Wagner | Die Sandale des Propheten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Wagner Die Sandale des Propheten

Essays
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8270-7508-6
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Essays

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-8270-7508-6
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sollte nicht jeder Schriftsteller Gedichte schreiben, fragt man sich bei der Lektüre dieser Essays und Porträts, und freut sich an der glänzenden Prosa, die so deutlich von der Kunst der Verdichtung, von der sprachlichen Hellhörigkeit des Lyrikers geprägt ist. Mit Eleganz und Belesenheit widmet sich Jan Wagner poetologischen Fragen, zeichnet prägnante und sehr persönliche Kollegenporträts von Whitman und Heym, über Benn und Beckett zu Matthew Sweeney und Simon Armitage. In seiner Lyrik erweist sich Jan Wagner stets als grandioser Geschichtenerzähler; diese Gabe zeigt sich auch in seinen Essays. Der Abstecher in das stinkende Inferno der Hundeschau von Bratislava, die Taschenkontrolle am Flug hafen von Lviv, der Schlagabtausch zwischen Wallace Stevens und Robert Frost - wer würde diese Szenen je wieder vergessen? Um viele wunderbare Anekdoten und Leseanregungen reicher, legt man schließlich die Sandale des Propheten aus den Händen, bereit, für die Lyrik durchs Feuer zu gehen, und durchdrungen von der Gewissheit, dass ein Leben ohne Poesie kein Leben wäre.
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HUNDSTAGE Erst sind es nur wenige, die sich leicht übersehen lassen. Man vergißt sie. Dann aber tauchen sie überall auf, nehmen die Bürgersteige und Straßenecken ein, besetzen Cafés und Plätze, verstellen die Sicht auf die Brunnen und beginnen das Bild der Altstadt zu prägen: hier der wohlbeleibte und in edlen Zwirn gewandete Signore mit seiner weißen Quadriga aus Königspudeln, dort die vor dem Slowakischen Nationalmuseum auf und ab trippelnde Diva mit einer erlesenen Auswahl von Windspielen. Am St.-Martins-Dom treibt ein französisches Pärchen eine Herde von Milchkühen vorbei, nein: es sind Dänische Doggen, schulterhoch. Eine Dame, sie könnte aus Spanien oder Südamerika eingeschwebt sein, feudelt das historische Kopfsteinpflaster vor der Jesuitenkirche mit ihrem Pekinesen, und unterm Michaelertor, gleich neben der historischen Apotheke mit dem roten Krebs im Schild, trifft ein Rudel von russischen Dachshunden auf ein Sextett Rehpinscher aus Österreich. Vor dem Geburtshaus des Komponisten Johann Nepomuk Hummel tummeln sich Chow-Chows und Möpse, und so geht es weiter: Barsois, Neufundländer und Bernhardiner, bis man kaum noch einen Schritt tun kann, ohne über eine Leine oder ein Fell zu stolpern, über Zwergspaniel, Spitze, Rottweiler und Leonberger, bis die Luft Bratislavas nicht länger erfüllt ist vom Klang des Slowakischen, sondern vom freudigen Bellen der Collies und dem herrischen Kläffen der Setter, vom Japsen und Winseln einer Invasion von Vierbeinern. Natürlich hätten uns die Plakate an den Bauzäunen und Laternenpfählen schon vorher auffallen können, bunt genug sind sie. Immerhin nehmen nun auch wir mit etwas Verspätung wahr, daß die Stadt an der Donau an diesem Wochenende keineswegs nur das Poesiefestival Ars Poetica beherbergt; auch für die Dreizehnte Internationale Hundeschau hat Bratislava Pforten und Messehallen geöffnet. Niemand aus unserer Gruppe, die ebenfalls international ist, hat normalerweise mit Hunden zu tun, keinem und keiner käme es an einem normalen Wochenende in seiner Heimatstadt in den Sinn, ein paar freie Stunden der »World Dog Show« zu widmen, doch es bleibt etwas Zeit bis zu unserer nächsten Veranstaltung, es regnet sowieso seit dem frühen Vormittag ununterbrochen, wir sind aufgeräumt und offen genug für eine Schnapsidee – und wer weiß, ob man es nicht später bereuen wird, eine solche Gelegenheit versäumt zu haben. So überqueren wir auf der Neuen Brücke die Donau, gelangen ans südliche Ufer und betreten alsbald mit Aberhunderten von Hundefreunden das Messegelände. Der Andrang ist erschütternd: Ganze Familien, vom Großvater bis zum Neugeborenen im Kinderwagen, haben sich aufgemacht, um dabeisein zu können, ganze Reisegruppen, Busladungen von Connaisseuren stellen sich um Eintrittskarten an, drängen durch die Schranken und Drehkreuze zum weit aufgerissenen Tor der ersten Halle, durch den warmen Regen und den Geruch von Fett und Fleisch, der von all den Freßbuden aufsteigt, die einen dichten Ring um die Zweckgebäude bilden, von den Ständen, an denen alles verkauft wird, was sich grillen, braten oder frittieren läßt. Einen Verkäufer von Hot Dogs, das allerdings fällt auf, würde man vergebens suchen. Als wir durch das Tor treten, sind wir drauf und dran, auf der Stelle wieder umzudrehen – oder andernfalls alle Hoffnung fahren zu lassen: Nicht nur der üble Gestank, dessen Grundkomponenten zwar nicht Pech und Schwefel, dafür aber nasses Fell und Besucherschweiß sein müssen, nicht nur die schier unerträgliche Schwüle und ein geradezu eschatologisches Gewimmel lassen an berühmte Deckenfresken und an Szenen aus Dantes Inferno denken. Als uns nach wenigen Schritten ein Rudel schneeweißer und aufgrund ihrer unschuldigen Farbe noch abscheulicher anzuschauender, wahrhaftig furchteinflößender Dogos Argentinos umspringt, Prachtbestien »mit schmutzgem, fettgem Bart und Augenhöhlen, / Rot angelaufen, dickem Bauch und Kralle«, ahnen wir, welche Art Tier dem Florentiner beim Schreiben seines sechsten Gesangs als Modell zur Verfügung gestanden haben muß: Als Cerberus, der Wurm, uns da entdeckt’, Fletscht er die Zähn und öffnete den Rachen; Kein Glied war da an ihm,...


Wagner, Jan
Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt in Berlin. Bis 2003 war er Mitherausgeber der internationalen Literaturschachtel Die Außenseite des Elementes. Er wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt er den Hölderlin-Preis der Stadt Tübingen und den Kranichsteiner Literaturpreis.



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