Westerkamp | Das schweigende Tier | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 143 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Westerkamp Das schweigende Tier

Sprachphilosophie und Ethologie
unverändertes eBook der 1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7873-3769-9
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Sprachphilosophie und Ethologie

E-Book, Deutsch, 143 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-3769-9
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Tierverhaltensforschung hat in den vergangenen Jahren bedeutende Erkenntnisse gewonnen, nicht zuletzt im Bereich der Tierkommunikation. Allerdings trägt sie einen aus sprachphilosophischer Perspektive dürftigen Sprachbegriff an ihre Untersuchungsgegenstände heran, um im selben Atemzug überzogene und anthropomorphistische Behauptungen über Sprache und Kultur, über Moral und Denken der Tiere aufzustellen.

Dirk Westerkamp kritisiert in seiner Untersuchung diesen Sprachgebrauch und stellt ihm eine – kleine – Philosophie der natürlichen Sprache gegenüber, die zur Orientierung und als Richtschnur auch der Tierkommunikationsforschung dienen kann. Umgekehrt greift diese Philosophie der normalen Sprache Erkenntnisse der jüngeren Ethologie auf, um ihren eigenen Sprachbegriff zu überprüfen und zu präzisieren.

Das Buch gliedert sich in vier Teile. Es umreißt zunächst einen gehaltvollen Begriff der natürlichen Sprache (I. Das Tier, das Sprache hat – animal symbolicum), geht dann verschiedene Formen animalischer Kommunikation durch (II. Tiere, die kommunizieren – animalia communicantia), entwirft im Anschluss eine Theorie jener Wechselwirkung von Sprache und Einbildungskraft, die offenbar nur in normalen Sprachen aufkommen kann (III. Das Tier, das einbildet – homo pictor et imaginans), um am Ende – durchaus provokativ – als eigentliches Proprium des menschlichen Symbol-, Imaginations- und Sprachvermögens das Schweigen zu pointieren (IV. Das Tier, das nicht spricht – homo silens).

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IITIERE, DIE KOMMUNIZIEREN
(animalia communicantia)
10 · Intentionalität
WEDER IST Intentionalität ein artspezifisches Charakteristikum, noch bedürfen ihre Formen des »Über-etwas-Seins« (aboutness) oder des »Bewusstseins von Etwas« notwendig symbolisch-reflexiver Sprachen. In dem trivialen Sinn, dass Systeme dann intentional heißen, wenn sie ein intentionales Objekt »haben«, also irgendeine Repräsentation von Etwas gewinnen, wäre auch der von von Uexküll in seinen Reaktionen auf die Umwelt beschriebene Holzbock (Ixodes ricinus) ein »intentionales System«1 zu nennen. Das intentionale Wahrnehmungsobjekt der Zecke wäre dann jene Buttersäure, die dem Schweiß des Säugetiers entstammt, auf das sie sich aus genau diesem Grund fallen lässt.2 In einem philosophisch anspruchsvolleren Sinn lassen intentionale Systeme (pseudo- oder proto-)propositionale Einstellungen erkennen: x nimmt an, dass p. y wünscht, dass q. z grübelt, ob r. Intentionalität meint das Verhältnis dreier Relata: die Beziehung zwischen einem System (x, y, z), seiner Einstellung (annehmen, wünschen, grübeln) und dem Inhalt dieser Einstellung (p, q, r).3 Statt von Lebewesen von »intentionalen Systemen« zu sprechen, enthebt zunächst der Misslichkeit, den problematischen Kollektivsingular »Tier« zu verwenden, dessen Absurdität namentlich Derrida sistiert und mit dem Kunstwort l´animot gekontert hat.4 Daniel Dennett unterscheidet zwischen intentionalen Systemen, die aus Gründen handeln, die ihnen selbst nicht durchsichtig sind, und solchen, deren Gründe transparente Motive, Ursachen und Absichten auch für diese »Systeme« selbst sind: »reasons for us«5 – eine Formulierung, die an Kants Bestimmung der Erscheinungen erinnert, die nur kraft ihrer kategorialen Formierung durch den Verstand auch Gegenstände »für uns«6 sein können. Gründe, die »für uns« sind, haben eine reflexiv-intentionale Struktur. Sie »sind« über etwas Zweifaches – nämlich nicht nur über ihren unmittelbaren Gegenstand, sondern mittelbar auch über uns selbst. Sie beziehen sich auf uns, insofern wir uns mit ihnen auf uns selbst beziehen können. Solche Gründe sagen deshalb nicht nur etwas über dieses oder jenes Motiv, sondern mit ihnen auch etwas über uns im Ganzen: dass wir reflexive, intentionale, Gründe gebende Wesen sind. Von reflexiver Intentionalität abhängig, aber noch einmal eigens von ihr zu unterscheiden ist jene tertiäre Intentionalität, die nach Auffassung von Sprachphilosophen (wie Grice und Searle) und Anthropologen (wie Deacon und Tomasello) das Spezifikum menschlichen Bewusstseins ausmacht. Mit ihr erst wird das Feld nicht nur subjektiv, sondern auch intersubjektiv selbsttransparenter Bewusstseinsakte erreicht. Grice zufolge passen wir unsere propositionalen Einstellungen nicht nur stets einem Gegenüber an, sondern wir unterstellen auch, dass dieser weiß, dass ich meine Einstellungen im Wissen um die seinen diesen immer schon angepasst habe, um von ihr/ihm verstanden zu werden.7 So entsteht eine – uns in der Regel gar nicht bewusste – rekursive Intentionalitätsstruktur, die durch ihren impliziten »Ich-weiß-dass-Duweißt-dass-ich-weiß…«-Erwartungsabgleich zur Voraussetzung geteilter Intentionalität, gemeinsamen Planens oder koordinierten Handelns wird. Manche Analysen schreiben deshalb bereits so alltäglichen Aussagen wie (15)Kann ich bitte das Salz haben? die Struktur einer fünffachen Intentionalität zu: Person A möchte nicht einfach nur einen Gegenstand, sondern A möchte Person B zu verstehen geben, dass sie möchte, dass B versteht, dass sie das Salz haben möchte.8 Damit legt sich die These nahe, dass für die Kommunikation anderer Lebewesen, etwa von Primaten, eine derart verwickelte Intentionalitätsstruktur weder nötig noch möglich sei.9 Terrence Deacon möchte zeigen, dass sich symbolische Sprachen erst auf dem Boden tertiär-intentionaler Bewusstseinsstrukturen ausbilden, diese Strukturen aber auch nur vermöge symbolischer Formen hervorgebracht werden können. Gómez und Gärdenfors setzen voraus, dass die menschliche Fähigkeit »to share visions« unhintergehbar an die sprachlichen Formen von higher order intentions gebunden ist: »The inner worlds of other animals are not sufficiently rich to manage the complexity of detached representations that language refers to.«10 Auch die umgekehrte Auffassung wird vertreten: Primaten verfügen sehr wohl über inneren Gedankenreichtum, protopropositionale Auffassungen und abstrakte Gedanken, können sie aber nicht sprachlich äußern11 – eine andere Variante des ethologisch-naturalistischen Fehlschlusses. Unkontrovers dürfte sein, dass die geistige Innenwelt der menschlichen Spezies über fast beliebig verschachtelbare Vorstellungen (nesting of inner worlds)12 und ipsoflexive Gedanken verfügt. Wir können eine – von diesen selbst unabhängige – Vorstellung unserer inneren Vorstellungen bilden, z. B. kontrafaktische Wünsche. Denn ein situationsunabhängiger, »freier« Wille ist nicht schon dort, wo die Voraussetzungen des Libet-Experiments ihn vermuten: In der (neuronalen bzw. subkortikalen) Ermöglichung instruierter Gedanken-, Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit (= schwacher Freiheitsbegriff).13 In einem philosophisch wie alltagspragmatisch anspruchsvollen Sinn ist der Wille erst dort frei, wo wir ihn auch anders wollen, uns willentlich in eine Distanz zu ihm setzen können (= starker Freiheitsbegriff). Der Wille muss, mit Hegel gesprochen, seine eigene Negativität enthalten.14 Nicht schon Wahlfreiheit, sondern die Möglichkeit zu Wünschen zweiter Ordnung ist, nach Harry Frankfurts berühmter Analyse, zuverlässiges Zeichen freier Willensäußerungen. Wer rauchen will (Wunsch erster Ordnung), zugleich aber den Wunsch hat, nicht mehr rauchen zu wollen (Wunsch zweiter Ordnung), zeigt, dass er in der Lage ist, frei seinen eigenen Willen zu wählen, indem er eine Differenz im Wünschen selbst herstellt.15 Von Intentionalisten wird nun bezweifelt, dass solche Intentionen und Wünsche höherer Ordnung anderen Spezies als dem animal symbolicum zur Verfügung stehen: »Only humans […] can ponder on their wishes and want them to be different.«16 Die zwischen Primatologen lebhaft geführte Diskussion um die Formen geteilter Intentionalität haben vielleicht weniger Erkenntnisse über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren als über die des Menschen erbracht. Zweifellos vollziehen Primaten Gruppenaktivitäten. Doch nach Michael Tomasellos Deutung haben die kollaborativen Tätigkeiten schon 18 bis 24 Monate alter Kinder diese Tätigkeiten selbst zum Gegenstand, kein übergeordnetes Ziel. Kooperation um des Kooperierens willen verdankt sich dem schon früh aufkommenden Motiv, Interesse und Aufmerksamkeit zu teilen. Diese gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) als ein »two people experiencing the same thing at the same time and knowing together that they are doing this«17 führt zu Formen von Gruppenaktivitäten, die sich von denen der Primaten darin unterscheiden, dass sie auch dann ausgeführt werden, wenn keinerlei »benefit for themselves« zu erwarten steht. Nicht erst Sprache an sich oder Bewusstsein von Etwas, sondern deren noch vorsprachliche Präadaptation, nämlich die symbolische Beziehung einer shared intentionality, markiert für Tomasello die mögliche Gattungsdifferenz: »Shared intentionality is a small psychological difference that made a huge difference in human evolution in the way that humans conduct their lives.«18 Eine solche gruppenpsychologische Wir-Intentionalität wäre also nicht erst durch ein explizites Bewusstsein von dem so entstandenen »Wir« erzeugt (im Unterschied zur gruppensoziologischen Wir-Intentionalität)19, sondern durch eine Tätigkeit, innerhalb deren »the collaborative activity itself seemed to be more rewarding than the instrumental goal.«20 Das hat Auswirkungen auf Blickfolge und Gestik. Beide Verhaltensformen äußern sich artspezifisch verschieden und wurzeln in der Eigenart der jeweiligen kollaborativen Tätigkeiten. Weil Primaten weder perlokutionäre kommunikative Intentionen verstünden noch zu Rollenwechseln in nicht-zweckgerichteten kollaborativen Tätigkeiten fähig seien, beherrschten sie auch die symbolisch hochprägnante Geste des Fingerzeigs nicht.21 Dagegen führen Primatologen wie Volker Sommer empirische Befunde an, die belegen sollen, dass etwa auch bei Schimpansen explizit unzweckmäßige Tätigkeiten und »irrationale Traditionen« (wie die des Augeneindrückens oder Kieselklackerns) der »emotionalen Synchronisation« und so dem »Gefühl eines kollektiven ›Wir‹«22 dienten. 11 · Mentalese
MAG UMSTRITTEN sein, ob nun die Geste des Fingerzeigs artspezifisch menschlich ist und in ihrem Gebrauch bereits das Vermögen geteilter Intentionalität anzeigt oder ob das Begreifen der kollaborativen Intentionalitätsstruktur imitativ erlernter Interaktionen den – taxonomisch gesehen – »anderen« hominidae nicht offen steht, so scheint doch unbestritten, dass auch diese im Spielverhalten, im Suchen und Planen...


Westerkamp, Dirk
Dirk Westerkamp ist Professor für theoretische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und Mitherausgeber der 'Zeitschrift für Kulturphilosophie'. Zuletzt erschien in der 'Blauen Reihe': Sachen und Sätze. Untersuchungen zur symbolischen Reflexion der Sprache (2014).

Dirk Westerkamp ist Professor für theoretische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und Mitherausgeber der "Zeitschrift für Kulturphilosophie". Zuletzt erschien in der "Blauen Reihe": Sachen und Sätze. Untersuchungen zur symbolischen Reflexion der Sprache (2014).



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