E-Book, Deutsch, Band 1, 240 Seiten
Reihe: Wenn du vergisst
Wagner Wenn du vergisst
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95927-030-4
Verlag: Oetinger 34 ein Imprint von Verlag Friedrich Oetinger
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 1, 240 Seiten
Reihe: Wenn du vergisst
ISBN: 978-3-95927-030-4
Verlag: Oetinger 34 ein Imprint von Verlag Friedrich Oetinger
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Stell dir vor, du wachst auf und weißt nicht mehr, wer du bist. Stell dir vor, deine Zeichnungen zeigen Erinnerungssplitter voller Schmerz und Dunkelheit. Stell dir vor, du hast ein Geheimnis, das dein ganzes Leben zerstört hat. Stell dir vor, du könntest mit jemandem noch einmal neu anfangen. Würdest du dich erinnern wollen?
Revolutionär neu und anders:In "Wenn du vergisst" erzählen Text und Bild die Geschichte von Zoe, die sich von einem Tag auf den anderen an nichts mehr erinnern kann, gemeinsam.
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Elias
Aufwachen fühlt sich an wie aufsteigen von ganz tief unten. Der Boden ist hart, drückt gegen meine Schulter. Ich taste. Weiche Halme streichen an meinen Fingern entlang, sie kitzeln, feucht. Ein Windhauch bläst mir ins Gesicht, riecht nach Sommer und nach Regen. Ich will lächeln, aber meine Lippen kleben völlig ausgetrocknet aneinander. Hoffentlich kommt er bald, der Regen. Einmal noch einatmen, und ich öffne die Augen. Über mir der tiefblaue Himmel, so blau wie … Wie … Ich versuche, das Bild zu greifen, kann es nicht einfangen. Tiefblau, nicht hell, nicht dunkel, so wie … Wie … Ich weiß es nicht. Warum weiß ich es nicht? Ich stemme mich hoch. Ein Stechen, das hinter meinen Augen anfängt, jagt mir den Rücken hinunter. Mit beiden Händen drücke ich gegen meinen Kopf, will den Schmerz stoppen, beiße die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Meine Finger tasten, vorsichtig, nur nicht mehr Schmerzen verursachen. Eine Kruste überzieht meine Haare an der Stelle, auf der ich lag. Unter den Haaren ist es feucht. Ich ziehe die Hand wieder vor, die Fingerspitzen schimmern rot. Neben mir eine Bewegung, ich sehe sie im Augenwinkel, fahre herum. Das Stechen zerreißt meinen Kopf, es fühlt sich an, als hacke es mein Hirn in tausend kleine Stücke. Verschwommen erkenne ich einen Vogel, er flattert mit den Flügeln und pickt ins Gras. Seine schwarzen Augen sehen mich an. Ich atme aus, mein Herz hämmert wie verrückt. Ruhig bleiben, nicht durchdrehen. Alles ist gut, es ist nur ein Vogel. Ich werde nicht ruhig. Mir ist kalt, warum ist es so kalt? Ich ziehe die Knie an meinen Körper, halte mich fest. Meine nackten Arme sind wie Eis, Beine und Rücken brennen, sobald ich die Muskeln anspanne. Wo bin ich? Um mich herum sind ein paar Bäume. Ich kann einen Weg ausmachen, er kreuzt den kleinen Trampelpfad, auf dem ich sitze. Dahinter wächst eine Reihe Büsche. Zwischen den Zweigen schimmert Wasser, ein finsterer Strom, der vorbeirauscht. Die Häuser am anderen Ufer liegen im Dunkeln, nur die Dächer leuchten rot im Licht. Ich drehe mich um. Hinter mir endet der Trampelpfad nach wenigen Metern vor großen grauen Betonklötzen. Ich weiß immer noch nicht, wo ich bin. Ich suche nach einem Bild, einer Erinnerung, doch da ist nichts. Meine Gedanken lassen sich nicht fokussieren. Scheiße, was ist passiert? Ich muss hier weg. Das Stechen ignorierend, rapple ich mich hoch. Der Vogel flattert davon. Laufen, irgendwohin laufen, bis ich wieder weiß, wo ich bin. Oder auch nicht, egal, nur weg hier, schnell weg, bevor … Bevor was? Mein Herz hämmert schon wieder oder immer noch, ich weiß es nicht. Es brüllt mich an: Hau ab! Hau endlich ab! Ich stolpere los, auf die Betonklötze zu. Hinter mir Schritte, ich laufe schneller, nicht schnell genug, eine Hand greift nach meinem Arm, ich kann ihr nicht ausweichen, sie packt mich und zieht mich herum. Vor mir ein Typ. »Ma–« »Nein! Nicht!« Ich reiße mich los und renne. Im Laufen drehe ich mich noch einmal zu ihm um und bleibe mit dem Fuß hängen, stürze. Ein Stechen schneidet durch meinen Kopf. Ich stöhne auf, presse die Hand dagegen. Gleißende, weiße Flecken schimmern vor meinen Augen, trotzdem krieche ich rückwärts weiter. Langsam kommen Konturen zurück, ich blinzle, der Typ hat sich keinen Schritt bewegt. Er steht immer noch da und sieht mich an, sieht mich einfach nur an. Alle meine Muskeln sind fluchtbereit, aber ich bleibe sitzen, schaue ihm ins Gesicht. Er hebt die Hände, kommt auf mich zu und geht in die Hocke. »Hey, hey, alles ist gut. Ich tu dir nichts, echt nicht.« Mir fällt die Farbe seiner Augen auf: grau wie der Himmel an einem Regentag, und ich möchte länger in diese Augen sehen. Er fährt mit der Hand über sein Gesicht und schaut auf den Boden. Ich atme aus. Alles ist gut. Alles ist gut. »Wie kommst du hierher? Wo bist du gewesen?«, fragt er und sieht mich wieder an. »Du kennst mich?« Ich suche nach einem Anhaltspunkt, irgendetwas, das mir sagt, wer er ist. Sein Blick wandert über mein Gesicht, er presst die Lippen zusammen, schüttelt den Kopf und dreht sich weg. »Nein«, flüstert er. »Wer bist du?« Er wendet sich mir wieder zu. »Ich? Ich heiße Elias … und du bist?« »Ich … ich bin …« Meine Atmung wird schneller, in meinem Magen ist ein Flimmern. Ich sehe an mir hinunter. Helle Jeans mit Grasflecken an den Knien, knallrote Chucks, so rot wie das klebrige Zeug an meinen Fingerspitzen, eine braune Kruste um die Sohlen und ein gelbes Shirt, bedruckt mit einem weiß eingerahmten blauen Schriftzug: Totally Unique. Nichts von den Klamotten kommt mir bekannt vor. Ich klopfe die Taschen der Jeans ab, greife hinein, da muss doch etwas sein. Ein Zettel vielleicht, ein Handy, oder, besser noch, ein Ausweis mit meinem Bild. Sie sind leer. Der Typ – wie heißt er? Elias? – berührt mich an der Schulter und nimmt die Hand erst wieder weg, als ich ihn ansehe. »Was ist mit dir los?«, fragt er. »Ich, ich … weiß nicht, wer ich bin«, flüstere ich, mein Blick streift über die Bäume. Hat sich dort hinten etwas bewegt? Ich springe auf, mir wird schwarz vor Augen, der Boden kippt unter mir weg. Zwei Hände greifen nach mir, ich schreie und schlage um mich, die Hände bleiben, halten mich, bis der schwarze Vorhang sich hebt und ich ohne Hilfe stehen kann. Ich drehe den Kopf, sehe direkt in Elias’ Gesicht. Wer ist er? »Was …« Er bricht ab, setzt erneut an. »Wie lange bist du schon hier draußen?« Ich antworte nicht, will die Augen schließen und warten, bis es vorbei ist, bis ich mich wieder erinnere. Mein ganzer Körper fängt an zu zittern, ich presse die Arme gegen die Brust. Elias sieht mich an oder durch mich hindurch, er ist wie erstarrt, nimmt mich nicht mehr wahr, und ich weiß nicht, was ich machen soll. »Scheiße, du frierst ja total! Hier.« Er zieht seine Jacke aus und legt sie mir über die Schultern. Sie rutscht, er schiebt sie wieder hoch, ohne mich zu berühren. Mit beiden Händen fährt er sich durch die verstrubbelten kurzen, dunklen Haare, lässt die Arme wieder fallen und sieht mich an. »Krankenhaus, wir sollten ins Krankenhaus gehen. Du bist verletzt.« Ich fasse mir an den Kopf, berühre die Kruste. Mein Magen krampft, ich presse die Hand an den Mund. Nicht brechen, bitte nicht! Jetzt greife ich doch nach Elias’ Arm, er zuckt zusammen, und ich lasse sofort wieder los. »Darf ich mir die Wunde ansehen, bitte?« Vorsichtig streicht er über meine verklebten Haare, hebt sie hoch, tastet. »Wie ist das passiert?« Die Frage prallt ins Leere. Da ist kein Gesicht, kein Geruch, nicht einmal ein Fragment oder ein Name. Nichts. An der Stelle, an der Erinnerungen sein müssten, ist nichts außer diesem schwarzen Loch, das von Sekunde zu Sekunde größer wird. Es löscht mich aus, ist wie ein Virus, der meine Erinnerungen frisst. Bis meine Festplatte tot ist und ich nicht mehr bin als ein Haufen Elektroschrott. Elias berührt mich am Arm. »Alles in Ordnung?« Seine Konturen verschwimmen vor meinen Augen. Ich denke, also bin ich, schießt es mir durch den Kopf. Ich denke, also bin ich. Ich bin. Einatmen … ausatmen … einatmen. Ich bin. Wer? Ich stolpere auf eines der grauen Häuser zu, sehe in ein Fenster. Ein Mädchen mit zerzausten Haaren starrt mir entgegen. Ich zucke zurück, und es verschwindet. Mein Herz rast. Ein Vorhang, hinter der Scheibe ist ein schwarzer Vorhang. Da kann kein Mädchen sein. Vorsichtig schaue ich noch einmal in das Fenster, sehe sie wieder, die Fremde. Sie ist vielleicht sechzehn oder siebzehn. Ich. Ich bin sechzehn oder siebzehn. Elias tritt hinter mich und starrt auf die Spiegelung in der Scheibe. Ich mustere ihre Gesichtszüge. Mein Blick wandert von den weich geschwungenen Lippen über die kurze, gerade Nase hoch zu den dichten Brauen und bleibt bei den Augen hängen. Nichts an diesem Gesicht ist mir vertraut. Die tiefblauen Augen, die mir aus dem Fenster heraus entgegensehen, sind mir fremd. Tiefblau, wie der Himmel über mir. Das bin ich? Mein Magen krampft wieder. »Komm, ich bring dich ins Krankenhaus, okay? Ich muss sowieso dorthin.« Ich stehe einfach da, schaue auf das Mädchen und sehe es doch nicht mehr. Alles in mir wirbelt durcheinander. Elias läuft los in Richtung Hausecke, ich öffne den Mund, will schreien, mich umdrehen und ihm nachrennen und bleibe doch stehen. An der Ecke dreht er wieder um, kommt zurück und legt seinen Arm auf meine Schultern. Vorsichtig schiebt er mich. Ich lasse es zu, lehne den Kopf gegen ihn, bin froh, nicht mehr allein zu sein. Er zögert, bevor er mich hält. Ganz fest hält. Vielleicht sollte ich nicht mit ihm gehen, vielleicht sollte ich so lange laufen, bis ich etwas finde, was ich kenne. Nur, wo soll das sein? Einen Fuß vor den anderen setzend, versuche ich, nicht mehr zu denken. Hinter den Betonklötzen geht der Trampelpfad weiter. Auch hier stehen Bäume. Je weiter wir uns von dem Ort entfernen, an dem ich aufgewacht bin, umso schwerer fällt mir das Laufen. Was, wenn alles, was mich ausmacht, dort noch irgendwo liegt? Wird es, wenn ich jetzt gehe, für immer verloren sein? Wir lassen die Bäume hinter uns und folgen einer festen Straße. Ich bleibe stehen. »Was ist?« Elias sieht mich an, sein Arm rutscht von meiner...