Wagner | Brennt die Schuld | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 240 Seiten

Reihe: Wenn du vergisst

Wagner Brennt die Schuld


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95927-031-1
Verlag: Oetinger 34 ein Imprint von Verlag Friedrich Oetinger
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, Band 2, 240 Seiten

Reihe: Wenn du vergisst

ISBN: 978-3-95927-031-1
Verlag: Oetinger 34 ein Imprint von Verlag Friedrich Oetinger
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wenn es etwas in dir gibt, das jeden, den du liebst, in Gefahr bringt. Wenn deine eigene Familie dir Vergangenes nicht verzeihen kann.Wenn dein Herz unentschlossen bleibt. Wenn du nicht mehr weißt, wer Freund und wer Feind ist. Dann ist der Tag gekommen, an dem du dein Schicksal selbst in die Hand nehmen musst.
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Verantwortung
»Was für eine beschissene Idee!«, hast du gesagt und die Sternbilder an der Decke angestarrt. Ich stand noch auf der Leiter und klebte den fetten Punkt für Jupiter neben die Zwillinge, ging von dort aus sechs Finger breit nach schräg unten zum Kleinen Hund und Einhorn. »Sieht gut aus.« Mit einem Lächeln hast du versucht, die Verzweiflung und die Wut zu vertreiben, die überall um uns herum im Raum waren. »Fast so wie in unserem alten Zimmer.« Nur fast. Ich kletterte von der Leiter und legte mich neben dich aufs Bett. Beide schauten wir zur Decke, deine Hand in meiner, und suchten zwischen Luchs, Einhorn, Hund und Zwilling nach einer Antwort. Wir fanden sie nicht. »Was für eine beschissene Idee von ihnen, mit uns hierherzuziehen!«, hast du wieder gesagt und dabei meine Hand gedrückt. »Sie haben uns noch nicht einmal gefragt«, murmelte ich. Über die Decke zog sich der Schatten eines Astes bis hin zum Einhorn. Es war nur ein Schatten, aber in meinem Kopf wurde er zu einer Ahnung. Nichts würde mehr sein, wie es gewesen war. Egal, wie sehr wir uns bemühten. Plötzlich war die Angst da. Zuerst war sie nicht mehr als ein ganz kleiner Funken, mitten in meinem Bauch. Aber ich konnte fühlen, wie sie mit jedem Atemzug ein kleines Stückchen größer wurde, und alles in mir zog sich zusammen. Ich drückte deine Hand. So fest ich konnte. Als könnte ich die Angst dadurch vertreiben oder wenigstens daran hindern, zu wachsen. »Was ist?« Dein Atem kitzelte mich am Ohr. flüsterte ich, drehte den Kopf und sah in deine Augen. Deine Lippen berührten beim Sprechen meine Nasenspitze. »Zoe, nichts und niemand kann uns trennen – niemals! Egal, was passiert, wir schaffen das. Verstanden?« Ich nickte. »Nächstes Jahr gehen wir sowieso wieder weg!« Ich lehnte meine Stirn gegen deine, atmete deinen Geruch ein, die Mischung aus Nuss und Vanille, die ich niemals wieder vergessen darf, und wollte dir glauben.     Ich wünschte, ich könnte mich erinnern. Ich wünschte, ich könnte begreifen, warum ich den wichtigsten Menschen aus meinem Leben gestrichen habe. Das ergibt keinen Sinn! Maya hat mir alles bedeutet. Wirklich alles! Ich stemme mich von dem weißen Plastikklapptisch hoch, der direkt neben der Nische steht, in der Spülbecken, Miniherd und Minikühlschrank untergebracht sind. Mein Laptop und das aufgeschlagene Skizzenbuch nehmen fast die ganze Tischplatte ein. Platz ist hier sowieso Mangelware. In fünf Schritten bin ich vor dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Raums. Rechts von mir liegt unter dem Fenster eine Matratze auf dem Boden, und links ist die Tür, neben der auf der einen Seite ein Schrank und auf der anderen ein Regal steht. Zwischen Fenster und Tür sind es maximal vier Meter. Das Bad ist auf dem Gang, wir teilen es uns mit den drei weiteren Bewohnern auf diesem Stockwerk. Einer von ihnen duscht immer abends, weswegen man zwischen halb neun und neun nie auf die Toilette gehen kann. Es ist hier fast wie in einem Studentenwohnheim, nur ohne Gemeinschaftsraum und mitten in der Altstadt. Von den anderen habe ich bisher nur Eileen getroffen. Ihre Tür ist gegenüber. Eileen ist ein ganzes Stück älter als Elias, bestimmt Mitte zwanzig oder so. Ich habe keine Ahnung, was sie macht, meistens ist sie in ihrem Zimmer, genau wie ich. Die beiden, die neben dem Treppenhaus wohnen, sind so gut wie nie da. Manchmal höre ich voll aufgedrehten Death Metal aus dem Zimmer nebenan. Ich steige über die Matratze und setze mich auf das Fensterbrett. Unter mir drängen sich Menschen durch die Gasse, und wenn ich die Stirn an die Scheibe drücke und die Häuserfassaden entlangsehe, kann ich vorne auf dem Marktplatz das schwarze Dach der Heiliggeistkirche erkennen. Oh Mann. Das peinliche Cocktailtreffen mit Elias ist erst eineinhalb Wochen her. Es kommt mir vor, als wäre das in einem anderen Leben gewesen. Ich lege eine Hand auf die Scheibe und spüre den Blick von Mayas tiefblauen Augen, sehe die braunen Sprenkel um die Pupillen schimmern. Wusste ich, was meine Zeichnungen bewirken? Stefanie glaubt das. Sie hat Angst vor mir. Lars nicht, er ist viel zu sehr Realist. Aber ganz ausschließen kann er es doch nicht. Wie auch? Warum lag meine Tasche neben ihrem toten Körper? Warum bin ich nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt aufgewacht? Lars würde es niemals zugeben, aber ein Teil von ihm hält es für möglich. Ich könnte Maya getötet haben. Nicht mit der Zeichnung. Mit dem Ast. Bei Lars und Stefanie konnte ich nicht bleiben. Ich musste weg von ihnen, weg von den stummen Vorwürfen in ihren Augen. Die Polizei sucht nach einem Täter. Sie glauben, jemand hat ihr den Ast gegen den Kopf geknallt. Aber was, wenn er einfach vom Baum gefallen ist? Weil ich es gezeichnet habe? Meine Platzwunde scheint ihnen Beweis genug, um nicht tatverdächtig zu sein. Trotzdem darf ich die Stadt nicht länger als vier Tage verlassen und soll mich melden, sobald ich mich an die Tatnacht erinnern kann. Erinnern, klar, das ist eine meiner leichtesten Übungen. Sie wissen nichts von der Zeichnung. Stefanie weiß es, und Lars. Ich lecke meinen Finger ab und schmiere Kreise auf die Scheibe. So etwas haben wir noch nie erlebt. Einen kompletten Gedächtnisverlust ohne hirnorganische Beeinträchtigungen. Sie glauben nicht daran. Sie glauben nicht an das Niemandsland, in dem ich aufgewacht bin, ausgesperrt vor der Mauer, die erst jetzt langsam bröckelt. Nachdem die Erkenntnis eingeschlagen ist: Es gab einmal ein Mädchen, das hieß Maya. Sie war meine Schwester. Ich musste sie vergessen, sonst hätte die Schuld mich aufgefressen. Doch ohne Maya kann es auch mein Leben nicht geben. Genauso, wie es ohne Bäume keinen Wald gibt. Maya und ich, wir sind untrennbar miteinander verbunden. Jetzt weiß ich es wieder, und mit dem Wissen ist die Schuld zurück. Die Tür geht auf, schnell wische ich die Spucke mit dem Ärmel weg und springe vom Fensterbrett. Sobald ich Elias sehe, fängt mein Bauch an zu kribbeln. Ich weiß immer noch nicht genau, wer er ist und warum er mir gleich angeboten hat, bei ihm einzuziehen. Wir kennen uns kaum. Ich gehe die fünf Schritte auf ihn zu und fahre mit den Händen durch seine vom Wind zerzausten Haare. Sie sind weich und riechen herb, ein bisschen wie nasses Holz. »Hey du.« Er schiebt die Tür zu, wischt eine meiner Strähnen nach hinten und lehnt die Stirn gegen meine. Mit geschlossenen Augen spüre ich seine Nähe. »Wie war das Gespräch?«, fragt er, sein Atem riecht nach Kirschbonbon. Statt ihm zu antworten, nehme ich sein Gesicht in beide Hände und küsse ihn. Nicht länger als einen Wimpernschlag, dann will ich mich losmachen, aber er hält mich fest. Beim Blick in seine Augen setzt mein Herz für einen Schlag aus. Regenwolkengrau. Er beugt sich zu mir, und für diesen Moment bin ich sicher: Zu ihm zu ziehen war die richtige Entscheidung. Diesmal dauert der Kuss an. Selbst als seine Lippen sich von meinen lösen, spüre ich ihn noch, so wie der letzte Akkord meines Lieblingslieds in mir weiterschwingt, wenn das Lied längst verklungen ist. In meinem Bauch trippeln tausend kleine Füße durcheinander, und ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. An ihn gedrückt, spüre ich seinen Atem und vergrabe die Hände in seinen Haaren. »Du bist das Beste, was mir passieren konnte«, flüstert er. »Psst.« Ich lege den Finger auf seine Lippen und schiebe mich ein Stück von ihm weg. »Sag das bitte nicht.« »Warum nicht?« Er sieht mich an, als hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. »Ich bringe nur Chaos in dein Leben. Und du weißt überhaupt nicht, wer ich bin.« Er will mir widersprechen, aber ich komme ihm zuvor. »Ich weiß es ja selbst nicht!« »Unsinn. Obwohl du erst ’ne knappe Woche hier wohnst, habe ich das Gefühl, dich schon ewig zu kennen.« Ich drehe mich weg, steige auf die Matratze und schaue durch die Scheibe hinunter in die Gasse. Das Beste, was ihm passieren konnte, klar. Wenn er wüsste, was ich Maya angetan habe, würde er das sicher nicht mehr behaupten. Er stellt sich hinter mich, legt die Hände auf meine Schultern. Ich möchte mich an ihn lehnen. Stattdessen drücke ich die Stirn gegen das Glas, fühle die Kälte auf meinem heißen Gesicht und kneife die Augen zusammen. »Du hast sie nicht umgebracht, Zoe. Hör bitte auf, dir das einzureden!« Ich bringe kein Wort heraus. Egal, was er sagt, ich weiß, ich bin schuld, und ich hatte noch nicht einmal einen Grund. »Du wurdest auch am Kopf verletzt. Du hast verdammtes Glück, dass du noch lebst. Das war irgendein Wahnsinniger. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer versucht, im Neuenheimer Feld ein Mädchen zu vergewaltigen.« Vergewaltigen. Maya wurde nicht vergewaltigt, ihr wurde der Kopf zertrümmert. Da war niemand anderes, ich habe es doch gezeichnet, tausendmal. Auf den Bildern waren immer nur sie und der Schatten, der nur ich gewesen sein kann. Ich beiße mir auf die Lippe, will diese Diskussion nicht mehr führen. Will ihn nicht wieder fragen, ob ich vielleicht einfach nur ausgerutscht bin und mir den Kopf aufgeschlagen habe. Das kurze Zögern, bevor er es jedes Mal verneint, ertrage ich nicht. »Wie war das Gespräch?«, fragt er noch mal, legt die Arme um meinen Bauch und lehnt seinen Kopf gegen meinen. Das Gespräch? Ich brauche einen Augenblick, um zu verstehen, was er meint. »Ganz gut, glaube ich. Sie wollten, dass ich morgen Probe arbeite, aber ich fahr ja weg. Jetzt soll ich am Dienstag...


Heidrun Wagner lebt mit ihrer Familie in Freiburg. Beruflich sucht sie mit Menschen, deren Leben ins Wanken geraten ist, nach neuen Wegen. Diese Einblicke in andere Lebensgeschichten sind sicher ein Grund, warum sie schreibt.
Bisher wurden von ihr Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. Ihre Kurzgeschichte "Das Porträt" kam auf die Shortlist des Walter Kempowski Literaturpreises 2013. Ausführliche Informationen über ihr schriftstellerisches Schaffen finden sich auf ihrem Blog: heidrunsfeder.blogspot.com

Miri, 83 geboren, wuchs in Spanien und Deutschland auf. Sie studierte Kunst & Multimedia an der City University of New York, an welcher sie später auch dozierte. Anschließend machte Miri den Master of Fine Art, Magna cum Laude, in Illustration am Fashion Institute of Technology. 2009 erhielt sie das Peggy Guggenheim Stipendium in Venedig und 2011 den Holly T. Popper Award in New York. Miri illustrierte unter anderem Cover und Poster für die deutsche Musikindustrie, die Welt und den DuMont Buchverlag in Köln wo sie mit ihrem Ehemann momentan auch lebt und arbeitet.



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