E-Book, Deutsch, 336 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
Wegner / Sozialwissenschaftliches Institut der EKD Transzendentaler Vertrauensvorschuss
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-374-05867-9
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sozialethik im Entstehen
E-Book, Deutsch, 336 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
ISBN: 978-3-374-05867-9
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christliche Sozialethik muss ihre Grundsätze und Empfehlungen auch für religiös unmusikalische Menschen plausibel formulieren. Sie erwächst jedoch immer wieder neu aus christlich-kommunikativer Praxis, in der Gottes Vertrauensvorschuss – seine Verheißungen – in Wirtschafts- und Sozialpolitik artikuliert werden. So kultiviert sie die Kraft des Mythos in Distanz zu einer vermeintlich rationalen und pluralen Welt. Und liefert zugleich praktikable Orientierungen in den Dilemmata, die unsere Welt heute auszeichnen. Von daher behandelt der Autor Beiträge zu aktuellen Problembereichen wie Gerechtigkeit, Populismus, Gewalt, Familien, Unternehmen, Staat und Religion.
[Transcendental Credit of Trust. Social Ethics in Process]
Christian social ethics have to formulate their principles and recommendations in a way that is also plausible for religiously unmusical people. These ethics emerge always fresh from a communicate Christian practice in which God’s credit of trust – his promises – is articulated in the field of economic and social policies. In this way Christian social ethics cultivate a power of the myth in distance to an alleged rational and plural world, at the same time giving practical orientations in regard to the conflicts of our world. From this perspective the author reflects on contributions to current problem areas like justice, populism, violence, families, corporations, state, and religion.
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Arbeit – die Gabe der Generationen1
Was hält eine Gesellschaft als übergreifenden Zusammenhang mehrerer Generationen zusammen? Das ist nichts anderes als die Arbeit, die die Generationen im Verhältnis zueinander, füreinander erbringen. Also die Arbeit als Gabe der jeweils einen Generation an die jeweils anderen. Zunächst leistet sie die Elterngeneration im Verhältnis zur nachwachsenden Generation ihrer Kinder und dann sind es später ihre eigenen Kinder, die wiederum dafür sorgen, dass die dann älteste Generation versorgt und würdig leben kann. Das Generationsverhältnis stellt folglich im Kern ein umfassendes, auf Gegenseitigkeit angelegtes Arbeitsverhältnis dar. Dabei besteht nur ein gewisser Teil aus ökonomisch organisierter, bezahlter Erwerbsarbeit – ein insgesamt gesehen wahrscheinlich noch viel größerer Teil besteht aus der Arbeit, die in Familien und Familienverbänden als Erziehungsoder Sorgearbeit erbracht wird. Schon ein erster Blick auf diese Zusammenhänge belegt folglich, wie ungeheuer gewichtig die füreinander erbrachte Arbeit für den Zusammenhalt, die Lebensqualität aller und damit insgesamt die Aussichten einer jeden Gesellschaft ist. Arbeit als Gabe
Deutlich wird auch: Diese Arbeit ist weit mehr als nur das, was sich im Generationenvertrag oder auch sonst in irgendeiner Weise miteinander vereinbaren lässt. Diese Arbeit stellt in einem empathischen Sinne eine Gabe zwischen den Generationen dar, eine Gabe, die die Menschen verbindet – ganz im Sinne des klassischen Satzes: »All gifts are binding«, alle Gaben stiften Bindungen –, da sie reizprok ist. Ganz im Sinne neuer Forschungen zur Theorie der Gabe geht es hier nicht um etwas, was das Eigeninteresse der Generationen grundsätzlich kontrastiert, es geht nicht (jedenfalls nicht primär) um Gaben im Sinne einer altruistischen Beziehung. Von Interesse ist die Feststellung eines sozialen Rahmens, der die Menschen verpflichtet, füreinander in vielerlei Hinsichten da zu sein. Denn diese Gabe der Arbeit zwischen den Generationen ist obligatorisch. Sie kann nur um den Preis des Herausfallens aus der Gesellschaft verweigert werden. Sie kann allerdings in sehr verschiedener Form organisiert sein. Die mittel- und nordeuropäische Tradition des Sozialstaates setzt hier grundsätzlich andere Akzente als die familienbasierten Systeme Asiens oder die radikal marktorientierten Gesellschaften der angloamerikanischen Welt. Es geht um eine Haltung, die durch den Austausch der Gaben konstituiert wird: um die Stiftung einer stabilen Beziehung. Mithin stellt der Zusammenhang der Arbeitsbeziehungen auch das Verhältnis der Generationen auf eine tragfähige und solide Ebene. Genau in dieser Hinsicht – das sei schon einmal vorweggenommen – stellt die von Menschen geleistete Arbeit auch stets, wie schon Karl Marx und Karl Polanyi zeigen konnten, sehr viel mehr dar, als nur eine von den Arbeitenden ablösbare Leistung (Arbeitskraft). Die Arbeit ist vom Leben selbst und vom Arbeiter untrennbar. »Selling one’s labor amounts to willingly or unwillingly entering some part of oneself, some dimension of one’s life, into the marketplace, even though one may wish to keep the two separate.«3 Dieser Befund trifft natürlich auf jede Art von Arbeitsbeziehung zu, aber er gilt ganz besonders noch einmal, wenn man einen umfassenden Arbeitsbegriff im Verhältnis der Generationen verortet. Eine Gesellschaft ist folglich dann gerecht, wenn sich Menschen in dieser Hinsicht mit ihren entsprechenden Fähigkeiten (und damit in Würde) im Verhältnis der Generationen in die Gesellschaft einbringen, d.h. Teilhabe erfahren können. Generationengerechtigkeit bedeutet nichts anderes, als dass dieses Ziel auch im Verhältnis der Generationen gilt, d. h. dass sich die Generationen gegenseitig darin befähigen, ein Leben in Würde führen zu können. vor einigen Jahren noch einmal grundlegend in Anknüpfung an das hegelsche Ehe- und Familienverständnis affirmiert worden. »Insofern erkennen sich die Mitglieder heutiger Familien wechselseitig als menschliche Objekte an, die miteinander deswegen eine einzigartige, durch Geburt und Tod begrenzte Solidargemeinschaft bilden, weil sie sich gemeinsam in bewusster Verantwortung den Übergang ins öffentlich Leben ermöglichen wollen – man hilft sich reziprok darin, derjenige sein zu können, als der man sich aufgrund der eigenen Individualität in der Gesellschaft verwirklichen können möchte.«6 Und weiter: »Alles was an Fähigkeiten und Dispositionen zu einem ›kooperativen Individualismus‹ gehört, kann im Prinzip durch die Teilnahme an den inzwischen verbindlich gewordenen Praktiken der Familie erworben werden. Die Fähigkeit, das gedankliche Schema eines generalisierten Anderen zu entwickeln, in dessen Perspektive die innerfamiliären Verantwortlichkeiten fair und gerecht verteilt werden müssen, die Bereitschaft diejenigen Verpflichtungen auch tatsächlich zu übernehmen, die in der eigenen Stellungnahme zur deliberativen Aushandlung solcher Verantwortlichkeiten implizit enthalten waren, die Toleranz schließlich, die erforderlich ist, wenn andere Familienmitglieder Lebensstile oder Vorlieben ausbilden, die dem eigenen ethischen Grundsatz widersprechen.«7 In diesen Thesen kommt eine Familienvorstellung zum Ausdruck, die sich zwar durchaus als ideal beschreiben lässt, die aber in heute lebenden Familien zu einem verpflichtenden Dispositiv des Handelns geworden ist. Familie ist der Ort, in denen Generationen aufeinandertreffen und zusammengehalten werden und in denen sich elementar die Verpflichtung, Arbeit füreinander zu erbringen, konstituiert. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass ganze Gesellschaften als Familien zu verstehen wären, aber dennoch bleiben diese in Familien verankerten Fürsorge- und Solidaritätswerte auch für Gesellschaften, wie auch immer sie dann konkret institutionalisiert sind, verpflichtend. In Sozialstaaten übernimmt der Staat Familienpflichten. Die Reproduktionskrise
Bricht man nun allerdings diese grundsätzlichen Aussagen auf die Situation in den entwickelten reichen Ländern dieser Welt, insbesondere auf Deutschland, herunter, so stellt sich eine Irritation ein: die demografische Krise. Diese demografische Krise besteht im Kern aus einer Reproduktionskrise der Gesellschaft: Offensichtlich reproduziert sich die deutsche Gesellschaft aufgrund der Tatsache, dass die Zahl der neugeborenen Kinder weit unter der notwendigen Reproduktionsrate liegt, nicht mehr. Das Verhältnis der Generationen ist in dieser Hinsicht gestört. Die Folgen dieser Situation – auf welchen Gründen sie auch immer beruht – sind bekannt. Schon in relativ kurzer Zeit wird die Zahl der älteren Menschen in Deutschland geschichtlich einmalig große Ausmaße angenommen haben. Ist das durch die Gabe begründete derzeitige System stabil genug, um diese Herausforderung bewältigen können? Wie geht’s den Familien?
Ein Paradigma ist in den letzten Jahren in Folge dieser Entwicklung deutlich zu erkennen: die forcierte Transformation der Familienpartner in eine doppelte Berufstätigkeit. Sie wird heute als ein breit geteiltes Ziel von der Politik mit massiven Anreizen vorangebracht. Dementsprechend soll auch die Familienarbeit von beiden Partnern vollumfänglich gemeinsam getragen werden. An dieser Stelle stellen sich aber eben immer deutlicher Fragen nach den Feinheiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nach Meinung der Mehrheit der Deutschen ist dies die wichtigste Aufgabe der Familienpolitik. Die Schwerpunkte der Familienpolitik sollten nach Meinung von 74% der Bevölkerung in der Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf liegen, wobei Eltern mit Kindern unter 18 Jahren dies noch viel deutlicher sagen.8 An zweiter Stelle liegen dann Forderungen, Personen zu unterstützen, die pflegebedürftige Angehörige betreuen, und bereits an dritter Stelle folgt die Forderung, dass Kinder aus bedürftigen Familien bessere Bildungschancen erhalten sollen. Fragt man weniger allgemein nach der wahrgenommenen Vereinbarkeit von Familie und Beruf, so lässt sich ein deutliches Ergebnis feststellen: Nur 17% meinen, dass sich Beruf und Familie gut vereinbaren lassen, 66% meinen nicht so gut. Bei Eltern von Kindern unter 18 Jahren fällt das Ergebnis noch deutlich drastischer aus. Einen etwas besseren Eindruck hat man allerdings dann, wenn man nach der Vereinbarkeit in der eigenen Familie fragt, hier werden die Dinge nicht ganz so kritisch gesehen. Hier geben dann 45% von Eltern von unter 18 Jahren an, dass die Vereinbarkeit gut gelingt, und sie gelingt insbesondere dann gut, wenn ein Einkommen in der Familie von mehr als 3.000 € vorliegt. Die Mobilisierung der Älteren
Bleibt noch ein dritter Bereich, in dem sich Potenziale der Arbeit mehr als bisher mobilisieren lassen: die Arbeit der Älteren selbst. Der entsprechende Diskurs hat sich in den letzten 20 Jahren geradezu explosionsartig ausgeweitet und einen gewissen Höhepunkt in der Heraufsetzung des Rentenbezugsalters von 65 auf 67 Jahre gefunden. Dabei erscheint der Zusammenhang zunächst einmal relativ plausibel zu sein: Angesichts der demografischen Krise und angesichts der gleichzeitig immer weiter ansteigenden Lebenserwartung der Menschen ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit eigentlich vollkommen plausibel. Im Rückblick wird z. B. deutlich, dass die Einführung der Rentengrenze mit 65 zu einer...