Wassermann Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7844-8144-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Reihe: Sonderreihe
ISBN: 978-3-7844-8144-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die bedeutendste und erfolgreichste Roman-Biographie des Meisters psychologisch-realistischer Dasrstellung - die atemberaubende Rekonstruktion eines spektakulären Staatsverbrechens: "Jakob Wassermans schönstes Werk."
"Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens" ist eines der Hauptwerke Jakob Wassermanns (1873-1934): eine groß angelegte psychologisch realistische Roman-Biographie, deren Niederschrift jahrelanges Studium der einschlägigen Akten und Literaturen vorausging und die alle zur Zeit der Entstehung (1908) bekannten historischen Details berücksichtigt. Sie gilt noch heute als der wichtigste, gültig gebliebene Beitrag zum Thema Caspar Hauser im Gewand eines historischen Romans.
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Der fremde Jüngling In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab. Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen, und diese wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge, bald klagend, bald freudig, als wenn kein Sinn dahintersteckte und sie nur unverstandene Zeichen seiner Angst oder seiner Lust wären. Auch sein Gang glich dem eines Kindes, das gerade die ersten Schritte erlernt hat: nicht mit der Ferse berührte er zuerst den Boden, sondern trat schwerfällig und vorsichtig mit dem ganzen Fuße auf. Die Nürnberger sind ein neugieriges Volk. Jeden Tag wanderten Hunderte den Burgberg hinauf und erklommen die zweiundneunzig Stufen des finstern alten Turmes, um den Fremdling zu sehen. In die halb verdunkelte Kammer zu treten, wo der Gefangene weilte, war untersagt, und so erblickten ihre dichtgedrängten Scharen von der Schwelle aus das wunderliche Menschenwesen, das in der entferntesten Ecke des Raumes kauerte und meist mit einem kleinen weißen Holzpferdchen spielte, das es zufällig bei den Kindern des Wärters gesehen und das man ihm, gerührt von dem unbeholfenen Stammeln seines Verlangens, geschenkt hatte. Seine Augen schienen das Licht nicht erfassen zu können; er hatte offenbar Furcht vor der Bewegung seines eignen Körpers, und wenn er seine Hände zum Tasten erhob, war es, als ob ihm die Luft dabei einen rätselhaften Widerstand entgegensetzte. „Welch ein armseliges Ding“, sagten die Leute. Viele waren der Ansicht, daß man eine neue Spezies entdeckt habe, eine Art Höhlenmensch etwa, und unter den berichteten Seltsamkeiten war nicht die geringste die, daß der Knabe jede andere Nahrung als Wasser und Brot mit Abscheu zurückwies. Nach und nach wurden die einzelnen Umstände, unter denen der Fremdling aufgetaucht war, allgemein bekannt. Am Pfingstmontag gegen die fünfte Nachmittagsstunde hatte er plötzlich auf dem Unschlittplatz, unweit vom Neuen Tor, gestanden, eine Weile verstört um sich geschaut und war dann dem zufällig des Weges kommenden Schuster Weikmann geradezu in die Arme getaumelt. Seine bebenden Finger wiesen einen Brief mit der Adresse des Rittmeisters Wessenig vor, und da nun einige andere Personen hinzukamen, schleppte man ihn mit ziemlicher Mühe bis zum Haus des Rittmeisters. Dort fiel er erschöpft auf die Stufen, und durch die zerrissenen Stiefel sickerte Blut. Der Rittmeister kam erst um die Dämmerstunde heim, und seine Frau erzählte ihm, daß ein verhungerter und halbvertierter Bursche auf der Streu im Stall schlafe; zugleich übergab sie ihm den Brief, den der Rittmeister, nachdem er das Siegel erbrochen, mit größter Verwunderung einige Male durchlas. Es war ein Schriftstück, ebenso humoristisch in einigen Punkten wie in andern von grausamer Deutlichkeit. Der Rittmeister begab sich in den Stall und ließ den Fremdling aufwecken, was mit vieler Anstrengung zustande gebracht wurde. Die militärisch gemessenen Fragen des Offiziers wurden von dem Knaben nicht oder nur mit sinnlosen Lauten beantwortet, und Herr von Wessenig entschied sich kurzerhand, den Zuläufer auf die Polizeiwachstube bringen zu lassen. Auch dieses Unternehmen war mit Schwierigkeiten verknüpft, denn der Fremdling konnte kaum mehr gehen; Blutspuren bezeichneten seinen Weg; wie ein störrisches Kalb mußte er durch die Straßen gezogen werden, und die von den Feiertagsausflügen heimkehrenden Bürger hatten ihren Spaß an der Sache. „Was gibt’s denn?“ fragten die, welche den ungewohnten Tumult nur aus der Ferne beobachteten. „Ei, sie führen einen betrunkenen Bauern“, lautete der Bescheid. Auf der Wachtstube bemühte sich der Aktuar umsonst, mit dem Häftling ein Verhör anzustellen; er lallte immer wieder dieselben halb blödsinnigen Worte vor sich hin, und Schimpfen und Drohen nutzten nichts. Als einer der Soldaten Licht anzündete, geschah etwas Sonderbares. Der Knabe machte mit dem Oberkörper tanzbärenhaft hüpfende Bewegungen und griff mit den Händen in die Kerzenflamme; aber als er dann die Brandwunde verspürte, fing er so zu weinen an, daß es allen durch Mark und Bein ging. Endlich hatte der Aktuar den Einfall, ihm ein Stück Papier und einen Bleistift vorzuhalten. Danach griff der wunderliche Mensch und malte mit kindisch großen Buchstaben langsam den Namen Caspar Hauser. Hierauf wankte er in eine Ecke, brach förmlich zusammen und fiel in tiefen Schlaf. Weil Caspar Hauser, so wurde der Fremdling von nun an genannt, bei seiner Ankunft in der Stadt bäurisch gekleidet war, nämlich mit einem Frack, von dem die Schöße abgeschnitten waren, einem roten Schlips und großen Schaftstiefeln, glaubte man zuerst, es mit einem Bauernsohn aus der Gegend zu tun zu haben, der auf irgendeine Weise vernachlässigt oder in der Entwicklung verkümmert war. Der erste, der dieser Meinung entschieden widersprach, war der Gefängniswärter auf dem Turm, „So sieht kein Bauer aus“, sagte er und deutete auf das wallende hellbraune Haar seines Häftlings, das etwas nicht ausdrückbar Unberührtes hatte und glänzend war wie das Fell von Tieren, die in Finsternis zu leben gewohnt sind. „Und diese feinen weißen Händchen und diese samtweiche Haut und die dünnen Schläfen und die deutlichen blauen Adern zu beiden Seiten des Halses – wahrhaftig, er gleicht eher einem adligen Fräulein als einem Bauern.“ „Nicht übel bemerkt“, meinte der Stadtgerichtsarzt, der in seinem zu Protokoll gegebenen Gutachten neben diesen Merkmalen die besondere Bildung der Knie und die hornhautlosen Fußsohlen des Gefangenen hervorhob. „So viel ist klar“, hieß es am Schluß, „daß man es hier mit einem Menschen zu tun hat, der nichts von seinesgleichen ahnt, nicht ißt, nicht trinkt, nicht fühlt, nicht spricht wie andre, der nichts von gestern, nichts von morgen weiß, die Zeit nicht begreift, sich selber nicht spürt.“ Die hohe Polizeibehörde ließ sich durch ein solches Urteil nicht aus dem vorgesetzten Gang der Untersuchung lenken; es bestand der Verdacht, daß der Stadtgerichtsarzt durch seinen Freund, den Gymnasialprofessor Daumer, beeinflußt und zu diesen Überschwenglichkeiten verführt worden sei. Der Gefängniswärter Hill wurde beauftragt, den Fremdling insgeheim zu belauern. Er spähte oft durch das verborgene Loch in der Tür, wenn sich der Knabe allein wähnen mußte; aber es war immer derselbe traurige Ernst in den bald schlaffen und beklommenen, bald wie durch den Anblick eines unsichtbaren Furchtgebildes verzerrten und zerrissenen Zügen. Es war auch vergeblich, nachts, wenn er schlief, an sein Lager zu schleichen, hinzuknien, auf den Atem zu horchen und zu warten, ob er verräterische Worte aus dem Innern auf die Lippen trug. Leute, die Übles im Schild führen, pflegen nämlich aus dem Schlaf zu reden, auch schlafen sie eher bei Tag als bei Nacht, wo sie ihren Gedanken und Entwürfen nachhängen; aber diesen umfing der Schlummer, sobald die Sonne sank, und er erwachte, wenn sich der erste Morgenstrahl durch die verschlossenen Läden zwängte. Es konnte Argwohn wecken, daß er jedesmal zusammenzuckte, wenn die Tür seines Gefängnisses geöffnet wurde; wahrscheinlich jedoch gab sich darin nicht die Angst eines schuldbewußten Gemüts zu erkennen, sondern vielmehr eine übermäßige Erregbarkeit der Sinne, denen jeder Laut von außen zu qualvoller Nähe kam. „Unsre Herren auf dem Rathaus werden noch viel Papier beschmieren müssen, wenn sie auf dem Weg weiterkommen wollen“, sagte der gute Hill eines Morgens – es war der dritte Tag der Haft Caspar Hausers – zu Professor Daumer, der den Fremdling besuchen wollte, „ich kenne gewiß alle Schliche des Lumpenvolks, aber wenn der Bursche ein Simulant ist, will ich mich hängen lassen.“ Hill sperrte auf, und Professor Daumer trat in die Kammer. Wie gewöhnlich erschrak der Gefangene, aber als der Ankömmling einmal im Raum war, schien ihn Caspar Hauser nicht mehr zu gewahren und schaute, bezaubert im dumpfen Nichtwissen, still vor sich nieder. Da geschah es, als Hill den Fensterladen geöffnet hatte, daß der Knabe, vielleicht wie nie zuvor in seinem Leben, den gefesselten Blick erhob, ihn vor der schweigenden, gleichmäßigen Furcht wegkehrte, die das Innere seiner Brust beherbergen mochte, und ihn durchs Fenster hinausschweifen ließ in das besonnte Freie, wo Ziegeldach an Ziegeldach sich still und glühendrot auf einem Hintergrund von bläulich dämmernden Wiesen und Wäldern malte. Er streckte seine Hand aus, Überraschung und freudloses Staunen verzogen seine Lippen, zögernd griff er mit dem Arm in das funkelnde Gemälde, als ob er das bunte Durcheinander draußen mit den Fingern anfassen wolle; und als er sich überzeugt hatte, daß es nichts war, etwas Fernes, Trügerisches, Ungreifbares, da verfinsterte sich sein Gesicht, und er wandte sich unwillig und enttäuscht ab. Am selben Nachmittag kam der Bürgermeister Binder in Daumers Wohnung und teilte im Verlauf eines Gesprächs über den Findling mit, daß die Herren vom Stadtmagistrat eher feindlich und ungläubig als wohlwollend gegen diesen gestimmt seien. „Ungläubig?“ entgegnete Daumer verwundert. „In welcher Beziehung ungläubig?“ „Nun ja, man nimmt an, daß der Bursche sein Gaukelspiel mit uns treibt“, versetzte der Bürgermeister. Daumer schüttelte den Kopf. „Welcher Mensch von Verstand oder Geschicklichkeit wird sich aus purer Heuchelei...