E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: zur Einführung
Werber Geopolitik zur Einführung
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96060-061-9
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-061-9
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0. Definitionsprobleme, Methode, Korpus
Eine äußerst knappe Definition von »Geopolitik« gibt der Sozialgeograph Benno Werlen. Sie sei eine »Theorie der Politischen Geographie, die auf der These des Geodeterminismus« beruhe, also von einer »kausalen (Vor-)Bestimmtheit des menschlichen Handelns durch den Raum bzw. die Natur« ausgehe (Werlen 2000: 383). So sieht es auch Rolf Nohr. Im »Zentrum der Geopolitik [stehe] die Idee einer geodeterminierten Staatspolitik« (Nohr 2012: 145). »Die klassische Geopolitik war eine Lehre vom angeblich Konstanten und Statischen«, resümiert Jürgen Osterhammel (Osterhammel 1998: 387). Der Raum determiniert allerdings das politische Geschehen nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch seinen Einfluss auf den Staat. »Der Staat wurde dabei in Anlehnung an Ratzel als Organismus verstanden, der über einen Lebensraum von ausreichender Dimension verfügen sollte.« (Werlen 2000: 383) Dies ist sicher eine bündige Formel, aber sie ist nicht sehr genau, weil die interessantesten Beiträge zur Geopolitik gerade aus der Grundannahme, Staaten seien als Lebensformen oder Superorganismen anzusehen (Dodds 2007: 28, 30), eine sozusagen staatsbiologische Konsequenz ziehen und das evolutionäre Verhältnis von politischen Gemeinwesen und ihrer Umwelt erforschen – also gerade nicht von einer Determination des politischen Handelns durch den Raum ausgehen. Zwar ist es völlig richtig, auf die »sozialdarwinistischen Denkmuster« hinzuweisen, die den geopolitischen Diskurs seit seiner Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen (Werlen 2000: 95), doch greift es viel zu kurz, den »Diskursivitätsbegründer« (Foucault 1985: 24f.) geopolitischen Denkens, Friedrich Ratzel (vgl. grundlegend Korinman 1990), auf eine Perspektive festzulegen, die in der »Geschichte der Menschheit und der Staaten« nicht mehr sehen kann als die Exekution der in »der Natur vorgezeichnete[n] Programme« und »Gebote« des Raums (Werlen 2000: 95). Denn Darwinismus ist nicht das Gleiche wie Determinismus. Es stimmt zwar, der ausgebildete Zoologe Ratzel unterwirft die Staaten als Organismen biologischen Gesetzen, doch wären dies Gesetze der Evolution, welche die Entwicklung des Lebens in einer ökologischen Nische als einen dynamischen, interaktiven und zukunftsoffenen Prozess modellieren. Die geschichtliche Entwicklung der politischen Lebensformen unterliegt demnach zwar biologischen Naturgesetzen, sie sei aber gerade deshalb nicht vorherbestimmt. Dass Weltreiche zerfallen, ohne dass sich am Raum irgendetwas ändert, belege dies: »Die rasche Aufeinanderfolge grosser Reiche […] gibt die Lehre, dass nicht die Größe des Raums an sich, sondern in der Art der Erfüllung des Raums der Zusammenhalt und die Gewähr der Dauer liegt.« (Ratzel 1903: 206) Der Organismus muss sich dem Raum anpassen, um seine Strukturen zu erhalten und nicht zu zerfallen. Der Raum »an sich« bestimmt also nichts, sonst ließen sich die permanenten »Umbildungen« (Ratzel 1903: 210) der Staaten bei »unveränderlichen Grenzen« (etwa bei »Inselstaaten«) überhaupt nicht erklären (Ratzel 1903: 211). Liefert Werlen mit dem »Geodeterminismus« eine knappe, aber zu enge und reduktive Definition der Geopolitik, so gerät der Fokus eines anderen Geographen eher zu weit. In seiner Monographie Geopolitics: A very short introduction (Dodds 2007) handelt Klaus Dodds ein ganzes Set von Ideologien, rhetorischen Figuren, Simplifizierungen, rassistischen Stereotypen, Propagandaformeln, Verfahren der Selbstbeschreibung und des Othering äußerst kritisch ab, ohne dass immer deutlich würde, was an ihnen jeweils genuin geopolitisch wäre. Wenn Dodds untersucht, wie in Hollywood-Filmen aus der Zeit des Kalten Krieges vor dem Einfluss kommunistischer Vorstellungen auf die idealistische und naive amerikanische Jugend gewarnt wird (Dodds 2007: 153), oder wenn er zeigt, wie die USA in der Vorstellung Al-Qaedas die Gestalt des »großen Satan« annehmen (Dodds 2007: 112), hat dies mit den von Werlen genannten Ratzel’schen »Geboten des Raums« nichts mehr zu tun. Damit möchte ich nicht behaupten, dass ethnische Stereotypien und Feindbilder nicht oft sehr eng mit geopolitischen Vorstellungen zusammenhängen: Zum Beispiel leitet die deutsche Geopolitik aus der Topographie des russisch beherrschten Raums ab, die Bevölkerung dieser unendlich weiten, versteppten und letztlich unkultivierten Räume könne dort keine Wurzeln schlagen und daher auch keine Individualität ausgeprägt haben, die mit der individuellen Prägung der Bewohner westlicher Kulturlandschaften zu vergleichen wäre. Deshalb sei das »geduldige, drillbare, leicht zu ersetzende, todesverachtende Menschentum des Ostens« als massenhaft verfügbares »Material« anzusehen (Dehio 1948: 89, 85, 136). Mit ähnlichen topographischen »Gründen« hat man auch den Amerikanern pauschal jegliche Kultur abgesprochen (dazu Kamphausen 2002; Werber 2002/2003) und den »Sowjettypus« mit dem »Yankeetypus« analogisiert (Grabowsky 1960: 139). Eine geographische Beschreibung zur Grundlage der Abwertung einer ganzen Ethnie oder Gesellschaft zu machen ist typisch geopolitisch. Wo aber der Verweis auf die »überseeische Weite« des russischen Raums, der übrigens fremde Mächte allein durch diese Beschaffenheit »magnetisch« anziehe (85), vollkommen fehlt, müsste von rassistischer Ideologie gesprochen werden, nicht aber von Geopolitik. Geopolitische Texte sind sehr häufig rassistisch, sexistisch, nationalistisch, imperialistisch, bellizistisch und propagandistisch, aber umgekehrt gilt dies nicht immer. Geopolitisches Denken zeichnet sich, da hat Dodds vollkommen recht, durch die rigorose Reduktion von Komplexität aus; der Blick auf die Karte, auf die Verteilung der Ressourcen, auf Topographien und Demographien soll vereinfachen und zugleich für Evidenz sorgen (Dodds 2007: 110, 21, 115). Karten sind in der Tat ein Leitmedium der Geopolitik. Und es trifft zu: Oft wird der Begriff verwendet, um auf jene »grim geographical realities of world politics« (51) zu verweisen, die oft genug vergessen würden, zumal von Europäern (Kagan 2003), die unter dem Schutz der USA die sie umgebenden Mächte verdrängten wie einst die Hobbits im von den Menschen des Westens (Númenórer) gut behüteten, paradiesischen Auenland. Doch scheint es auch mir nicht sinnvoll zu sein, alles geopolitisch zu nennen, was sich mit internationaler Politik, Sicherheitsfragen, Weltmärkten, Kommunikationsmedien oder Verkehrswegen beschäftigt (vgl. Osterhammel 1998: 383). Zwar hat wohl auch Ratzels Politische Geographie »eine unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs geschaffen« (Foucault 1985: 24), doch ist dieser Diskurs von einem endlichen Set von Aussageregeln bestimmt. Diese Regeln möchte ich in dieser Einführung herausarbeiten und gewissermaßen bei der Arbeit beobachten. Ich selbst werde keinen weiten Begriff von Geopolitik kultivieren, sondern eher historisch vorgehen, an kanonischen Texten entlang die Genealogie des Diskurses verfolgen und dabei die wichtigen Kontinuitäten, aber auch einige Transformationen, Brüche und Modifikationen freilegen. Die Anregung, den geopolitischen Diskurs nicht auf die wichtigsten Denker oder einflussreichsten Institutionen zu beschränken, sondern bis in die »geopolitischen Repräsentationen« in den Massenmedien hinein zu verfolgen (»popular geopolitics«), möchte ich aufgreifen (Dittmer und Dodds 2008; Dodds 2007: 46; vgl. Werber 2007), dabei aber immer versuchen, den Nachweis zu führen, dass auch die populäre Geopolitik den typischen Aussageregeln des Diskurses folgt, also Räume und biologische Entitäten (Staaten als Organismen, Populationen, Ethnien etc.) in einen politischen Entwicklungszusammenhang stellt. Die Angabe eines Staatsgebietes in Quadratkilometern wäre demnach nicht geopolitisch; die These dagegen, angesichts des Bevölkerungswachstums und der Ressourcenarmut sei ein Territorium zu klein für einen »gesunden« Staat, ist es schon. Ein Werk aus den 1920er Jahren, das die räumliche Enge deutscher Städte inszeniert, mit Bildern der Degeneration, der Krankheit, des Verfalls etc. verbindet und an die Gebietsverluste im Osten erinnert, zählt daher gewiss zu den »popular geopolitics«; expressionistische Bilder von Stadtschluchten dagegen nicht. In der Forschung, ob apologetisch oder kritisch, historisch-deskriptiv oder politologisch-angewandt, besteht seit langem große Einigkeit darin, dass das geopolitische Denken in dem skizzierten engeren Sinne in Deutschland entsteht und auch hier zuerst akademisch institutionalisiert wird, politischen Einfluss gewinnt und massenmediale Resonanz findet. Es ist ein Denken, dessen Hochzeit im Ersten Weltkrieg beginnt und mit dem Zweiten Weltkrieg (anscheinend) abbricht, daher hat es mit den ideologiekritischen, diskurstheoretisch und postkolonialistisch geschulten »critical geopolitics« (Ó Tuathail 1996) nicht viel gemein. Die »deutsche« Geopolitik stelle ich ins Zentrum meiner Einführung. Um aus Tausenden von geopolitischen Publikationen einen einigermaßen überschaubaren Korpus auszuwählen, behandle...