E-Book, Deutsch, 352 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 185 mm
Reihe: Ariadne Literaturbibliothek
Wassmo Schritt für Schritt
1. Erstauflage 2018
ISBN: 978-3-86754-864-9
Verlag: Argument Verlag mit Ariadne
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 352 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 185 mm
Reihe: Ariadne Literaturbibliothek
ISBN: 978-3-86754-864-9
Verlag: Argument Verlag mit Ariadne
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In einer Welt, in der Frauen die Arbeit, aber nicht das Wort haben, wächst ein Mädchen heran. Wird Mutter, noch ehe sie mit der Realschule fertig ist. Geht dennoch aufs Gymnasium in die norwegische Küstenstadt, wo es immer nach Fisch riecht. Liest wie besessen. Trifft die Verfasser der Bücher, die sie am meisten beeindrucken, in ihren Träumen und lernt von ihnen. Die große norwegische Erzählerin und Dichterin Herbjørg Wassmo schildert in diesem neuen Roman ihr Leben nicht als Erinnerung, sondern mit der ihr eigenen unter die Haut gehenden Direktheit. Man wird sofort hineingesogen in die Erfahrungen, Ängste, Zweifel und Träume des Mädchens, dann der sehr jungen Mutter und Lehrerin, die darum ringt, das Richtige zu tun. Immer wieder eckt sie an, gerät in Streit - mit sich selbst, ihrem Pflichtgefühl, ihrer Rolle in der Gesellschaft, dem Mann, den Kollegen. Entdeckt die Kraft der Worte. Findet ihren Standpunkt, ihre Stimme. Mal steuert sie mühsam von Konflikt zu Konflikt, mal setzt sie impulsiv Ereignisse in Gang, die ihre Umgebung glauben lassen, ihr Leben fiele ihr leicht. Sie zaudert, doch sie findet sich nicht ab. Ihre Kämpfe sind mitreißend, ihre Träume skurril und voll metaphorischer Wucht ... Ein hypnotischer Roman über das Leben zwischen Nordlicht und Eschenwäldern, über Frauen und Literatur und den Mut zum Widerspruch.
Herbjørg Wassmo, geboren 1942 auf Skogsøya (Norwegen), war zunächst Lehrerin. 1976 kam ihr erster Lyrikband heraus. 1981 erschien ihr Romandebüt 'Deutschenkind', Band 1 der Tora-Trilogie, für die sie 1987 die höchste Auszeichnung des Nordischen Rates erhielt. Seitdem widmet sie sich ganz dem Schreiben. 2002 verfilmte Ole Bornedal ihren Roman 'Das Buch Dina' mit Maria Bonnevie und Gérard Depardieu. Herbjørg Wassmo ist die meistgelesene Schriftstellerin Norwegens. Ihr Werk wurde in 24 Sprachen übersetzt.
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I
Junger Fischer und Abdruck auf Haut Sie gleitet rückwärts dem entgegen, das sie nicht weiß. Der Abendnebel steigt aus Moor und Wasser. Wie fremder Atem. Macht alles unwirklich. Legt sich über die Riemen, als sie rudert. Das Knarren der Ruder wird zu fernem Seufzen. Der Fischer hat ihr das Gesicht zugekehrt und kann die Fahrrinne sehen. Hebt die Hand und zeigt, wohin sie unterwegs sind. Sie korrigiert die Richtung mit leichten Ruderschlägen, sagt aber nichts. Rudern, damit kennt sie sich aus. Er befestigt Köder an den Haken. Zwei sehnige Finger ziehen zappelnde Würmer aus der Erde in der Blechbüchse. Die Büchse hat Löcher im Deckel, damit die Würmer Luft holen können, bis er sie braucht. Arme Würmer im wahrsten Sinne des Wortes. Er nimmt einen nach dem anderen. An der Schnur hängen viele Haken. Die Würmer krümmen sich standhaft um das Metall. Dann wirft er die Schnüre über Bord. Das Gewicht zieht sie nach unten. Bis auf den Grund. Er holt zwei Faden ein und ruckt ab und zu daran. Wie zum Zeitvertreib. Während er an etwas anderes denkt. Davon erzählt, was er sieht. Die Berge. Die Seen dahinter. Alles, was zu seinem väterlichen Erbe gehört. Er hat Pläne mit dem Hof. Wenn er erst älter ist und ihn übernehmen kann. Schafe, Tourismus und Forellenfischen. Tankstelle an der Hauptstraße, es wird eine Goldgrube. Alle brauchen Benzin!, sagt er und lächelt. Die drei Fische liegen unter einem Sack im Boot, als sie an Land gehen. Nehmen wir die nicht mit?, fragt sie. Später, sagt er. Es wird sich herausstellen, dass das eine Art Eigenschaft ist. Was er tun will, tut er sofort. Alles andere ist für später. Im Moment hat er die Realschule hinter sich gebracht und es sind Sommerferien. Lächelt ein trauriges Lächeln mit geschlossenem Mund und redet leise und eifrig. Sie müsste zu der Hütte gehen, die ihre Eltern von seinem Vater gemietet haben. Aber das tut sie nicht. Das Gras vor dem Haus ist feucht vom Tau. Sie geht barfuß und spürt, wie das Wasser zwischen ihren Zehen seufzt. Die Haustür jammert. Die Nacht kommt durch die plötzlich vom Sonnenlicht erfüllten offenen Fenster herein. Sie sitzt auf dem Bett und atmet kühle, frisch gehauene Kiefer ein. Und dieses Seltsame der Haut eines anderen. Eine verstaubte Mundharmonika liegt auf dem Nachttisch. Sie sind zu zweit. Nahe. Er nimmt ihren Zopf in die Hand und sieht ihn an. Scheint ihn zu wiegen. Lässt ihn wieder los und lächelt. Erst ist das Haus ganz still. Sie lauscht auf die Stille. Dann, als ob sie beide darauf gewartet hätten, ertönt von unten der Ruf der lahmen Frau. Beide wissen, dass sie dort ist. Sie ruft nach ihrem Sohn. Er hat keine Augen. Sie weiß, dass sie blau sind, aber sie sind in seinem Kopf verschwunden. Seine Augenlider zittern im Nachtlicht. Sein Mund ist rosa. Seine Haare sind üppig und er hat tiefe Geheimratsecken. Blond, fast grün sind seine Haare. Jetzt steht er auf und schaltet den Plattenspieler ein. Tangomusik. Eine Männerstimme singt auf Deutsch. Dann geht er hinaus in den Flur und die Treppe hinunter. Als er zurückkommt, sagt er, seine Mutter wisse, dass sie da ist, aber es mache nichts. Er dreht die Musik lauter. Sie tanzen dicht aneinandergeschmiegt in dem kleinen Zimmer. Seine lahme Mutter tanzt unter den Bodenbrettern mit. Aber sie ruft nicht mehr. Schwingt sich nur immer mit ihnen im Kreis, denn sie können ja nicht anders und müssen sie dazuholen. Die Frau sitzt auf einem Hocker am Küchentisch, und das Reden fällt ihr schwer. Ihr Gesicht ist ein wenig schief. Dennoch spricht sie. Sie kann nur bei der Tür stehen bleiben und warten, nachdem sie ihr Begehr vorgetragen hat. Einen Eimer Milch kaufen. Setz dich, Mädel, sagt die Ältere. Sie spricht nicht mit dem Akzent der Gegend, sondern mit einem Tonfall, der weiter aus dem Süden stammt. Sie tut wie ihr geheißen. Einsamkeit füllt den Raum wie ein Echo. Zwischen ihnen gibt es eine Neugier. Kleine scharfe Krallen und Wärme. Wie ein Katzenjunges, das auf ihrem Schoß herumkriecht. Sie mag seine Mutter, ohne sie zu kennen. Das Gesicht der Mutter zeigt den Abdruck von Weinen. Aber sie weint nicht. Sie befiehlt, Kaffee aus dem Kessel auf dem Herd einzuschenken. Nimm dir eine Waffel, sagt sie. Die liegen in der Schüssel auf dem Tisch. Die Fliegen sind schon dort. Ihre Mutter hätte einen Deckel daraufgelegt. Oder ein Geschirrtuch darüber. Als sie geht, denkt sie, dass sie noch nie eine solche Begegnung hatte. Dass das hier einzigartig ist. Die Fliegen hat sie fast vergessen. Sie sitzt am Fenster in der Hütte und glaubt, dass er vorbeikommen wird. Bald. Sie weiß, dass er den alten Weg nimmt, wenn er im Wasserfall angeln will. Aber er kommt nicht. Er hat anderes vor. Sie weiß nicht, ob er wichtig für sie ist. Aber er hat in gewisser Weise auf ihrer Haut einen Abdruck hinterlassen. Einen nagelneuen Augenblick. Sie wusste nicht, dass sie für Haut etwas anderes empfinden kann als Abscheu. Sie geht jetzt auf die Realschule. Die Weidenröschen am Hang haben sich bis nach ganz oben hochgeblüht. Sie werden in einer Deutschenbaracke unterrichtet und sie kennt fast alle. Sie sitzen eng zusammengedrängt und verbringen die Freizeit miteinander. Jedenfalls die, die nicht mit dem Bus nach Hause fahren müssen. Er ist derzeit offenbar selten im Ort. Sie sieht ihn zweimal, aber nur aus der Ferne. Und man kann doch nicht hinter jemandem herrufen, dem man nur zweimal begegnet ist. Er ist älter als sie und scheint sich schnell von allem zu entfernen. Die anderen sprechen über ihn, sie beteiligt sich nicht daran. Eigentlich hat sie keine Verwendung für ihn. Wozu sollte das gut sein? Sie hört, dass es seiner Mutter noch schlechter geht. Ab und zu sieht sie deren Gesicht vor sich und hört sie sagen, sie solle sich eine Waffel nehmen. Rasch wird es Oktober. Auf einem Fest im Lokal sieht sie ihn tanzen und lachen. Er hat eine Flasche in der Jackentasche. Die Jacke hängt auf der einen Seite schwer nach unten. Er ist ein anderer als im Sommer. Das liegt sicher an Anzug und Schlips. Er steht die ganze Zeit in einem Kreis von Mädchen. Ist offenbar sehr beliebt und sieht sie nicht. Sie fühlt sich in ihrer Schüchternheit wie in einer Schneewehe. Tanzt mit den Jungen aus ihrer Klasse. Die Musik ist weit weg. Als sie nach Hause geht, spürt sie, wie in ihrer Brust eine riesige Blase wächst. Sie versucht flach zu atmen, damit die Blase nicht birst. Die Blase steigt ihr in den Hals und schmeckt nicht gut. Der Herbst will sie holen, durch ihre Strickjacke hindurch. Rock ’n’ Roll Sie lehnt sich an eine Wand und lässt sich anfassen. Ihre Haut wird unter den Händen eines anderen zur Gänsehaut. Sie bildet winzige muschelartige Hindernisse und will sich schützen. Im Kopf ist ein Radio, das sagt: Hör zu! Spür es! Jetzt ist es so weit. Du sollst spüren, wie es ist. Kümmer dich nicht darum, dass auf dem Dach eine Möwe sitzt. Die klammert sich an den Dachfirst und schreit. Sie legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen, um für sich zu sein. Nicht der Junge macht ihr Angst, sondern dass sie das Gefühl hat, nicht entkommen zu können. Sie hört ihn reden, begreift aber nicht, was er sagt. Er bemerkt, dass sie nur dasteht. Dann lässt er die Hände sinken. Ist schon gut, sagt er. Die Möwe schreit. Sie ist dieselbe wie vorher. Steht nur ruhig da, um für sich selbst wieder deutlich werden zu können. Sonst ist sie für die anderen doch nicht zu sehen. Die anderen sind die, die lachen. Die in Grüppchen zusammenstehen. Die alles wissen, was sie nicht weiß. Zum Beispiel, warum sich der Junge aus dem Sommer nicht bei ihr meldet. Die vielleicht gesehen haben, dass sie zittert, wenn sie neben dem Tisch stehen und etwas aufsagen muss. Die deutschen Beugungen. Präpositionen. Und an der Tafel die langen Reihen aus ungelösten Gleichungen. Die wissen, dass ihre Haut zur Gänsehaut wird, schweißnass. Um dann einzutrocknen. Nicht gut zu riechen. Einige sammeln Beweise. Prüfen. Schreiben Zeugnisse. Leumundsatteste. Diskutieren Bewerbungen auf einen Studienplatz. Andere sitzen hinter dem Küchenvorhang und wissen alles über sie, was sie selbst noch nicht durchdenken konnte. Sie sind froh oder wütend, aber niemals leer. Sie haben das Recht zu urteilen. Sogar über das, was sie nicht wissen, aber zu ahnen glauben. Der Vater ist noch immer auf und sitzt mit seinem Grinsen in der Küche. Sie geht nicht hinein, sondern schließt die Tür, ohne etwas zu sagen und ohne das Butterbrot zu holen, das sie braucht. Sie trinkt einfach nur am Hahn über dem Waschbecken im Badezimmer. Die Tür hat einen soliden Eisenschlüssel, den der Dichter einmal umgedreht hat. Es riecht nach feuchtem Handtuch und altem Dampf. Die rot angestrichene Badewanne mit den Löwenfüßen und dem patinagrünen Kupferkessel sieht fremd aus. Kalte Asche liegt auf dem Brett unter dem Ofen. Einst saß der Dichter in der Badewanne, denkt sie. Der Dichter hatte auch einen Körper. Das ist ein seltsamer Gedanke. Jetzt gehört das alles der Gemeinde. Und der Dichter ist tot. Er ist nur noch Schande und Verrat am Vaterland. Der Vater bezahlt die Miete, damit sie dort wohnen können. Der Vater ist überall in den Zimmern. Auch nachts. Der Winter ist nasse kalte Wolle. Und Lachen auf der zweijährigen privaten Realschule. Sie weiß nicht immer, worüber sie lacht. Das macht nichts. Das Wichtigste ist, dass sie lacht. Sie tanzt Rock ’n’ Roll mit einem, der älter ist als sie und Elektriker werden will. Man kann darüber lachen, was er sagt. Er singt und zitiert...