Watters | „Crazy like us“ | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Watters „Crazy like us“

Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-87159-400-7
Verlag: dgvt-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-87159-400-7
Verlag: dgvt-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In den letzten Jahrzehnten haben die Amerikaner die Welt mit ihren Rezepten zur Behandlung psychischer Erkrankungen überschwemmt. Watters beschreibt, wie ihre therapeutische Mission den Rest der Welt verrückt macht. Auf seinen Reisen beobachtet er, wie traditionelle Ausdrucksweisen von Verrücktheit durch westliche Vorstellungen ersetzt werden.

Der renommierte Journalist und Autor Ethan Watters schreibt regelmäßig für das New York Times Magazine, Discover, Men's Journal und Wired. Weitere Bücher von ihm sind Urban Tribes, eine Untersuchung der Lebensweisen wohlhabender unverheirateter Paare, sowie Making Monsters: False Memories, Psychotherapy, and Sexual Hysteria (gemeinsam mit Richard Ofshe). Er lebt mit seiner Familie in San Francisco.

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Heiner Keupp Ein Déjà-vu-Erlebnis Bei Wikipedia kann man nachlesen, dass Déjà-vu „ein psychologisches Phänomen (bezeichnet), das sich in dem Gefühl äußert, eine neue Situation schon einmal erlebt, gesehen, aber nicht geträumt zu haben“. Als ich in das Buch Crazy like us von Ethan Watters hineinlas, hatte ich genau dieses Gefühl: Da erinnert mich ein prominenter Wissenschaftsautor an zurückliegende Debatten und Diskurse, die leidenschaftlich geführt wurden, doch an die sich heute kaum mehr jemand erinnert und von denen die NachwuchspsychologInnen und -psychotherapeutInnen noch nie etwas gehört haben. Die Debatte um Medikalisierung, Klinifizierung oder Psychiatrisierung hat in den 1970er und 80er Jahre die Reformbewegung in der psychosozialen Szene geprägt. Es war ein Aufbruch zu einem neuen Verständnis psychischen Leids und es war ein Ausbruch aus dem paradigmatischen Gehäuse des „medizinischen Modells“. Dieses Modell wurde als ein „stahlhartes Gehäuse“ im Sinne Max Webers verstanden, das irritierendes und verstörendes Erleben und Verhalten biomedizinisch zu erklären versuchte und damit aus dem Lebens- und Erlebniszusammenhang herauslöste. Weil aber die Evidenzen, dass die Belastungen und Verstörungen, die Menschen erleben und erleiden, mit den Anforderungen und Herausforderungen der kapitalistischen Gesellschaft ursächlich verknüpft sind, uns damals so klar erschienen, mussten alternative Sichtweisen entwickelt werden. Und wir waren davon überzeugt, dass ein Krankheitsmodell, das solche Zusammenhänge nicht thematisiert, eine Komplizenschaft mit einem Gesellschaftssystem eingeht, das Menschen ausbeutet und entfremdende Lebensverhältnisse aufzwingt. Diese professionelle Komplizenschaft mit dem spätkapitalistischen System von Ausbeutung und Herrschaft sollte radikal aufgekündigt werden. Es bestand die gemeinsame Überzeugung, dass eine repressive und auf Klassenunterschieden beruhende Gesellschaft Menschen psychisch und gesundheitlich verkrüppeln muss. In den sozialepidemiologischen Befunden haben wir einen Beleg für das gesehen, was wir als „Klassengesellschaft“ zu benennen gelernt hatten. Am meisten hat mich damals die Tatsache empört, dass die Bevölkerungsgruppen, die per Saldo die höchsten Belastungen mit psychischem Leid erfahren, die schlechtesten Chancen auf adäquate Hilfeformen hatten. Diese Befunde zeigten in harten Zahlen das auf, was Christian von Ferber (1971) die „gesundheitspolitische Hypothek der Klassengesellschaft“ genannt hat. Nur einbettet in diesen intensiven fachlichen und politischen Kampf um eine angemessene Sicht auf psychosoziales Leid wird verständlich, wie leidenschaftlich die Kontroverse um das „medizinische Modell“ geführt wurde. Eröffnet wurde diese Kontroverse durch einen Aufsatz, den Thomas S. Szasz 1960 im wichtigen Fachorgan der APA (American Psychological Association), dem American Psychologist, publizierte. Szasz, psychoanalytisch ausgebildeter Psychiater an der State University of New York, eröffnete eine intensive Diskussion um das bislang vorherrschende Krankheitsmodell in der Psychopathologie. Seine Kritik hatte eine doppelte Zielrichtung: Einerseits bestritt er die Berechtigung, ein biomedizinisches Modell einfach auf das menschliche Handeln zu übertragen. Das sei erkenntnistheoretisch nicht vertretbar, weil es das Handeln biologistisch verkürze, und es sei ethisch fragwürdig, weil es dem Subjekt die Handlungsfreiheit absprechen würde. Andererseits machte er das „medizinische Modell“ für eine höchst fragwürdige gesellschaftliche Rolle der Psychiatrie verantwortlich, die die Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche, die seiner Auffassung nach das Leiden der Menschen erzeugten, verhindern würde. Dadurch übernehme sie die Funktion eines „sozialen Tranquilizers“, der verhindere, dass Konflikte bearbeitet und ausgetragen werden, und leiste insofern einen problematischen Beitrag zur Sicherung des gesellschaftlichen Status quo. Diese Doppelbotschaft, erkenntnistheoretisch und herrschaftskritisch zugleich, hat Szasz in den 60er und 70er Jahren eine große Resonanz verschafft, zumal er ein Buch nach dem anderen schrieb, die alle seine ursprüngliche Kernkritik weiter ausformulieren sollten.1   1)Anschlussfähig waren seine Argumente sowohl für die sich entwickelnde Klinische Psychologie und vor allem die expansiv auftretende Verhaltenstherapie, die sich ein eigenständiges Fachprofil in klarer Absetzung vom „medizinischen Modell“ erhoffte (exemplarisch sei das Lehrbuch von Ullman & Krasner aus dem Jahr 1969 genannt). Wenn man sich von einer naturgeschichtlich gedachten Biogenese psychischen Leids mit guten Argumenten absetzen kann, haben psycho- und soziogenetische Zugänge eine große Durchsetzungschance. Die deutsche Übersetzung des Szasz-Klassikers in dem von mir herausgegebenen Sammelband „Krankheitsmythos der Psychopathologie“ (Keupp, 1972) ist auch in der deutschen Fachliteratur zur Klinischen Psychologie fast schon rituell zitiert worden. Die Klinische Psychologie hat ihn zur Festigung der eigenen psychologischen Fachidentität sehr gut aufnehmen können. Je deutlicher sich die Möglichkeit abzeichnete, ein psychosoziales Störungsmodell als Alternative zu entwickeln, desto selbstbewusster ist auch die kritische Differenz zum „medizinischen Modell“ formuliert worden. Gestützt auf eine etwas naive Rezeption des Paradigma-Konzeptes des Wissenschaftsforschers Thomas S. Kuhn wurde auch die scheinbare Unvereinbarkeit unterschiedlicher Sichtweisen auf psychisches Leiden betont, um den eigenen Weg zu schützen oder vielleicht auch zu immunisieren (Keupp, 1974). Allerdings entstand nicht nur ein Alternativkandidat, sondern aus den unterschiedlichen psychologischen Strömungen und der Soziologie sind mehrere Modellvarianten entwickelt worden, die entsprechend auch in der Lehrbuchliteratur nebeneinander zur Darstellung kamen. So werden bei Price (1978) beispielsweise neben der Krankheitsperspektive auch die psychoanalytische, die lerntheoretische, die soziale und die humanistische Perspektive ausführlich dargestellt und schon im Titel des Buches wird der Konflikt zwischen den Perspektiven genannt. Es waren Konflikte, die nicht selten den Charakter von Glaubenskriegen annahmen,2 und in wechselseitig sich abschottenden „Schulen“ konnte die jeweils bestimmende Sicht in einem sich selbst bestärkenden Mechanismus gefestigt werden. 2)Einem Wissenschaftsverständnis, das auf ontologische Wahrheiten ausgerichtet war – und so wurden auch die Krankheitseinheiten der Psychopathologie verstanden –, wird von Szasz ein konstruktivistisches Wissenschaftsmodell entgegengesetzt. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit war vor allem durch die Soziologie (Berger & Luckmann, 1969) sowie durch die Philosophie (Searle, 2011) zu einer wichtigen Analyseperspektive geworden. Wir haben diese Perspektive geschätzt, weil sie die Möglichkeit eröffnet hat, starre Welt- und Fachinterpretationen zu dekonstruieren und die Frage zu stellen, welche soziokulturellen Kontextbedingungen die Bedeutungen aufladen, die wir Subjekten und ihrer Welt zuschreiben. Zugleich enthält diese Perspektive auch die Möglichkeit, alternative Bedeutungszuschreibungen zu entwickeln und für deren Geltung zu kämpfen. Das ließ sich an dem Kampf der schwul-lesbischen Community exemplarisch beobachten, die erfolgreich dafür kämpfte, dass homosexuelles Begehren aus dem pathologischen Abseits herausgeholt werden konnte. 3)Die Kritik am medizinischen Modell wurde auch durch Forschungsbefunde aus der transkulturellen Psychiatrie und der Ethnopsychoanalyse unterstützt. In der deutschen Debatte war hier vor allem Erich Wulff (1969) von überragender Bedeutung, der als junger deutscher Psychiater nach Vietnam ging und dort die Erfahrung machte, dass die Kernsymptome etwa der Schizophrenie, wie er sie in seiner westdeutschen Sozialisation zu diagnostizieren gelernt hatte, in Vietnam keineswegs genauso verstanden und eingeordneten wurden. Die europäische Sicht des Individuums, das eine klare und abgegrenzte Ichvorstellung unterstellt, führt dazu, Personen, die diese Vorstellung nicht entwickelt haben, als psychisch krank zu benennen. In Vietnam hingegen werden Menschen, die sich durch ihre Individualitätskonstruktionen aus dem kulturellen Kollektiv herauslösen, als psychisch krank eingeordnet. Erich Wulff konnte zeigen, wie stark die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen die Vorstellungen von Normalität und Devianz bestimmen. Er ermöglichte damit eine intellektuelle Alternativsicht zu dem Mainstream seiner eigenen Profession, die von der universellen Gültigkeit ihrer Krankheitseinheiten ausging und sich dabei gerne auf Emil Kraepelin beruft, der als der Begründer der modernen psychiatrischen Nosologie gilt. Dieser war 1904 in Java und kam mit der Überzeugung zurück, die „Dementia praecox“, die er später Schizophrenie nannte, sei in Indonesien nicht anders als in Europa. 4)Einer herrschaftskritischen Sichtweise der Psychiatrie und auch der traditionellen Klinischen Psychologie lieferte der Text von Szasz insofern eine wichtige Steilvorlage, als er ein theoretisches Modell nicht nur als kognitiv-wissenschaftliche Figur kritisierte, sondern auch dessen gesellschaftlich-politischen Konsequenzen thematisierte. Dies blieb zwar im Text noch relativ allgemein, doch es lieferte einen guten Anschluss für die Analyse der problematischen institutionellen Folgen einer biologistischen Sicht auf die Subjekte. So wurde es möglich, die institutionellen Muster „totaler Institutionen“ (Goffman, 1972) und ihre...


Der renommierte Journalist und Autor Ethan Watters schreibt regelmäßig für das New York Times Magazine, Discover, Men’s Journal und Wired. Weitere Bücher von ihm sind Urban Tribes, eine Untersuchung der Lebensweisen wohlhabender unverheirateter Paare, sowie Making Monsters: False Memories, Psychotherapy, and Sexual Hysteria (gemeinsam mit Richard Ofshe). Er lebt mit seiner Familie in San Francisco.



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