E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Weinmann Die Vermessung der Psychiatrie
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-88414-949-2
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-88414-949-2
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie sieht es aus mit der sogenannten 'Evidenz' zu den Ursachen von Depression und Schizophrenie? Wie mit der Wirksamkeit von Medikamenten und Psychotherapien? Welche Bedeutungen haben Vorurteile, Verzerrungen und sich selbst erfüllende Voraussagen in der psychiatrischen Behandlung und Forschung? Und wieso helfen viele gut erforschte Ansätze so häufig nicht?
Wenn man die gegenwärtige Psychiatrie verstehen will, muss man verstehen, was in den Köpfen von Psychiater*innen vor sich geht, sagt Weinmann und plädiert dafür, dass sich die Psychiatrie mehr den sozialen und auch den gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren stellt. Mit diesem Buch liefert er einen kritischen und hochspannenden Beitrag.
Zielgruppe
Empfehlenswert für alle Akteure in der Psychiatrie.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Denkmuster und Vor-Urteile – Einleitung– – – – – – – – – – – – – – – – – – – 8
Vom therapeutischen Fach zur Selbstdiagnose. 8
Methodik des Suchens. 13
Erfolge in der Psychiatrie?. 17
Moderne Psychiatrie?. 22
Selbstkritik als Weg aus dem professionellen Dilemma. 23
'Wir' und 'sie': Schemata in der Psychiatrie– – – – – – – – – – – – – – – 27
Gehirnerkrankungen: Folgen des Biologismus in der Psychiatrie– – – – – – – – – – – – – – – – – – – 38
Das gängige Paradigma. 38
Neuroimaging?. 43
Befunde der Bildgebung bei der Schizophrenie?. 47
Das Bild vom Hirn – Fragen über Fragen. 49
Die schöne Welt der akademischen Psychiatrie. 51
Biologismus: die Schizophrenie als neuropsychiatrische Erkrankung. 55
'Vor-Urteile' und darauf aufbauende Therapien. 63
Psychoedukation. 66
Zweifel am psychiatrischen Paradigma. 70
Erkenntnismethoden in der Psychiatrie. 74
Täuschung und Selbsttäuschung
bei der medikamentösen Behandlung– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 77
Gute und schlechte Drogen. 77
Die klinische Bedeutung von Psychopharmaka. 79
Konditionierung zur Medikamentengabe. 89
Die Dopaminhypothese der Schizophrenie. 92
Der verhängnisvolle Reflex: Psychose = Antipsychotika. 96
Zur 'Wirksamkeit' von Antipsychotika. 99
Eine weggetäuschte 'Nebenwirkung': Verringerung der Hirnmasse durch Antipsychotika. 105
Antipsychotika: die Problematik der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. 108
Bipolare Störung und Antipsychotika – eine problematische Verbindung. 110
Zur Erholung von Psychosen ohne Antipsychotika – erste vorsichtige Studien. 114
Die Zunahme der Depression in der Moderne. 117
Die Vermarktung der Depression. 119
Wirkung von Antidepressiva. 120
Konsequenzen aus der Antidepressiva-Ernüchterung. 131
Warum ein Paradigmenwechsel in der Psychiatrie Medikamente miteinbeziehen muss. 133
Ist Psychiatrie eine Wissenschaft?– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 135
Jump-to-Conclusions-Bias bei Patienten und Psychiatern. 135
Geschichtliches zum Wunschdenken in Psychiatrie und Psychotherapie. 142
Ist die Psychiatrie eine Wissenschaft?. 153
Evidenzbasierte Psychiatrie – die Lösung?. 157
Psychiatrie und Chronifizierung schwerer psychischer Störungen– – – – – – – – – – – – – – – – – – – 159
Gemeindepsychiatrie – die Zielgruppe. 160
Menschen mit 'schweren' psychischen Störungen. 160
Psychiatrische 'Einrichtungen' in der 'Gemeinde'. 162
Rehabilitation. 164
Fortschrittsparadigmen in der Gemeindepsychiatrie. 167
Das Ideal der Gemeindepsychiatrie. 171
'Erziehung' zum psychisch Kranken. 173
Motivation. 173
Verantwortung und Chronifizierung. 174
Die Public-Health-Perspektive. 177
Wege aus der Bevormundung. 179
Zwang und Verantwortung in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. 181
Die Home-Treatment-Revolution. 186
Psychosoziale Determinanten psychischer Erkrankungen– – – – – 189
Warum die Beschäftigung mit dem Sozialen?. 189
Soziale Determinanten – was ist damit gemeint?. 192
Soziale Determinanten – wie trifft uns Ungleichheit psychisch?. 195
Das biopsychosoziale Erbe des Menschen. 198
Warum auf soziale Determinanten achten?. 201
Depression als psychosoziale Erkrankung. 203
Psychose als psychosoziale Erkrankung. 205
Psychologische und biologische Mechanismen der Psychose-Entwicklung. 210
Ansätze und Argumente für die Verringerung von Ungleichheit. 212
'Global Mental Health' – die Beglückung der Welt mit westlicher Psychiatrie– – – – – – – – – – 215
Was ist 'Global Mental Health?'. 215
Herausforderungen für Global Mental Health. 220
Internationale Politik und Global Mental Health. 222
Alternativen zum traditionellen medizinischen Modell. 225
Die westliche Psychiatrie – ein Exportprodukt?. 229
Gegen die Selbsttäuschungen des Fachgebiets– – – – – – – – – – – – – – – 232
Schärfung des Blicks auf uns psychiatrisch Tätige. 232
Überwindung dysfunktionaler Handlungsprinzipien. 235
Paradigmenwechsel – Vorschläge zur Weiterentwicklung der Psychiatrie. 242
Transformation der Psychiatrie durch Erfahrungsexperten. 248
Die Psychiatrie vom Sozialen aus neu denken. 250
Traumasensible Psychiatrie. 252
Hinweis zum Buch– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 257
Danksagung. 257
Literatur – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 258
Denkmuster und Vor-Urteile – Einleitung
Ein Betrunkener kniet längere Zeit suchend auf dem Boden neben einer Straßenlaterne. Kommt ein Passant vorbei und fragt: »Suchen Sie etwas?« – »Ja, ich habe meinen Schlüssel verloren!« Der Passant hilft dem Betrunkenen suchen, doch sie finden den Schlüssel nicht. Nach einer Stunde fragt der Passant: »Sind Sie sich sicher, dass Sie den Schlüssel hier verloren haben?« Der Betrunkene antwortet ihm: »Nein, ich habe ihn wohl irgendwo dahinten verloren, aber hier gibt es einfach mehr Licht!« Vom therapeutischen Fach zur Selbstdiagnose
Täuschung und Selbsttäuschung prägen die Menschheit seit Jahrtausenden. Beide regeln, erschweren aber auch unser Zusammenleben. Ganze Industrien leben heutzutage von (absichtlicher) Täuschung und (weniger bewusster) Selbsttäuschung. Nicht nur die immer bedeutsamer werdende Welt des Marketings, die uns dazu bewegen möchte, Geld auszugeben, indem Wünsche generiert werden, oder Teile der Politik, in der der Eindruck hervorgerufen wird, dass sich Menschen oder Parteien für unsere Belange einsetzen, aber im Grunde Macht anstreben – auch die Medizin, die Forschung und viele andere Bereiche sind voller Täuschungen. Ohne dass Menschen andere über ihre wahren Absichten täuschen, wären viele Leistungen heute oder zu früheren Zeiten nicht möglich. Ohne dass Menschen Illusionen pflegen und weitergeben, wären viele Lebenssituationen schwerer zu ertragen, würden viele von uns resignieren, oder gäbe es weniger Fortschritt im herkömmlichen Sinne. »Wir haben ernst zu nehmen, dass Selbsttäuschung durch unbewusste Wünsche und nicht-intendierte Verzerrungen unserer Meinungen bedingt sein kann. Selbsttäuschung kann einem wishful thinking entstammen und in einer honest lie resultieren (die sich von der bewussten Lüge unterscheidet und moralisch wie rechtlich anders beurteilt wird als diese). Selbst wenn jemand gegen seine proklamierten Überzeugungen und Präferenzen redet und handelt, agiert er nicht notwendig gegen seine wirklichen Überzeugungen und tragenden Handlungen« (ANGEHRN 2017, S. 37). Die Selbsttäuschung wird daher in der Psychotherapie als Verdeckung unangenehmer Sachverhalte begriffen, die letztlich seelischen Schmerz vermeiden soll. Methodik des Suchens
Das Buch nimmt Bezug auf die schweren psychischen Erkrankungen (Psychosen, schwere Depressionen und manisch-depressive Erkrankungen, schwere Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen), nicht die sogenannten common mental disorders, die sich in der Breite der Bevölkerung finden lassen. Im Zentrum der Psychiatrie war eine große Zahl psychiatrischer Forscher (Wissenschaftler, welche die neurowissenschaftlichen, psychologischen oder sozialen Aspekte der Psychiatrie beforschen) sowie klinischer und gesellschaftlicher Meinungsführer, Vertreter von Psychotherapieschulen und Medikamentenhersteller erfolgreich darin, Studienergebnisse zu produzieren und zu veröffentlichen, die oft nur der Bestätigung halbwahrer oder falscher Hypothesen über die Natur und die Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen dienten. Diese Studien versuchen, Licht in die Blackbox unserer Psyche zu bringen und angenommene »Störungen« im Gehirn, angeborene oder erlernte Denk-, emotionale und Verhaltensmuster zu erkennen und zu verändern. Sie bewegen sich jeweils in dem Referenzsystem, das dem Forschenden zur Verfügung steht. 1. dass es gar keine kategorial abgrenzbaren psychiatrischen Erkrankungen gibt (das »medizinische Modell« psychischer Erkrankungen oder die jeweiligen psychologischen Theorien also lediglich Konstrukte sind, die nur manchmal weiter-, im schlimmsten Fall aber in die Irre führen), 2. dass Menschen immer wieder »erkranken«, weil wir keine guten Therapien zur Verfügung haben oder die Therapien selbst krank machen, 3. weil Medikamente überhaupt zu hoch dosiert oder zu lange gegeben und Absetzphänomene fehlinterpretiert werden sowie individualpsychotherapeutische Gespräche nach einer der Psychotherapieschulen bei sozial schwer desintegrierten Menschen nicht den Durchbruch bringen können, wenn diese in ihrem gesamten Beziehungsgeflecht, auf das die Psychotherapien nur begrenzt Einfluss haben, aus der Bahn geworfen wurden. Fragt man psychiatrische Meinungsführer in Deutschland, den USA, Großbritannien oder anderen Ländern mit Forschungstradition nach den gegenwärtigen Herausforderungen in der Psychiatrie, die den Fortschritt behindern, dann ist es immer wieder die fehlende bessere und ausgefeiltere Technologie, die genannt wird. Dass operationalisierte (standardisierte) Beschreibungen und Definitionen psychischer Krankheitseinheiten, bessere Scanner und versiertere molekularbiologische Methoden denjenigen Patientinnen und Patienten, die keine eindeutiges organische Ursache ihrer psychischen Störung aufweisen, jemals weiterbringen, ist mehr als zweifelhaft. Dass die Psychiatrie fünfzig oder gar hundert Jahre der Medizin hinterherhinkt, wie behauptet wird, ist keine psychiatrische Bescheidenheit, sondern eine Selbsttäuschung, impliziert diese Behauptung doch, dass wir mit naturwissenschaftlichen Methoden irgendwann »aufschließen« können und greifbare und therapierelevante somatische Korrelate psychischen Krankseins finden werden. Und diese Behauptung geht einher mit einer anderen, nämlich der, dass die medikamentöse Behandlung mit psychotropen Substanzen zwar schon segensreich sei, aber einfach noch besser werden müsse. Erfolge in der Psychiatrie?
Epidemiologische Studien zu medikamentös und psychotherapeutisch unbehandelten Spontanverläufen, Langzeitstudien, die weniger verfälscht sind als die Studien der Hersteller, Erfinder und Verfechter der Therapien, historische Vergleiche und qualitative Interviews legen hingegen die begrenzte Wirkung unserer »modernen« Therapieverfahren nahe. So waren vor der Antidepressiva-Ära die Verläufe etwa bei der Depression durchaus weniger »rezidivierend« (POSTERNAK 2006). Moderne Psychiatrie?
Auch die moderne Psychiatrie unterliegt manchmal ähnlichen Mechanismen der (Selbst-)Täuschung wie eine schamanische oder sonstige in irgendeiner der vielfältigen Kulturen der Welt verankerte »Psychiatrie«. Sogar Schamanen müssen ihre auf Suggestion beruhenden Heilungsansätze legitimieren, um etwas im Symptomträger zu bewirken. Wie bei der modernen Psychiatrie beruhen Heilungserfolge sehr stark auf dem Glauben an die Wirksamkeit der Maßnahme – diese ist an das Vertrauen und an die Integrität und Kompetenz der Person gebunden, welche die Behandlung vornimmt. Was zählt, ist vor allem die Bedeutungszuschreibung, nicht die Art und biologische Wirkung der durchgeführten (Be-)Handlung. Dies ist vielleicht einer der Gründe, warum manche Psychiater immer noch gerne einen weißen Arztkittel überziehen und sich mit den Insignien des Körpermediziners ausstatten. Die Heilungserfolge der Schamanen bei psychosozialen Problemen werden auch nicht dadurch geschmälert, dass sie auf Täuschung und Selbsttäuschung beruhen: Sie fördern wie idealerweise auch die moderne Psychiatrie Selbstheilungskräfte durch Suggestion und unspezifische (Placebo-)Effekte (siehe schon Warner 1980). Im ungünstigen Fall fördern sie Chronifizierung und verhindern die Nutzung wirksamerer Therapien. 1. Dem Schamanen (und vielleicht auch manchem Psychotherapeuten) geht es nicht darum, zu bewerten, wer gesund ist oder nicht, sondern um das Gleichgewicht zwischen Mensch und Gesellschaft und zwischen Mensch und Kosmos überhaupt – dem Heiligen und dem Profanen. Die moderne Psychiatrie hingegen basiert auf diagnostischen Einteilungen und Bewertungen. 2. Die moderne Psychiatrie greift biologisch ins Gehirn ein. Der Ansatzpunkt ist das Individuum, dessen angenommene biologische Fehlfunktion »korrigiert« wird, während die schamanischen Geister als Kräfte von außen durch soziale und symbolische Handlungen wirken – wenn auch nicht selten unterstützt durch die Einnahme psychotroper Substanzen. Die moderne Psychiatrie versucht, die Verantwortung für die Störung in der Biologie anzusiedeln und die Schuld im biologisch »Anderen« des kranken Gehirns zu verorten, um die Person dadurch von Schuld zu entlasten. Letzteres kann aber nicht funktionieren, weil das Gehirn die Person ja ausmacht und nicht zu etwas objektiv »Anderem« gemacht werden kann. Dies ist ein bedeutender Teil der Selbsttäuschung in der modernen Psychiatrie. Selbsttäuschung und Täuschung gehören zur kognitiven und sozialen Conditio humana – was wiederum bedeutet, dass es keinen Sinn hat, in einem Windmühlenkampf alle Täuschung und Selbsttäuschung ausmerzen zu wollen. Wenn wir aber anderen...