E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Vreeland Lisette und das Geheimnis der Maler
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8412-1714-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1714-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paris, 1937: Aus Liebe folgt Lisette ihrem Mann André aus der lebendigen Metropole in die südfranzösische Provinz - nach Roussillon, einem Dorf am Rande der legendären Ockerfelsen, in dessen Enge sie sich zunächst schwer zurechtfindet. Erst durch Andrés Großvater und seine Sammlung französischer Gemälde lernt sie die Schönheit des provenzalischen Landstrichs lieben. Als er stirbt und André nicht aus dem Krieg zurückkehrt, muss Lisette die Bilder finden, die ihr Mann vor den Nazis versteckt hat. Sie hofft, während ihrer Suche nicht nur die Bilder zu retten, sondern auch ihr persönliches Glück ...
Susan Vreeland studierte in San Diego, Kalifornien, wo sie Englische Literaturwissenschaft und Creative Writing unterrichtete. Sie ist Autorin zahlreicher New-York-Times-Bestseller, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden und in denen es oftmals um Schicksale in der Geschichte der Kunst geht. Mehr Informationen zur Autorin unter www.susanvreeland.com
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Kapitel 1
Der Weg nach Roussillon
1937 Reisende eilten zum Bahnhof von Avignon, Botenjungen kurvten auf klapprigen Fahrrädern um Kinder und Pferdekarren herum, Autofahrer hupten. Doch André stand ganz ruhig da und aß den Apfel, den er an einem Obststand gekauft hatte. Ich blieb dicht bei unseren Reisetaschen, Koffern und den Kisten mit allem, was wir aus unserer Pariser Wohnung mitgenommen hatten. Andrés Werkzeug war darunter und der Traum von meiner beruflichen Zukunft, den ich geopfert hatte. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte ich. »Ja, Lisette.« André zupfte ein handtellergroßes Blatt von einer Platane und legte es auf das Kopfsteinpflaster. Dann tippte er mit dem Zeigefinger auf meine Nase und deutete auf das Platanenblatt. »Pass auf, der Bus wird genau hier halten. Mit dem rechten Vorderreifen auf diesem Pflasterstein.« Er drückte meine Hand. »Im Süden Frankreichs geschieht alles nach festen Regeln.« Zu diesen südfranzösischen Regeln gehörte offenbar nicht, dass die Busse wie in Paris fahrplanmäßig verkehrten. Auch das Licht in Paris war anders. Hier sprang es einem in die Augen, brachte Farben zum Leuchten und berührte die Seele. Ohne dieses Licht hätte ich die Schönheit eines kleinen einfachen Platzes – ganz anders als die Plätze in Paris – niemals bemerkt. Vor mir lag ein schimmerndes Aquarell und zeigte Männer mittleren und fortgeschrittenen Alters, die unter einer Platane auf einer Bank saßen – weiße Hemden unter einem kornblumenblauen Himmel, der durch die Lücken im tiefgrünen Laub blitzte. Die Männer knabberten Mandeln, reichten die Tüte von einem zum anderen, sprachen vielleicht von früheren Zeiten. Sie wirkten zufrieden, wie sie da saßen, wohingegen ich André meine Hand entzog, eine Runde um den bescheidenen Berg unserer Habseligkeiten drehte und währenddessen spürte, wie sein Blick mir folgte. »Schau dir die Männer an«, sagte André leise. »Gehören alle zum Heiligen Orden der Baskenmützenträger.« Er schmunzelte angesichts seiner einfallsreichen Formulierung. Zu guter Letzt kam ein kastenartiger kleiner Bus, der unter den großen Rostflecken früher einmal orangerot gewesen sein musste. Er hielt an, das rechte Vorderrad zerdrückte das Platanenblatt auf dem Boden. André legte den Kopf schief und schenkte mir ein selbstzufriedenes, aber auch zärtliches Lächeln. Behände sprang der Fahrer die Stufen des Busses herunter, breitbeinig und mit ausgestellten Füßen, so wie es übergewichtige Menschen tun, um ihr Gleichgewicht zu halten. Er begrüßte André mit Namen, schlug ihm auf den Rücken und sagte, er freue sich, ihn zu sehen. »Wie geht es Pascal?«, fragte André. Pascal war Andrés Großvater. »An den meisten Tagen kommt er zurecht. Meine Frau bringt ihm das Essen, oder er isst bei uns.« Der Fahrer verneigte sich vor mir mit übertriebener Höflichkeit. »Adieu, Madame. Ich bin Maurice, ein Chevalier de Provence und Kavalier der Straße. Nicht zu verwechseln mit Maurice Chevalier, dem Kavalier der Bühne.« Er zwinkerte André zu. »Deine Frau ist noch schöner als Eleonore von Aquitanien.« Das war Geschwätz, darauf würde ich nicht hereinfallen. Aber hatte er wirklich »Adieu« gesagt? »Bonjour, Monsieur«, antwortete ich, wie es sich gehörte. Seine Aufmachung war lustig: die rote Krawatte auf seinem Unterhemd, dem einzigen Hemd, das er trug, die behaarte Brust, die im Ausschnitt sichtbar wurde, die rote Schärpe statt eines Gürtels, die schwarze Baskenmütze auf dem runden Schädel. Auf den Anblick des schwarzen Kräuselhaars, das unter seinen Achselhöhlen hervorquoll, hätte ich allerdings verzichten können; dank Schwester Marie-Pierres Unterweisung gehörte ich zu den Menschen, denen leider Gottes jede Kleinigkeit auffiel. Maurice legte eine Hand auf seine fleischige Brust. »Ich befördere Damen in Nöten. Enchanté, Madame.« Ich sah André übellaunig an. Dank seiner war ich tatsächlich eine Dame in Nöten, denn schon jetzt vermisste ich das Leben, das wir in Paris zurückgelassen hatten. »Vite! Vite! Vite!« Mit raschen, scheuchenden Bewegungen wedelte Maurice über unser Gepäck hinweg und drängte uns zur Eile. »In zwei Minuten ist Abfahrt.« Dann war er verschwunden. »Ein einziges ›vite‹ wäre eigentlich genug gewesen, findest du nicht?« André lächelte. »Die Menschen in der Provence sprechen kraftvoll. Sie leben auch kraftvoll. Maurice ganz besonders.« Er begann unser Gepäck in den Bauch des Busses zu laden. »Er ist ein guter Freund von mir. Ich kenne ihn schon seit meiner Kindheit. Damals hat mein Großvater mich noch von Paris nach Roussillon mitgenommen.« »Wofür steht die rote Schärpe?« »Das ist eine taillole. Sie bedeutet, dass Maurice in der Provence geboren wurde und ein Patriot dieses Landstrichs ist.« Wir setzten uns vorne in den Bus und warteten zehn Minuten. Zwei Männer nahmen hinten Platz. Kurz darauf hörte ich sie kraftvoll schnarchen. Unser selbsternannter Kavalier kam zurückgeeilt. »Tut mir leid, tut mir leid, ich hatte einen Freund entdeckt.« Alle seine Gesichtszüge, sogar die weiten Nasenlöcher, fügten sich zu einem Bild der Unschuld, als würde die Entdeckung eines Freundes die verspätete Abfahrt eines Busses rechtfertigen. Er pumpte die Reifen mit einer Handpumpe auf und kletterte auf seinen Sitz. Dann ließ er den Motor an, der sich keuchend wehrte, bis er aufgab und wir unter dem steinernen Torbogen des Festungswalls hindurchruckelten und über Land in Richtung Osten fuhren. Der Weg nach Roussillon führte durch zwei Gebirgsketten hindurch, die Berge der Vaucluse im Norden und des Luberon im Süden. Ich war noch nie im Süden Frankreichs gewesen und drückte meine Nase an die Fensterscheibe. »Anhalten«, rief André. Klappernd und schnaufend blieb der Bus stehen. André sprang hinaus, pflückte am Wegesrand einen Strauß Lavendel, stieg wieder ein und überreichte ihn mir. »Willkommen in der Provence. Leider stehen die Lavendelfelder noch nicht in voller Blüte, aber im Juli werden dir bei ihrem Anblick die Augen übergehen.« Es war eine liebevolle Geste, süß wie der Duft der Blüten. »Wie weit ist es bis zu diesem Roussillon?«, fragte ich Maurice, als wir weiterfuhren. »Noch fünfundvierzig wunderschöne Kilometer, Madame.« »Sieh mal, ich glaube, das sind Erdbeerfelder«, sagte André. »Erdbeeren isst du doch so gern.« »Und das daneben sind Melonenfelder«, ergänzte Maurice. »Die besten Melonen Frankreichs wachsen in den Tälern der Vaucluse. Auch Spargel, Kopfsalat, Möhren, Kohl, Sellerie, Artischocken und –« »Schon gut«, sagte ich. »Ich hab’s verstanden.« Doch Maurice ließ sich nicht beirren. »– Spinat, Erbsen und Rüben. In höheren Lagen findet man unsere berühmten Obstplantagen, Weingärten und Olivenhaine.« Maurice betonte jede Silbe, auch die normalerweise nahezu stummen »e« am Ende eines Worts. Auf die Weise wurde sein Französisch zu etwas schwungvoll Hüpfendem voller Zierrat, anders als die glatt fließende Sprache der Pariser. »Aprikosen magst du doch auch«, sagte André. »Du bist auf dem Weg in den Garten Eden.« »Wenn ich dort auch nur eine einzige Schlange sehe, nehme ich den nächsten Zug zurück nach Paris.« Die Blüten der vielen Obstbäume verströmten tatsächlich einen wundervollen Duft, der bis zu uns in den Bus drang. An den Rebstöcken der Weingärten wuchsen zartgrüne Blättchen, am Wegesrand stand feuerroter Klatschmohn, und die Sonne verhieß die Wärme, die ich nach dem eisigen Pariser Winter ersehnte. Doch der Gedanke, in dieser Gegend für wer weiß wie lange zu leben, bedrückte mich. In Paris hätte ich eine Lehrzeit in der Galerie Laforgue beginnen können. Für eine zwanzigjährige Frau ohne Ausbildung bedeutete das die Chance ihres Lebens. Und ich hatte sie mir entgehen lassen. Noch immer konnte ich nicht fassen, dass André sich von einem Moment zum anderen entschieden hatte, Paris zu verlassen und in ein Dorf am Ende der Welt zu ziehen, nur weil sein Großvater kränkelte und ihn zu sich gebeten hatte. Ich verstand nicht, wie André so einfach seine leitende Stellung in der Innung der Rahmenbauer aufgeben konnte, die für einen Mann von dreiundzwanzig Jahren außergewöhnlich war. Um mich auszuweinen, lief ich in Paris zu Schwester Marie-Pierre der Töchter der christlichen Liebe, die das Waisenhaus führten, in dem ich aufgewachsen war. Ich jammerte ihr vor, wie kurzsichtig und egoistisch André denke. Sie hatte wenig Mitgefühl. »Verurteile ihn nicht, Lisette. Sieh ihn im besten, nicht im schlechtesten Licht.« Und nun war ich hier, rumpelte in einer Staubwolke über eine Straße und wünschte, ich wäre in Paris, der Stadt meiner Geburt, meines Glücks, der Heimat meiner Seele. Doch ich beschloss, Schwester Marie-Pierres Rat zu folgen und alles im besten Licht zu sehen. »Monsieur«, wandte ich mich an Maurice, »gibt es in Ihrer Stadt eine Kunstgalerie?« »Eine was?«, fragte er. »Ein Geschäft, in dem Originalgemälde verkauft werden.« Er lachte laut und aus dem Bauch heraus. »Non, Madame. Roussillon ist auch keine Stadt, sondern ein Dorf.« Sein Lachen kränkte mich. Mit meiner Liebe zur Kunst spaßte man nicht. Sie war auch nicht erst vor kurzem...