E-Book, Deutsch, Band 3004, 200 Seiten
Reihe: Sherlock Holmes - Neue Fälle (Historische Kriminalromane)
Walter Sherlock Holmes - Neue Fälle 04: Sherlock Holmes und der Werwolf
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-203-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 3004, 200 Seiten
Reihe: Sherlock Holmes - Neue Fälle (Historische Kriminalromane)
ISBN: 978-3-95719-203-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Vorrede von Dr. Watson
Manchmal fahre ich meinen Rollstuhl ans Fenster. Mit der gesunden Hand ziehe ich mich am Griff etwas hoch, stütze mich ein wenig auf die andere, die kranke Hand, und schaue hinunter in den Garten, wo Holmes mit seinen Bienen beschäftigt ist oder die Rosen schneidet. Ja, da unten im Garten steht mein Holmes. Er hat den Kittel an, den er immer trägt, wenn er zu seinen Bienen geht, hat den Hut mit dem Netz auf dem Kopf und raucht seine Gartenpfeife, die aus einem Maiskolben geschnitzt ist. Eben hält er inne und blickt versonnen durch die Büsche in die untergehende glutrote Sonne. Bald wird er zum Abendbrot hereinkommen. Ich höre May{2}, unser schottisches Mädchen, schon den Tisch decken. Es schmerzt mich, wenn ich Holmes so sehe. Vor fünf Jahren, da war ich noch gesund, haben wir seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert, und noch immer ist sein Rücken gerade wie der eines königlichen Gardeoffiziers; zwar ist sein Haar im Laufe der letzten Jahre schneeweiß geworden, aber sein Verstand ist beweglich und frisch geblieben wie vor dreißig Jahren. Ich dagegen verfalle täglich mehr seit diesen Ereignissen in den Sussex Grounds, als der Uranmotor von Professor Moriartys Laufmaschine explodierte und dieses Ungeheuer zerriss, das ein wahnsinniger Araber beschworen hatte. Die Kollegen sagen, meine Erkrankung rühre von der damals freigesetzten Radioaktivität her. Ted Malone wurde ebenfalls krank und starb qualvoll unter unsäglichen Schmerzen. Holmes, der Glückspilz, erschien damals erst später auf der Bildfläche und blieb gesund. Seltsam sind des Glückes Launen …{3} Vor zwei Jahren hat er Babylonisch gelernt, nur weil er das Gilgamesch-Epos im Original lesen wollte. Seit er aus Tibet zurück ist, sind seine Interessen noch breiter gestreut als früher. Er liest enorm viel. Es vergeht wohl kaum eine Woche, in der nicht der Postbote neue Bücher für ihn bringt. Es sind Werke über die merkwürdigsten Themen, ich verstehe kaum mehr die Titel. Im Moment interessiert ihn Russland besonders, wo ein Armenier oder Georgier die Nachfolge dieses kleinen, glatzköpfigen Spitzbartes angetreten hat, dieses Wladimir Lidin oder wie er hieß, den wir einmal kennengelernt haben. Holmes legt diese Bücher dann auf den Beistelltisch neben dem Sessel am Kamin, wo er sich am Abend darüber hermacht. Was ihm wichtig erscheint, liest er mir laut, mit erhobener Stimme vor (vielleicht wird da doch ein wenig sein Alter spürbar, denn er merkt nicht mehr, dass ich nicht mehr huste, weil ich meistens längst eingeschlafen bin; sein Gemurmel macht mich müde, ich höre wohl auch nicht mehr so gut, seit ich krank bin). Um zehn Uhr kommt dann das Mädchen, um mich für die Nacht fertig zu machen. „Gute Nacht, Watson!“, ruft mir Holmes stets hinterher, wenn May mich hinausrollt, aber ich winke meistens ab. Die Nächte sind nicht gut, denn mit der Nacht kommen die Schmerzen, und die rauben mir den Schlaf. Meinem verfallenden Körper hilft auch nicht mehr dieser selbst gebraute Bienenfraß, den Holmes mir immer einflößen will. Er selber löffelt ihn eimerweise, und er bekommt ihm bestens. Holmes braucht fast keinen Schlaf mehr. Gegen zwölf nämlich kommt May noch einmal ins Wohnzimmer, um ihm eine letzte Kanne Tee zu bringen, dann geht sie selber zu Bett. Vor drei Uhr geht Mister Holmes nie schlafen, hat sie mir einmal verraten. Sie weiß das, weil sie selbst um drei Uhr auch nicht schläft, sondern mit dem Chauffeur unseres Nachbarn ganz andere Dinge tut, die ich früher, also bevor ich krank wurde, selber ganz gern getan habe. Früher … Natürlich weiß auch ich, wann Holmes zu Bett geht, denn in einem nächtlich stillen Haus hört sogar ein alter, halb tauber Tattergreis wie ich, wenn sich der Chauffeur auf Strümpfen, die Stiefel in der Hand, durchs Treppenhaus hinaufschleicht, wo May auf dem Flur stehend lauscht, ob jemand etwas gehört hat, dann sachte die Tür hinter sich zuzieht, und wie gleich darauf die Federn des alten Dienstbotenbettes zu ächzen beginnen. Ich frage mich, warum Holmes das Treiben nicht bemerken und ihm ein Ende setzen will, aber ich kann ja nichts sagen; May würde es sicherlich nicht übersetzen, und dann würde sie mir abends beim Waschen vor dem Schlafengehen auch nicht … aber das tut nichts zur Sache. Unsere gute Mrs Hudson, Gott schenke ihr himmlischen Frieden, war da ganz anders. Vor ein paar Jahren konnte ich noch viel lesen. Allein bei seiner Lampe sitzen, Bücher vor sich aufgeschlagen und so Menschen zu Freunden haben, die nicht mehr auf dieser Welt weilen – es konnte nichts Schöneres geben!{4} Die vielen gehaltvollen Bände des William Shakespeare, die Werke von Charles Dickens wie der Martin Chuzzlewitt oder die Pickwick Papers, und, je älter ich wurde, auch die Heilige Schrift – wie viel fand ich doch in diesen alten Büchern, was zu meinem Herzen sprach! Diese neumodischen Schreiber, die sich Dichter zu nennen erfrechen wie der Ire James Joyce mit seinem Ulysses, diesem Roman voller Unflat und Langeweile – die verstehe ich nicht und will sie auch gar nicht mehr verstehen. Ich bin viel zu müde. Aber zurück zu Holmes! Ich höre es, wenn er dann endlich das Buch zuschlägt, das er eben ausgelesen hat, es auf den Tisch fallen lässt (absichtlich polternd, um mich zu ärgern). Ich höre, wie er die Treppe hinaufgeht – wiederum polternd, damit ich nicht einschlafen kann (klar, der Chauffeur muss jetzt einen Moment innehalten, gut kann er das, schon seit sechs Monaten geht das so) –, wie Holmes sich ins Bett fallen lässt, wo er zu meinem Ärger sofort einschläft, um vier Stunden später frohgelaunt zu erwachen und mich beim Frühstück mit seinem blöden Spruch Na, Watson, geht es uns besser? zu ärgern. Es geht mitnichten besser, es geht jeden Tag schlechter. Meine Tage sind gezählt. Ich versuche zu lächeln und antworte etwas Unanständiges. May, die die Einzige ist, die meine Worte noch versteht, übersetzt ihm dann etwas, was ich gar nicht gesagt habe. Danke, Mister Holmes, pflegt sie zu sagen, Dr. Watson fühlt sich heute Morgen schon viel besser. Holmes lächelt nur boshaft vor sich hin, vielleicht versteht er mich doch, ich weiß es nicht. Jeden Morgen treibt er dieses würdelose Spielchen, mir graut schon beim Aufstehen davor. Wenn sie Holmes Tee eingeschenkt hat, gießt May mir Fruchtsaft in meine Schnabeltasse und streicht Butter auf mein Toastbrot, weil ich vor lauter Zittern das Messer nicht mehr richtig halten kann. Nach dem Frühstück holt Holmes das am Vorabend ausgelesene Buch, geht an seine Ordner und macht Notizen, und dann stopft er das Buch irgendwo zwischen meine Bücher in meinen Bücherschränken und vergrößert die Unordnung, die ich zeitlebens an ihm gehasst habe. Und natürlich raucht er dabei Pfeife (damit ich huste und mich ärgere), summt Lieder (was ich nicht ausstehen kann) und erzählt mir zwischendurch ausführlich, was er gerade denkt (es interessiert mich schon lange nicht mehr!). Danach beantwortet er Post. Holmes bekommt nach wie vor viel Post, viel mehr als ich (ich bekomme überhaupt keine mehr). Hin und wieder sind, wie früher, hochherrschaftliche Wappen auf den Umschlägen (deren oftmals erlauchte Absender wie immer mein Geheimnis bleiben müssen). Wenn Holmes im Garten und May auf dem Markt ist, fahre ich manchmal an den Papierkorb, um mir die Umschläge anzusehen oder um die Briefmarken für meine Sammlung abzuschneiden. Die Menschen schreiben aus aller Welt, um meinen Freund um Rat zu fragen oder um Hilfe zu bitten. In den allermeisten Fällen antwortet er mit einer gedruckten Karte, auf der steht, er habe sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen und arbeite nicht mehr als beratender Detektiv. Ganz, ganz selten nimmt er auch einmal einen Fall an, meist in London, wo sein Bruder Mycroft noch immer, trotz seines hohen Alters, manchmal die Regierung selbst ist. Dann fährt Holmes fort und bleibt zwei, drei Tage, manchmal auch länger. Sie brauchen nicht zu weinen, Doktor Watson, tröstet mich May dann immer, Mister Holmes kommt ja bald wieder. Klingeln Sie einfach, wenn Sie etwas brauchen. Ich bin in der Küche und koche das Mittagessen. Ich ärgere mich dann wieder, weil ich ja gar nicht weine, mir tränen nur immer die Augen, und ich sage oft zu spät, dass ich zu John’s auf meinen Leibstuhl möchte. May muss mich dann saubermachen und umziehen. Ständig habe ich Angst, dass May es Holmes bei seiner Rückkehr erzählt und dass er wieder so boshaft lächelt, wie er immer lächelt, wenn ich zu spät sage, dass ich zu John’s muss, oder wenn ich mir Ei auf den Ärmel kleckere. Und dann muss ich mich wieder ärgern. Ich sehne mich täglich mehr nach Mary, meiner armen kleinen Mary. Sie ruft mich, ich höre es ganz deutlich. Ach, dürfte ich doch schon bei ihr sein, wie wohl wäre mir dann, wie sorglos könnte ich mich fühlen … Die Kräfte im gesunden Arm verlassen mich; ich kann gerade noch sehen, wie Holmes die Gartengeräte zusammenräumt, dann muss ich mich zurück in den Rollstuhl fallen lassen. Er quietscht zu laut. Jetzt muss ich schnell in mein Zimmer fahren, es liegt neben unserem Wohnzimmer, des Rollstuhles wegen, wir haben keinen Aufzug. In meinem Zimmer steht die große Blechkiste mit meinen Briefmarken drin und allem, was ich je geschrieben habe. Auch diese hastig hinzugekritzelten Zeilen werde ich darin verstecken. Wenn der Herrgott mich abberuft, soll alles fünfzig Jahre lang in den unterirdischen Tresoren meiner alten Hausbank verwahrt bleiben, aus Diskretion denjenigen...