Westheim / Welzbacher | Heil Kadlatz | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

Westheim / Welzbacher Heil Kadlatz


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95757-133-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

ISBN: 978-3-95757-133-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Kadlatz hätte nicht Berliner Portier sein müssen, wenn es ihn schließlich nicht doch herausgetrieben hätte aus seiner Loge, um zu sehen, was los war. Es gehörte ja sozusagen zu seinen beruflichen Obliegenheiten zu wissen, was im Haus, vor dem Haus und um das Hausherum vor sich ging.' Paul Westheims satirischer Klassiker 'Heil Kadlatz', 1936 als Fortsetzungsroman im 'Pariser Tageblatt' erschienen, erzählt in rasantem Tempo den aufhaltsamen Aufstieg des Nationalsozialismus am Beispiel des ehrgeizigen Hausmeisters Kadlatz, der buchstäblich über Leichen geht, um am Ende selbst unter die Räder zu geraten: Westheim zeichnet in spannungsreichen, von ironischen Spitzen sprühenden Szenen ein von Großmannssucht, Spießbürgerlichkeit und Selbstgerechtigkeit grundiertes Berliner Sittenbild um 1933, das ein pointiertes Erklärungsmuster für das 'neue' Deutschland bot - und Hoffnung auf das baldige Ende des Nationalsozialismus weckte.

Paul Westheim, geboren 1886, war Kunsthistoriker und gehörte zu den wichtigsten publizistischen Vermittlern der Klassischen Moderne in Deutschland und Frankreich. Zwischen 1917 und 1933 war er Leiter der Zeitschrift 'Das Kunstblatt', einem der bedeutendsten Sprachrohre der Moderne. Im Sommer 1933 floh er nach Paris, wo er als einer der zentralen Publizisten der Emigration wirkte. Nach Aufenthalten in mehreren Internierungslagern gelang Westheim die Ausreise nach Mexiko, wo er bis zu seinem Tod 1963 lebte und arbeitete.

Westheim / Welzbacher Heil Kadlatz jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


»Een Spion! Vater, een englischer Spion in unsere Straße«, aufgeregt stürzte Gustav in die Portierloge. Herr Kadlatz, Portier eines hochherrschaftlichen Hauses am Hohenzollerndamm in Wilmersdorf, war gerade vertieft in eine der Broschüren, die jetzt in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch massenweise verbreitet wurden. Es war darin das Ende des englischen Weltreichs prophezeit, das man von der Flankenseite aus nur aufzurollen brauchte. Die Flanke sei Indien. Mit Hilfe der Türken werde man sich des Suezkanals bemächtigen, der Schlüsselstellung nach Indien. Wenn man nach Niederwerfung der Russen dann auf dem Landwege nach Indien marschiere … Und so. Unwillig über die Störung herrschte Kadlatz den Jungen an: »Doofkopp. Von wejen Spion. Jroßer Bengel, der uf Ostern injesejnet werden soll, un lässt dir von alle Welt verkohlen.« »Jar nich verkohlen. Hast doch selber in de Loge ein Plakat zu hängen: Achtung Spione!« In der Tat verzierten die Loge des Herrn Kadlatz ein paar jener Plakate, die in patriotischem Eifer von amtlichen und nichtamtlichen Komitees gedruckt und in allen öffentlichen Lokalen zum Aushang gebracht worden waren. »Pflanzt Sonnenblumen. Ölgewinnung aus Sonnenblumen!« »Werft keine Obstkerne fort. Deutsches Fett aus Obstkernen.« »Achtung Spione! Mund zu, Augen auf. Bürger seid vorsichtig im Gespräch. Deutschland wimmelt von Spionen, die Euch aushorchen wollen. Jede Nachricht kann dem Feind dienen.« Dass Deutschland von Spionen wimmelte, war selbstverständlich auch die Ansicht von Herrn Kadlatz. Alle Zeitungen waren voll davon und alle Welt war bemüht, durch immer neue Geschichten die Spionagepsychose zu nähren. Man hörte von geheimnisvollen Goldautos, die durch Deutschland rasten, um Gold aus Frankreich nach Russland zu bringen … Von der Wasserleitung in Nürnberg, die die Franzosen mit Cholerabazillen verseucht hätten. Das war sogar amtlich geschwindelt. W. T. B. oder so. Von Sprengkörpern, die man unter Eisenbahnbrücken gefunden habe usw. So war er selbst ja auch Mitglied eines freiwilligen Bahnschutzes geworden, der seine Aufgabe darin sah, Bahnübergänge, Brücken usw. gegen heimtückische Anschläge zu sichern. Was umso erfolgreicher gelang, da von niemandem auch nur der Versuch gemacht wurde, dem Bahnübergang von Wilmersdorf oder Schmargendorf ein Leid anzutun. Da Kadlatz gedienter Mann war, hatte man ihm sogar eines der wenigen Gewehre anvertraut, über die man verfügte. Modell 98, mit dem die Truppen ins Feld zogen, war es freilich nicht, sondern ein ganz veraltetes Ding, mit dem man wohl überhaupt nicht mehr schießen konnte. Immerhin, wie es so in der Ecke der Loge stand, machte es doch einen Ehrfurcht gebietenden Eindruck. Kadlatz konnte sich damit als wehrhafter Mann vorkommen, und wenn er gar, das Gewehr geschultert und die schwarz-weißrote Armbinde des freiwilligen Bahnschutzes umgebunden, durch die Straßen marschierte, imponierte er sich selbst. Wenn er den Jungen ob seiner Spionenmeldung anschnauzte, so eben weil ihm als Vater und Portier Anschnauzen zur zweiten Natur geworden war. Vor allem aber, weil ihn die Bierbankphantasie jenes politisierenden Broschürenschreibers im Augenblick weit mehr interessierte. Der Spion hätte sich zu einer passenderen Zeit entdecken lassen sollen. Gerade hatte er mal einen Moment Ruhe, das heißt: es hatte sich niemand in der Loge eingefunden, mit dem er die Tagesereignisse zu bequatschen gehabt hätte, und da kam der Junge mit seinem Spion angelaufen. »Am Hohenzollerndamm een Spion —?!«, brummelte er. »Jeh man lieber runter nach die Heizung und schlack den Ofen aus.« »Wahrhaftig wahr«, beteuerte der Junge. »Die Schmidten von Nr. 201 hat ihn entdeckt. Aus dem Eckhaus am Emser Platz hat er jeden Abend Pinkelzeichen jejeben!« »Pinkelzeichen! Hahaha!«, lachte Herr Kadlatz. »Pinkelzeichen. Du bist mir ein Held. Weest nich ma, wat Blinkzeichen is. Ick möcht bloß wissen, wat ihr den janzen Tag in der Schule treibt.« Kadlatz hätte nicht Berliner Portier sein müssen, wenn es ihn schließlich nicht doch herausgetrieben hätte aus seiner Loge, um zu sehen, was los war. Es gehörte ja sozusagen zu seinen beruflichen Obliegenheiten, zu wissen, was im Haus, vor dem Haus und um das Haus herum vor sich ging. Vielleicht war das sogar der Teil seiner Obliegenheiten, dem er am gewissenhaftesten nachging. So schlappte er denn, wie er war, in Pantoffeln und Hemdsärmeln auf die Straße, wo vor dem Eingang zur Post – im Erdgeschoss war ein Postamt – ein aufgeregtes Menschenknäuel sich angesammelt hatte und heftig diskutierte. Mittelpunkt war Frau Schmidt, die jedem, der hinzukam, aufgeregt aufs Neue den Fall in aller Umständlichkeit zu schildern versuchte. »Wat soll ick ihn sahrn, Herr Kadlatz! Heutzutage die Menschen, man sollte’t nich für möglich halten. Sie kennen ihm doch, den Denzer, bei uns an die Ecke. Ingenieur bei Siemens, hat’s immer jeheißen. Soll aber einer sin aus’n Jeneralstab von London, habense jetzt rausgekriegt. Haben ihm ooch schon injesperrt, in’t Konzertionslager oder so. Ick wees nich, mir kam er immer schon verdächtig vor. Hat so’n stechenden Blick in’t Ooge, wissense. Na un neulich uf’n Abend, et war so jejen Uhre neune, Aujuste war noch nich zu Hause, ick liege janz jemietlich in’t Fenster, ick hatt’ jrad een Paar Fersen anjestrickt, wat soll ick ihn sahrn, wie ick so een bisschen übern Platz kieke, wat seh ick? Oben bei Denzern aus’t Fenster wat aufleuchten. Een Oogenblick bloß, un wieder weg, un wieder da. Ick denke, nanu, det hat doch wat zu bedeuten, denk ick. Un jrade kommt ooch Aujuste zu Hause. Ick sahre zu Aujusten: Du Aujuste, sahre ick, kiek ma, ob du nischt siehst. Un richtig. Wieder janz deutlich. Ih, du meine Jiete, sahr ick, wat det woll zu bedeuten hat. Det kommt mir verdächtig vor. Un Abend für Abend. Un Willem, wat Aujusten ihr Freund is, der sagt, det is doch klar wie Hiob: Leuchtsignale. Die Sorte is feindlicher Ausländer. Un is vielleicht bestimmt vor een Flieger un vielleicht schmeißense noch ’ne Bombe bei uns uf’n Hohenzollerndamm. – Ick krieje denn ooch een barbarischen Schreck un sahre zu Aujusten, injerickt in de Zeitung müsste so ’ne Sache werden. So ’ne Engländersche, so ’ne mickrige Schrippe, machen sich mausig hier un spionieren —« »Aasbande, rausholen un uf die Wache is det eenzig Richtige«, brüllte einer aus der Menge. »Sahr ick ja ooch. So ’ne Brieders. Ooch noch Engländer«, pflichtete ein anderer bei, »Jott strafe England!« Kadlatz war sich klar, dass da was geschehen müsse. Das Vaterland in Gefahr. Energisch musste da durchgegriffen werden. Überhaupt eine fabelhafte Gelegenheit, dem ganzen Hohenzollerndamm zu zeigen, wie er, Kadlatz, mit feindlichem Spionengesindel umzugehen verstand. »Een Momeng mal«, sagte er, »die Sache wer ick schon infädeln.« Eiligst rannte er in die Loge zurück, zog Stiefel, Rock und Bahnschutzarmbinde an, nahm das Gewehr und stellte sich an die Spitze des Zuges, der in der Hauptsache aus aufgeregt schreienden und spektakelnden Weibern bestand. In der Wohnung der Frau Denzer, die vergeblich versicherte, dass sie gar nicht verstehe, was man von ihr wolle, in Tränen ausbrach und die Polizei anrufen wollte, was Kadlatz aber nicht zuließ, wurde das Eckzimmer gestürmt. Es war das Schlafzimmer der Frau Denzer, das durchwühlt wurde. Vergebens suchte sie den Leuten klar zu machen, dass sie geborene Deutsche wäre, Berlinerin, aus der ihnen allen bekannten Familie der Bolle, die allmorgendlich ganz Berlin mit Milch versorge. Auch der Mann sei geborener Deutscher, er habe nur jahrelang in den englischen Kolonien zugebracht und sich da naturalisieren lassen. Doch von alldem wollte man nichts wissen. Schränke und Schubladen riss man auf, in der Hoffnung, irgendeinen mysteriösen Apparat zu finden, der zu Spionagezwecken bestimmt war. Kadlatz, der Führer, der die strategische Leitung hatte, benutzte die Gelegenheit, einen Ring, der in dem Toilettentisch lag, mitgehen zu lassen. Was war schon dabei. War doch »feindliches Eigentum«. Krieg ist Krieg. Auch eine Flasche Weinbrand, die sich im Esszimmer vorfand, wusste er unbemerkt in die hintere Hosentasche zu bugsieren. Dann nahm man »die Engländerin« mit zur Polizeiwache, wo Kadlatz Bericht erstattete und Frau Schmidt erneut Gelegenheit fand, ihre Erzählung über die allabendlich beobachteten Lichtsignale vorzubringen. Die mit peinlicher Gewissenhaftigkeit durchgeführte polizeiliche Untersuchung ergab, dass die »Blinksignale« offenbar der Widerschein einer Lampe waren in dem großen Toilettenspiegel, der in der Mitteltüre des Kleiderschranks eingelassen war. Vermutlich war beim Öffnen und Schließen der Türe jener Widerschein entstanden, den das durch Spionagegeschichten erregte Gemüt von Augustens Freund für Geheimsignale gehalten hatte. Was Kadlatz nicht hinderte, sich als Held des Tages zu fühlen, der in seiner Loge einem bewundernd lauschenden Publikum erzählte, wie es dank seines...


Paul Westheim, geboren 1886, war Kunsthistoriker und gehörte zu den wichtigsten publizistischen Vermittlern der Klassischen Moderne in Deutschland und Frankreich. Zwischen 1917 und 1933 war er Leiter der Zeitschrift "Das Kunstblatt", einem der bedeutendsten Sprachrohre der Moderne. Im Sommer 1933 floh er nach Paris, wo er als einer der zentralen Publizisten der Emigration wirkte. Nach Aufenthalten in mehreren Internierungslagern gelang Westheim die Ausreise nach Mexiko, wo er bis zu seinem Tod 1963 lebte und arbeitete.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.