E-Book, Deutsch, 126 Seiten
Weber / Brendel / Geißlinger Das rote Tuch
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-949773-00-6
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Eine phantastische Reise durch die Zeit
E-Book, Deutsch, 126 Seiten
ISBN: 978-3-949773-00-6
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Das rote Tuch ist Mordwerkzeug und Talisman, es reizt den Stier im Manne und stimmt den Teufel milde: In zehn Epen im Miniformat erzählen neun Autorinnen und Autoren ihre Sicht auf dieses geheimnisvolle Stück Stoff und reichen sich den Staffelstab durch Zeit und Raum weiter. Die Reise führt vom minoischen Kreta zu Goldsuchern in Brasilien und auf einen mittelalterlichen Scheiterhaufen, macht einen Abstecher in ein 19. Jahrhundert, das es so nie gab, begleitet Drohnenpiloten bei einem brutalen Spiel und endet im Weltraum mit der Frage: »Ist morgen auch noch ein Tag?«
Die Autorinnen-Gruppe KommPlot sind Esther Brendel, Charlotte Fondraz, Esther Geißlinger, Kristin Weber und Claudia Zentgraf. Sie sorgen für Lesevergnügen in den Bereichen Belletristik, Fantasy, Science-Fiction, Jugendbuch, Kinderbuch und Historischer Roman. In ihrem Anthologie »Das rote Tuch« hat die Gruppe vier weitere befreundet Autorinnen und Autoren eingeladen: Lisa Feßler, D. O. Hasselmann, Heike Knauber und Kim Skott, die sich mit ihren Geschichten beteiligen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
minotaurus
Von Charlotte Fondraz Vor 3600 Jahren auf dem Minoischen Meer vor Kreta Rolfr streckt den Kopf aus der Ladeluke des Frachtschiffes. Die gleißenden Strahlen der Sonne blenden ihn, er kneift die Augen zu und zieht sich hoch an Deck. Seit er dem ägyptischen Kapitän gehört, ist er kaum ans Tageslicht gekommen. Der Dolmetscher, ein zahnloser Seemann, sagt, der Kapitän will nicht, dass sich Rolfrs Haut bräunt. Sie soll möglichst hell und makellos sein. Deswegen peitscht der Kapitän ihn auch nicht aus, wie es sein vorheriger Besitzer getan hat, wenn er sich wehrte, sondern flößt ihm einen bitterscharfen Trunk ein, der ihn benommen macht. Mit geschlossenen Augen setzt sich Rolfr auf die Decksplanken. Die Schläge der Trommel, die den Ruderern den Takt vorgibt, klingen heller als unten im Laderaum. Die Luft riecht frisch, der Wind streicht Rolfr sanft über die Haut. Vor einem halben Monat hat der Kapitän ihn an Bord gebracht. Es ist Nacht gewesen, daher kennt er vom Schiff nur den dunklen Laderaum, der den Rumpf einnimmt und nach oben durch die Decksplanken abgeschlossen ist. Nur wenn ein Seemann Essen bringt oder den Latrinen-Eimer leert, fällt Licht hinein. Der Laderaum ist mit Menschen, Tieren und Waren vollgestopft. Er sieht aus wie die Laderäume aller großen Frachter in den Häfen, die Rolfr mit Vater angefahren hat. Aber der Dolmetscher behauptet, dass das Segel dieses Schiffes blutrot und der Mast golden ist. Rolfr bedeckt seine Augen zum Schutz vor der grellen Sonne mit den Händen und späht vorsichtig zwischen den Fingern hindurch. Der Mast spiegelt das Sonnenlicht, sodass er kaum hinsehen kann. Er ist tatsächlich vergoldet. Und ein leuchtend rotes Segel bläht sich im Wind. Ein solch großes Tuch zu färben, muss viel Silber gekostet haben. Ein Aufbau auf dem Deck ist mit mannshohen Federn bemalt. Normalerweise sehen Frachtschiffe eher unscheinbar aus. Doch dieses hier ist so prächtig, als führe ein König persönlich mit. Rolfr atmet die frische Luft ein. Der Wind weht ihm den Gestank des Laderaums aus der Nase. Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Helligkeit. Das Meer schimmert so blau wie Glockenblumen. Unglaublich, dass Wasser diese Farbe annehmen kann. Zu Hause, in Jörginsland, kann die See meisenblau oder heidelbeerblau werden, aber meist hat sie einen gedeckten Farbton. Den von Schiefer oder von Taubengefieder, und die Wellen glänzen silbrig wie Fischschuppen. Hier ist das Meer glatt wie ein Teich. Am Horizont erhebt sich eine bergige Insel. Um sie herum schwimmen Hunderte von Booten, winzig klein aus der Entfernung. Die alte, bucklige Dienerin des Kapitäns tritt zu ihm. Sie trägt einen Korb, in dem sich Goldbänder ringeln. Die Bucklige gibt ihm den Korb, dann kämmt sie Rolfrs Haare. Es ziept, doch es hilft nichts, wenn er protestiert. Dann setzt es nur Backpfeifen oder er muss wieder den Trunk schlucken. Deshalb sagt er nichts und hält still. Die Bucklige teilt sein Haar in dünne Strähnen. Er muss ihr aus dem Korb die Bänder reichen, und sie flicht sie ein. Eine Strähne fällt ihm auf die Brust. Das Gold glitzert in seinen hellblonden Haaren, als wäre er ein siegreicher Anführer, dabei ist er nur ein Sklavenjunge. Na ja, fast ein Mann. Hätte er sich nicht überrumpeln und fangen lassen, dann wäre er bei der letzten Sonnenwende in den Kreis der Erwachsenen seines Stammes aufgenommen worden. Das wird jetzt wohl nie passieren. Er wischt sich über die Augen. Aus der Kajüte tritt der Kapitän aufs Deck. Wie damals, als er Rolfr auf dem Markt erworben hat, trägt er ein weißes, gefälteltes Gewand und viele Ringe an den Fingern. Heute hält er eine mit zwei gewaltigen Hörnern besetzte Lederkappe in den Händen. Dem Kapitän folgt der zahnlose Dolmetscher. Er hockt sich neben Rolfr, als seien sie befreundet, aber alles, was ihn interessiert, ist, dass Rolfr seinen Anweisungen Folge leistet. Dann, das hat der Dolmetscher Rolfr selbst erzählt, wird er vom Kapitän mit einer Extraration Bier belohnt. Der Kapitän sagt etwas, und der Dolmetscher übersetzt: »Du bleibst nur so lang draußen, bis du dich wieder ans Licht gewöhnt hast. Damit deine Augen nicht tränen, wenn du vor Pasiphaë trittst.« Als die Bucklige mit dem Flechten fertig ist, reicht der Kapitän Rolfr die Hörnerkappe. Die soll er tragen, wenn sie im Hafen anlegen, sagt der Dolmetscher. »Wenn du auf Kreta von Bord gehst, halt Ausschau nach einer Frau, die einen silbernen Gürtel mit eingravierten Bienen um den Leib trägt.« Sie fahren nach Kreta! In diesem sagenumwobenen Land sollen die Menschen auf Stieren reiten. Kreta ist von Ölbäumen bedeckt und mit Häfen gesäumt, der Vater hat ihm davon erzählt. Die kretische Königin erhält Tribut von allen Ländern, die an das Südmeer angrenzen. »Vor der Frau mit dem Bienengürtel kniest du nieder, vor keiner anderen! Wenn du es richtig machst, wird sie die neue Minas, das ist das kretische Wort für Königin, und dann behält sie dich. Und wie du vielleicht weißt, leben die Sklaven auf Kreta wie freie Leute.« »Sie wird Königin, nur weil ich vor ihr knie?«, fragt Rolfr, aber der Dolmetscher winkt ab. Doch als er ihn wieder zum Laderaum führt, flüstert er ihm zu: »Ein Orakel hat vorhergesagt, dass Poseidon, der Meeresgott, für die neue Königin einen weißen Stier aus dem Meer entsteigen lässt. Und genau das wird geschehen.« Er grinst und öffnet die Luke. »Wenn du deine Sache gut machst, darfst du bleiben. Sonst schickt dich Pasiphaë, die Frau mit dem Bienengürtel, zurück aufs Schiff und du wirst in Thrakien auf dem Sklavenmarkt angeboten. Dann kannst du den Rest deines Lebens in Ketten verbringen.« Er soll also der Stier sein, von dem das Orakel gesprochen hat. Orakel sind nie wörtlich zu nehmen, in Jörginsland hat die Zauberin einmal vorausgesagt, dass die Eisriesin Futter für ihre Wölfe sucht. Aber im Winter sind keine Wölfe gekommen. Nur zwei Wanderer, die sich im Schneesturm verlaufen hatten. Sie trugen Mäntel aus Wolfspelzen. Die Zauberin erkannte in ihnen die Wölfe der Eisriesin und nahm sie als Gäste im Dorf auf. Alle im Dorf bewirteten die Wanderer, obwohl sie selber kaum genug zu essen hatten. Der Dolmetscher öffnet die Luke, Gestank dringt heraus, der Geruch der Menschen und Tiere, mit denen Rolfr seit vielen Tagen eingesperrt ist. Er schüttelt sich. Aus dem Mief tritt schon hier an Deck ein stechender Geruch hervor; es ist der der großen gefleckten Katze, die in einem Käfig sitzt und jeden Tag Fleisch zu fressen bekommt. Vorn an der Leiter stapeln sich die Kisten mit Schmuck, Stoffen und Instrumenten. Obenauf steht eine kleine silberne Truhe. Rolfr wirft einen Blick zurück auf die Insel, der sie inzwischen so nah gekommen sind, dass er einen Hafen mit steinernem Ufer und weiße Gebäude dahinter erkennen kann. Vielleicht dürfen die Sklaven dort in den Häusern schlafen, ohne Ketten an den Füßen. Über die Leiter kehrt er in den Laderaum zurück. Selbst die anderen Sklaven können sich hier nur gebückt fortbewegen, Rolfr muss fast auf allen Vieren kriechen. Mit einer Hand hält er die Kappe mit den spitzen Hörnern in die Höhe, damit er im Gedränge niemanden verletzt. Die Bucklige folgt ihm und schließt von innen die Ladeluke. Nach all den Tagen findet Rolfr seinen Platz auch im Dunkeln. Links vorn hecheln die Hunde, der Gestank der großen Katze kommt von rechts. Dazwischen sitzen Menschen, es ist nicht genug Platz da, damit alle sich hinlegen können. In einer Hand die Hörnerkappe, tastet er sich voran. Vorsichtig setzt er seine Füße zwischen die Körper. Jemand reicht ihm die Hand und rutscht zur Seite, das ist sicher der dunkelhäutige Mann mit den krausen Haaren, sein Sitznachbar. Rolfr ergreift die Hand und setzt sich an der freigewordenen Stelle nieder. Leben wie ein freier Mensch, das bedeutet sicher nicht, dass er Kreta wieder verlassen darf. Aber vielleicht müssen die Sklaven dort nicht bis in die Nacht hinein schuften. Vielleicht werden sie nicht ausgepeitscht, nur weil sie sich unterhalten. In der Nacht gibt man ihnen vielleicht eine Decke zum Schlafen, und vielleicht bekommen sie mehr als nur Abfälle zu essen. Was würde er nicht für eine Schale Hirsebrei mit Heidelbeeren geben. Ein wenig Licht dringt durch die Ritzen an der Ladeluke. Draußen warten frische Luft und Wind und Sonne auf ihn. An Deck knarzen die Ruderangeln, zum Takt der Trommel platschen die Blätter der Riemen ins Wasser. Rufe ertönen, zuerst leise, dann immer lauter. Schließlich stößt das Schiff gegen Holz, es schaukelt sacht - sie haben angelegt. Draußen rufen viele Menschen in einer fremden Sprache. Sie lachen und pfeifen gellend. Sicher haben sie noch nie ein Schiff mit rotem Segel und goldenem Mast gesehen. Die Stimmen verstummen. Jemand öffnet die Ladeluke. Die Bucklige winkt den dunkelhäutigen Sklaven neben Rolfr heran. Vor der Leiter gibt sie ihm die kleine silberne Truhe. Damit klettert der Dunkelhäutige die Sprossen der Leiter empor und tritt auf das Deck. Draußen johlen die Menschen. Schnell gibt die Bucklige dem nächsten Sklaven ein Zeichen. Einen nach dem anderen schickt sie mit Waren oder mit einem dressierten Tier nach oben. Als alle Kisten und Tiere ausgeladen sind, kommen die beiden Musikantinnen an die Reihe. Die braunhäutigen Frauen tragen mit Saiten bespannte Holzkisten vor der Brust. Mit kleinen Hämmern schlagen sie auf die Saiten; sie spielen schon, während sie an Deck klettern. Die Musik ist schnell und mitreißend. Nun befinden sich nur noch Rolfr und die Bucklige im Laderaum. Er kriecht zur Ladeluke, wo ihm die Bucklige die Hörnerkappe aus der Hand nimmt. Er kniet sich vor sie, damit sie ihm den Kopfschmuck...