Wagner Der glückliche Augenblick
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-446-27056-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beiläufige Prosa
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-446-27056-5
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Unterm Sprachskalpell
Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis »Verse kann ich keine machen«, schreibt Georg Büchner einem Freund ins Album — aber einen Reim macht er sich durchaus auf allerlei, auf Recht und Rebellion, auf Macht und Knechtschaft, auf die Geschichte und das Geschick, das Schicksal, dem keiner von uns entkommen kann — jedenfalls nicht dem, das die Nachwelt für uns verfügt, die noch die kleinsten Details, die Nichtigkeiten einer Biografie in ein stimmiges Gemälde zu überführen versteht. In der Rückschau gibt es ja keinen Zufall, und ich gestehe, dass es auch mir nicht unbedeutend erscheint, ich es im Gegenteil höchst reizvoll finde, dass das Manuskript des Hessischen Landboten, welches Büchner im Sommer 1834 zu Fuß von Gießen nach Butzbach trägt, dann von Butzbach weiter zur Umsturzdruckerei nach Offenbach, ausgerechnet in einer Botanisiertrommel versteckt wird, einem jener zylindrischen Blechgefäße, die der naturinteressierte Sammler für den Transport von Pflanzen nutzte, von Blüten und Stängeln, Früchten und Blättern, dass also die handschriftliche Urfassung dieses Dokuments, das die hessische Obrigkeit später als das gefährlichste und subversivste Flugblatt bezeichnen wird, vielleicht mit einem Borkenkäfer, der sich hineinverirrt hat, oder mit etwas Schleierkraut geschmuggelt wird, dass vielleicht ein Blättchen jenes hartnäckigen Doldenblütlers Aegopodium podagraria an den Worten haftete und während der zehn riskanten Stunden Fußweg von Butzbach nach Offenbach diese beiden Blätter einander im Dunkel einer Botanisiertrommel Gesellschaft leisteten. Welch ein seltsames Wort: Flugblatt. Auch die cumäische Sibylle des Vergil schrieb ja ihre Prophezeiungen auf Palmblätter, doch sorgte bei ihr ein Wind dafür, dass die Blätter wirklich ins Wirbeln gerieten. Büchners Flugblatt aber verteilte sich keineswegs durch die Luft, nicht by airmail, nicht einmal via Brieftaube, sondern wurde mühsam ausgelegt und von Hand zu Hand gereicht. Es verbreitete sich nicht im Fluge, vielmehr mit unendlicher Langsamkeit, wurde geschrieben, umgeschrieben, von Ort zu Ort getragen über Tage und Wochen hinweg, mit einer Langsamkeit, die teils der Vorsicht und teils den technischen Möglichkeiten der Zeit geschuldet war. Nachrichten, auch Flugblätter, bewegten sich mit bewundernswerter Trägheit und Geduld fort, sechs Jahrzehnte vor der drahtlosen Übermittlung elektrischer Impulse durch Marconi, dreißig Jahre bevor Philipp Reis mit dem Satz »Das Pferd frisst keinen Gurkensalat« das Telefon testete, nur drei Jahre bevor der Morsetelegraf erfunden wurde. Der Hessische Landbote geht zu Fuß. Und auch Büchner läuft viel, wie er als Kind schon gelaufen sein muss, um Schmetterlinge zu fangen, die seine ersten Flugblätter, Flugblüten sind, eine Luftpost, die er sorgfältig mit Nadeln aufspießt in den Schmetterlingskästen — für die ihm die Mutter Gardinchen genäht hat —, zweifellos mit dem Wunsch des Forschers, sie dadurch zu verstehen, in ihnen lesen zu können, wie Woyzeck später in Pilzen und Schwämmen zu lesen begehrt und Lenz am Himmel Hieroglyphen zu entziffern glaubt. Lässt sich denn Leben verstehen, indem man den leblosen Leib betrachtet? Dass sich Schädeldecken aufbrechen und Gedanken aus den Hirnfasern zerren ließen — vielleicht glaubt Büchner dies noch, als er den Vater als Heranwachsender ins anatomische Theater von Darmstadt begleitet und als er sich später die Wartezeit zwischen Abitur und Studienbeginn mit anatomischen Studien verkürzt. Er wird die kalten Gesichter betrachtet und sich gefragt haben, welches Leben einst darin steckte, welche Wünsche und Ängste, und vielleicht geht das Bild der Maske, das überall im Werk auftaucht, auf diese Begegnungen mit den Toten zurück, mit ihren erstarrten, maskenhaften Zügen, entstand im anatomischen Theater der Wunsch, hinter die Masken schauen zu können, die später Collot den Widersachern abreißen will, was, wie Danton antwortet, die Gesichter mitgehen lassen dürfte; die Masken, die, so sagt es Dantons Gefährte Camille, doch nur den Blick freigäben auf den »uralten, zahnlosen, unverwüstlichen Schafskopf«. Und man betrachte Valerio, der, aufgefordert, sich zu erkennen zu geben, langsam eine Maske nach der anderen abnimmt: »Wahrhaftig«, sagt er, »ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und blättern«, was wie ein Echo der Sätze klingt, mit denen er etliche Seiten zuvor die Kleinstaaterei beschrieben hatte, das Land, das einer Zwiebel gleiche, »nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts.« Ist da am Ende wirklich nichts? Und nähme man Büchner all die Masken ab, die des Dramatikers, des Aufwieglers, des Melancholikers, des Liebenden und Wissenschaftlers, was fände man, abgesehen von dem, was jeder einzelne in ihm zu finden wünscht? Vielleicht das, was in uns hurt und mordet und lügt und was uns, wie Woyzeck, »von Sinnen bringt«? Büchner indes läuft und läuft. Lenz geht übers Gebirge, Büchner geht durch die Vogesen, den Schwarzwald, den Jura, er zieht von Gießen nach Butzbach nach Offenbach, wandert von Darmstadt nach Straßburg nach Zürich. Wann, fragt man sich, überkommt ihn zum ersten Mal das Gefühl, dass er sich, während er so läuft, über nichts als die allerdünnste Kruste bewegt, unter der ein Loch gähnt, wie ein Bürger in Dantons Tod sagt, dass, in Woyzecks Worten, »hohl, hörst du? Alles hohl da unten« ist? Vielleicht als er erneut der Route des Landboten folgt, eilig, um die Aufrührer von der Verhaftung des Freundes Minnigerode in Kenntnis zu setzen; und sicher auch, als er nach Monaten der Ungewissheit nach Straßburg flieht. Dass er zuvor in nur fünf Wochen Dantons Tod zu Papier gebracht hat, das Gegenteil eines Flugblatts, weil es nicht eindeutig, auffordernd, zielgerichtet ist, sondern voller Skepsis und Zweifel und Melancholie, nicht die Sprache als ein Mittel zum Zweck nutzt, muss auch mit der Erfahrung des Abgründigen unter jedem Schritt zu tun haben, mit der zehrenden Angst vor Verhaftung, dem Gefühl der Schuld am Schicksal der Gefährten. Keine Abwendung von der Politik und der Geschichte, das nicht, sehr wohl aber eine Hinwendung zur Literatur, nicht zu Versen, aber zur Dichtung, wie die Historiendramen Shakespeares es sind, dessen Einfluss ja überall sichtbar ist, in der hamlethaften Schwermut und Zögerlichkeit Dantons, in der Opheliengestalt der Lucile, in den Kutschergesprächen. Keine Antwort, sondern eine kunstvolle Suite von Fragen, nach dem richtigen Handeln, der Angst vor dem Scheitern und dem Tod, nicht zuletzt auch nach jener alten Schuld, die stets zurückkehrt und der man, wie Danton sagt, nie entkommt, weil man ja etwas ist, nicht nichts, weil alles durch das eigene bloße Dasein, durch Handeln oder Nichthandeln Schuld auf sich lädt. Man glaubt, Büchner nicht nur in Danton zu hören, sondern auch in Camille, dem Schreibenden, vielleicht sogar, mit Schaudern, in der kalten und effektiven Rhetorik Robespierres, diesem Tugendsassa und Schreckensmann, einem Tyrannen, der keusche Träume gehabt haben muss — auch wenn Büchner in einem Brief bekennt, »kein Guillotinenmesser« zu sein, sein Robespierre hingegen gerade durch die herumzuckenden Guillotinenmesser seiner Finger unvergesslich wird. Büchner muss in Straßburg monatelang nach Fisch gestunken haben. Er seziert Hechte, Barsche, Maifische, Lachse und Frösche, vor allem aber die Flussbarbe, jenen Karpfenfisch mit den markanten Barteln, der bis zu acht Kilo schwer und einen halben Meter lang wird und den Büchner Tag für Tag frisch von den Fischern an Rhein, Ill und Breusch erwerben konnte. Wirklich, er muss durchdringend nach Barbe gerochen haben, während er die Lenz-Novelle schrieb, vielleicht von der Barbe zu Woyzecks Barbier geriet, muss Fisch verströmt haben, wenn er Minna zwischen Tür und Angel verstohlen einen Verlobtenkuss gab, wenn er am Abend mit den Freunden in der Weinstube zusammenkam, um über Politik zu reden, bei einem Glas Riesling, schlaksig und schmal, wie er uns beschrieben wird, bei ein paar Kirschen oder einem Stück Quiche, kein Gierschlund, aber mit knirschendem, knurrendem Magen nach den langen Stunden des Präparierens. Noch nachts muss ihn eine Fischnote umgeben haben, wenn er dann seine Beobachtungen über das Nervensystem der Barben notierte, das es tagsüber freizulegen galt, präzise, mit Lupe und Skalpell, den Fisch beim Sezieren unter Wasser haltend, kurzsichtig und mit seiner hohen Stirn, und stets mit frischen Exemplaren, weil nur bei diesen »die weiße Farbe der Nervenfasern noch kräftig von der Farbe des Fleischs absticht«. Büchner hatte Erfahrung im Präparieren, war nicht nur Gast des...