E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Weber / Berthold Am Lebensende zu sich selbst finden
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-456-75972-2
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Methoden zur Stärkung des Selbstzugangs von Schwerstkranken, Angehörigen und Begleitern
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-456-75972-2
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Schwerstkranke Menschen und ihre Angehörigen, Psycholog*innen, Pflegende und Ärzte.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Beratungspsychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Palliativpflege, Sterbebegleitung, Hospiz
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Palliativmedizin
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
Weitere Infos & Material
Das Lebensende als Herausforderung für Schwerstkranke, Angehörige und Begleiter
Mit einer schweren Erkrankung treten große Veränderungen ins Leben. Sowohl aufseiten der Betroffenen als auch aufseiten deren Familien und Angehörigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn abzusehen ist, dass die Erkrankung zu einem vorzeitigen Tod des Patienten führt. Denn oft gehen solche Erkrankungsverläufe mit einem vielschichtigen Symptomgeschehen einher. Sterbende Menschen leiden häufig an körperlich stärksten Schmerzen, Luftnot, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Unruhe und Erschöpfung (Fatigue). Dazu kommen intensive und schnell wechselnde Gefühlslagen aus tiefer Betrübtheit, Traurigkeit, Verzweiflung, Furcht, Angst, Unsicherheit und Einsamkeit (BLOCK, 2006). Erkrankungen mit infauster Prognose, das heißt, ohne Aussicht auf Heilung, finden sich bei unterschiedlichsten Grunderkrankungen wie etwa Krebserkrankungen, Erkrankungen der Lunge (z.B. COPD) oder neurologischen Erkrankungen (z.B. ALS). Die Erkrankungsverläufe gestalten sich je nach Diagnose ganz unterschiedlich. Dazu kommen vielfältige Themen auf psychosozialer und spiritueller Ebene. Daraus ergibt sich, dass schwerstkranke und sterbende Menschen hochangepasst und engmaschig behandelt und begleitet werden müssen. Im Vordergrund steht dabei nicht die Heilung der Erkrankung, sondern die Linderung von Leiden. Die Versorgung, die sich auf dieses Ziel spezialisiert hat, heißt Palliative Care beziehungsweise Palliativversorgung. In einem engeren Sinne meint Palliativversorgung vor allem die spezialisierte Palliativversorgung, die bei einem besonders intensiven Versorgungsanspruch zur Anwendung kommt. Palliative Care begegnet den vielfältigen Herausforderungen der neuen Lebenssituation mit einem möglichst multiprofessionell zusammengesetzten Team. Im besten Fall können verschiedene Berufsgruppen wie Pflege, Medizin, Psychologie und Seelsorge bei Bedarf kurzfristig hinzugezogen werden. Im Jahr 2016 fielen von insgesamt 910.000 in Deutschland verstorbenen Menschen 75.000 Menschen in diese Versorgungsgruppe. Dabei verteilen sich Palliativpatienten nicht nur auf Palliativstationen und Hospize. 2016 verstarben allein 25.000 Patienten zu Hause im Rahmen der sogenannten spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV), auf die es in Deutschland seit 2007 einen gesetzlichen Anspruch gibt (BERTHOLD, GRAMM, GASPAR & SIBELIUS, 2017). Dass es möglich ist, mithilfe einer so intensiven Versorgung im häuslichen Umfeld zu bleiben, ist sicherlich ein Fortschritt der Gesundheitsversorgung. In vielen Fällen entspricht dies dem Wunsch des erkrankten Menschen. Gleichwohl werden Sterbende, und vor allem ihre Angehörigen, zu Hause vor große Aufgaben gestellt: In kürzester Zeit muss eine hochaufwändige Versorgung in den Alltag integriert werden. Neben dem eigenen Gefühlschaos aus Sorge, Angst und Trauer übernehmen Familienmitglieder nahezu alle anfallenden pflegerischen, sozialen und koordinativen Aufgaben. Oft trifft dies die Angehörigen völlig unvorbereitet, denn die Versorgung Schwerstkranker wurde seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr in den geschützten Rahmen klinischer Einrichtungen verlegt (GRONEMEYER, 2007). Seitdem wird die häusliche Versorgung von Sterbenden nicht mehr von Generation zu Generation weitervermittelt, sodass Familien weder thematisch noch in ihrer Struktur auf die Betreuung eines schwerstkranken Familienmitglieds vorbereitet sind. Angehörige nehmen eine äußerst spannungsreiche Doppelrolle ein. Sie sind care-givers und care-recipients, Hilfegebende und selbst Hilfebedürftige zugleich (BRANDSTÄTTER & FISCHINGER, 2012). Studien konnten zeigen, dass pflegende Familienmitglieder psychisch oft stärker belastet sind als die Erkrankten selbst (PREISLER & GOERLING, 2016). Auch auf professioneller Seite werden in Palliative Care nicht selten innere Grenzen erreicht. Denn die Begleitenden sind mit äußerst fordernden Themen konfrontiert und tragen zugleich eine hohe Entscheidungsverantwortung. Aufgrund falsch verstandener Nähe kommt es vor, dass mancher Mitarbeiter unter einem sogenannten „Compassion-Burn-out“ leidet. Andere wiederum, die sich – vielleicht aus einem Schutzbedürfnis heraus – zu sehr abgrenzen, empfinden Hilflosigkeit und Schwingungsarmut („Ich komme nicht richtig an den Patienten heran“). (vgl. Kapitel: Professionelle Nähe, Seite 133) „Ich bin immer so betrübt in letzter Zeit“, klagt eine Krebspatientin ihrer Palliativpsychologin nach monatelangem und entbehrungsreichem Kampf. „Da würde ich gern mal nachhaken und Sie etwas fragen: Welche Gefühlslage würden Sie in Ihrer Situation denn für angemessen halten?“, entgegnet die Psychologin. Manchmal sind die unliebsamen Gefühle die „richtigen“. Weil sie zur Situation passen. Es geht niemals darum, Angst, Wut oder Traurigkeit einfach wegzuwischen. Gefühle wollen und müssen sich ausdrücken dürfen. Sie wollen vor allem gehört werden – von einem einfühlsamen Gegenüber. Nun gibt es bei palliativen Erkrankungsverläufen denkbar viele Gründe für negative Gefühlslagen. Meist sind die Auslöser Themen, die sich drei Bereichen zuordnen lassen. Diese Themenbereiche lauten Bewältigung, Entscheidung und Vermittlung (BERTHOLD & GRAMM, 2019). Im Themenbereich Bewältigung geht es darum, dass Patienten und Angehörige „mit etwas konfrontiert sind, mit dem sie umgehen müssen“. Dies können äußere, aber auch innere Ereignisse oder Widerfahrnisse sein, die jeweils danach drängen, bewältigt zu werden – oder ab einem gewissen Punkt: akzeptiert zu werden. Im Themenbereich Entscheidung stehen Entscheidungen bevor, die aktiv getroffen werden müssen. Bei schwerer Erkrankung sind Entscheidungen oft weichenstellend und folgenreich. Manches Mal sind sie auch unumkehrbar. Besonders herausfordernd werden Entscheidungen auch dann, wenn eine Familie in der Verantwortung steht, stellvertretend für ihren Angehörigen entscheiden zu müssen. Der dritte Themenbereich ist die Vermittlung. Hierunter fallen alle Themen, in denen es darum geht, dass Konflikte zwischen Menschen bestehen oder dass Kommunikation nicht gelingt. Gelingende Kommunikation ist am Lebensende keineswegs selbstverständlich. Missverständnisse können in der Kommunikation zwischen den Betroffenen und professionellen Begleitpersonen auftreten, aber auch in der Kommunikation zwischen Sterbenden und Angehörigen selbst. Am Lebensende gibt es also eine Vielzahl sehr realer Belastungen und Bedrohungen. Dennoch sollte genau hingeschaut werden! Sind es gut nachvollziehbare Ängste und Sorgen, die Patienten und Angehörige zu einer „sinnvollen“ vorübergehenden Alarmbereitschaft verhelfen? Etwa wenn ein Patient berichtet, er leide unter schlaflosen Nächten, da eine schwierige Operation kurz bevorsteht. Oder werden Patienten und Angehörige zu Hauptdarstellern eines Horrorfilms ohne die Möglichkeit, den Kinosaal zu verlassen? Schwerstkranke Menschen und ihre Angehörigen kennen die Situation nur allzu gut: Sie rutschen ab in Gefühlszustände, die sie nicht mehr beeinflussen können. Patienten bestätigen auf Rückfragen oft, dass sie sich wie in einem schlechten Film fühlen, aus dem sie aus eigenen Kräften nicht mehr aussteigen können. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von „Regression“. Man schrumpft auf einen Zustand der Hilflosigkeit zusammen. Das hat damit zu tun, dass Menschen während ihrer Erkrankung emotional labiler sind als in der Zeit, als sie gesund waren. Ähnlich geht es ihren Angehörigen. Die psychische Spannkraft ist reduziert. So genügen oft geringste Auslöser, sogenannte „Trigger“, die bei den Betroffenen direkt auf der Gefühlsebene wirken und ein inneres Szenario des Schreckens auslösen. Eine Palliativpatientin mit starker Luftnot berichtete einmal davon, dass sie immer dann in „ihr Loch“ falle, wenn sie ihrem Hund dabei zuschaue, wie dieser sich in sein Körbchen begebe, um sich eng in seine geliebte Hundedecke einzuwickeln. Das bloße Beobachten des Sich-Einwickelns löste bei der Patientin starke Beklemmungen aus. Wenig Sinn macht es, in solchen Fällen zu empfehlen: „Sieh’ doch nicht alles so negativ!“ Denn das Denken und die Aufmerksamkeit sind nicht ohne Weiteres dem Willen unterworfen (KUHL, 2001). In gewissen Situationen sind diese Prozesse nicht mehr willentlich steuerbar, sondern folgen ihrer eigenen Logik. Es braucht hier also andere Strategien. Richtig ist allerdings, dass die Gefühlslage einen großen Einfluss auf Aufmerksamkeits- und Denkprozesse hat – und diese wiederum auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit: „In einem negativen Befindenszustand […], z.B. bedingt durch intensives Bedrohungsempfinden, erlebt sich der Patient insgesamt als verändert, achtet anders auf seine...