Wahnsinn der Hitler’schen Kriegsverlängerung aufs Drastischste vor Augen führte. Von Vicenza wurden wir nach einem kurzen Aufenthalt in einem Zwischenlager mit Lastwagen über den Futa-Pass nach Pisa transportiert. Die Ladeflächen waren mit 40 bis 50 Männern pro Fahrzeug dicht besetzt. In den Passkurven schwankten die Fahrzeuge bedenklich. Durch Pisa marschierten wir am frühen Morgen am Schiefen Turm vorbei in ein ausgedehnteres Gefangenenlager, in dem etwa 25.000 Mann untergebracht waren. Die Lebensbedingungen waren einigermaßen erträglich. Da ich von der Schule her etwas Englisch konnte, wurde ich als Dolmetscher eingesetzt. Meine Aufgabe war es dabei unter anderem, Nachrichten aus der amerikanischen Armeezeitung Stars and Stripes zu übersetzen und an ein Schwarzes Brett zu heften. Dort befestigte ich am 9. Mai 1945 eine Meldung, die, von mir in ein ziemlich holperiges Deutsch übertragen, die bedingungslose Kapitulation und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa verkündete. Was ich in diesem Augenblick am stärksten empfand, war die Erleichterung darüber, dass das Morden und Töten endlich vorbei war. Dieses Gefühl war stärker als die Wahrnehmung dieses Tages als Tag der totalen Niederlage Deutschlands. Dass es zugleich der Tag der Befreiung war, der Befreiung weiter Teile Europas und auch unseres eigenen Landes von einem mörderischen Gewaltregime, lag damals außerhalb meiner Vorstellung. Auch darüber, dass die totale Niederlage für einen völligen Neuanfang bessere Voraussetzungen schuf als das Ende des Ersten Weltkrieges für die Weimarer Republik, habe ich mir damals keine Gedanken gemacht. Meinen Mitgefangenen ging es ähnlich. Über unser künftiges Schicksal waren wir im Ungewissen. Natürlich hofften wir, eines Tages nach Hause zurückkehren zu können. Aber viele, darunter auch ich, hielten es für wahrscheinlicher, dass wir zunächst auf Jahre hinaus als Gefangene in Frankreich oder in der Sowjetunion zum Wiederaufbau der von uns zerstörten Städte und Landschaften eingesetzt würden. Über das Ausmaß der Verbrechen während der Zeit der NS-Gewaltherrschaft waren wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht im Klaren. Was darüber in Stars and Stripes zu lesen war – etwa über die Leichenberge in den von den Alliierten befreiten Konzentrationslagern – erschien mir und den meisten Mitgefangenen unfasslich. Einzelne Gefangene, die als Soldaten im Osten eingesetzt waren, bevor sie nach Italien kamen, sprachen allerdings von Massenexekutionen von Juden. Eine konkrete Vorstellung, wie es in Deutschland weitergehen, wie dort ein neuer Anfang möglich sein sollte, hatte niemand von uns. Über die Frage, wie wohl die elementarsten Lebensbedürfnisse zu decken seien, gingen die Gespräche kaum hinaus. Einzelne spekulierten darauf, dass es schon bald zu einem Konflikt zwischen den Westmächten und der Sowjetunion kommen könnte und wir dann wieder gebraucht würden. Aber sie fanden wenig Gehör. Hätte uns damals einer die Entwicklung...