Wetzel | Maurice Halbwachs | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 15, 130 Seiten

Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie

Wetzel Maurice Halbwachs


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7445-0107-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, Band 15, 130 Seiten

Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie

ISBN: 978-3-7445-0107-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Maurice Halbwachs (1877–1945) gehört – neben Marcel Mauss – zu den wichtigsten Vertretern der französischen Soziologie in der Nachfolge von Émile Durkheim. Halbwachs gilt als der Klassiker der Gedächtnissoziologie. Dietmar J. Wetzel gibt einen systematischen Überblick über die zentralen Werke und Begriffe von Halbwachs und die ihn dabei prägenden Einflüsse. Er zeigt, dass Halbwachs neben seinen breit rezipierten Gedächtnisstudien ein weitgehend unbeachtet gebliebenes Werk hinterlassen hat, das zur Wiederentdeckung einlädt. In seinen Arbeiten zur Soziologie und Sozialpsychologie des Gedächtnisses – am bekanntesten sind 'Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen' und 'Das kollektive Gedächtnis' – gelingt es Halbwachs als erstem empirischen Soziologen der französischen Schule zu zeigen, dass es sich bei Erinnerungen an die Vergangenheit wesentlich um Rekonstruktionen im Lichte der Gegenwart handelt. Neu zu entdeckende Arbeiten sowie ÜberSetzungen ins Deutsche zeigen jedoch vermehrt, dass das Potenzial einer von Halbwachs intendierten 'Wissenschaft vom Menschen' weit über seine kulturwissenschaftliche Rezeption als Gedächtnisforscher hinausreicht. Halbwachs hat sich mit ganz verschiedenen Themen auseinandergeSetzt, die ihn als 'kompletten Soziologen' ausweisen: Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, Soziologie der sozialen Klassen, Stadtsoziologie, Soziologie des Selbstmordes, soziale Morphologie und Statistik.
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Einleitung
»Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass ein wissenschaftliches Unternehmen, wie es durch den Tod eines Gelehrten wie Maurice Halbwachs unterbrochen wurde, darauf wartet, geradezu danach verlangt, fortgeführt zu werden.« (Pierre Bourdieu) Diese Worte schrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) in seiner Hommage »Die Ermordung von Maurice Halbwachs« (orig. 1987). Inspiriert von dieser Aussage möchte der vorliegende Band einen Beitrag dazu leisten, diesen faszinierenden französischen Gelehrten und politisch interessierten Intellektuellen einem breiteren Lesepublikum bekannt zu machen. Halbwachs hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewirkt und überaus beeindruckende Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften hinterlassen. Dennoch war er jahrzehntelang so gut wie vergessen, was umso bemerkenswerter erscheint, als er doch eine große Bandbreite an immer wieder aktuellen Themen in seinem Werk behandelte: von der kollektiven Psychologie zur sozialen Morphologie, von Klassen- und Bedürfnislagen nicht nur im streng soziologischen Sinne, vom Selbstmord zu Fragen der Demographie, von der Stadtsoziologie zu Fragen des Zusammenspiels zwischen Statistik und Soziologie. Besonderes Augenmerk gilt im vorliegenden Band dem Erschließen seiner Ideen, Argumente und Texte aus einem wissenssoziologischen Blickwinkel. Eine wichtige Rolle, die Halbwachs während seiner intellektuellen Tätigkeit gekonnt und wie fast kein Zweiter in der damaligen Zeit spielte, ist die des Verbreiters der Arbeiten bedeutender ausländischer Autoren in Frankreich: Max Weber, Werner Sombart, Thorstein Veblen, Robert E. Park, Ernest Burgess und John Maynard Keynes verdanken ihre Rezeption in der französischen Soziologie zu einem nicht geringen Teil den Bemühungen Maurice Halbwachs’ (Montigny 2005: 3). Maurice Halbwachs führte ein intellektuell reiches Leben, das mit seinem Tod im Konzentrationslager Buchenwald im Jahr 1945 ein überaus tragisches Ende erfuhr. International bekannt wurde er in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hauptsächlich als Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses. Die in der jüngsten Vergangenheit vor allem von den Kulturwissenschaften im deutschen und im englischen Sprachraum vorangetriebene Rezeption der soziologischen Gedächtnistheorie von Halbwachs führte allerdings zur Vernachlässigung seiner anderen Arbeiten. Diesen verkürzten und einseitigen Blick auf Halbwachs korrigiert und ergänzt die vorliegende Einführung mit einer Analyse der Arbeiten zur sozialen Klasse und zu deren Lebensweisen, zur Statistik, zur sozialen Morphologie, zum Zusammenspiel zwischen Soziologie und kollektiver Psychologie und auch zum Selbstmord (Abschnitt VI). Dies geschieht nicht zuletzt, um die Produktivität und Originalität des französischen Denkers in diesen Feldern einführend unter Beweis zu stellen. Methodisch orientiert sich diese Arbeit an der von Lothar Peter ausgearbeiteten Methodologie soziologiegeschichtlicher Forschung (Peter 2001). Peter unterscheidet systematisch zwischen einer »sozialen« (institutions- und akteursorientierte Aspekte), einer »kognitiven« (wissenschafts- und soziologiehistorischer Kontext, Theoriebezüge) und einer wirkungsgeschichtlichen Dimension. Vor der Folie einer solchen Einteilung erschließt dieser Band Halbwachs’ Werk in einführender und systematischer Art und Weise. Für Frankreich ist in den letzten Jahren ein vermehrtes Interesse an Halbwachs auch in biographischer und systematischer Absicht zu verzeichnen. Zu nennen sind vor allem die Biographie von Annette Becker (2003), Maurice Halbwachs. Un intellectuel en guerres mondiales 1914–1945, die Arbeit von Gilles Montigny (2004) und der Sammelband von de Montlibert (1997). Demgegenüber existiert in Deutschland bislang außer einigen wenigen Überblicken keine Biographie und Werkanalyse in systematischer Absicht. Ein an der Biographie und dem wissenschaftlichen Milieu orientierter Ansatz verdeutlicht in einem ersten Zugang, warum und inwiefern Maurice Halbwachs neben Marcel Mauss, Robert Hertz und François Simiand als einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler Frankreichs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten muss. Präsentiert wird ein Sozialforscher par excellence, der in unmittelbarer Nachfolge von Durkheim dessen Arbeiten konsequent weiterführte, letztlich aber auch veränderte. Methodologisch u. a. an dem Ökonomen Simiand und dessen Arbeiten zur Statistik orientiert, vermochte Halbwachs die wirtschaftlichen Verhaltensweisen im Rahmen konkreter gesellschaftlicher Gruppen empirisch zu erforschen (Abschnitt I und II). Nicht zu unterschätzen sind die Einflussnahmen und Wirksamkeiten einiger Persönlichkeiten, mit denen Halbwachs zeit seines Lebens im Sinne von Lehrern, Freunden, Kollegen und Weggefährten Bekanntschaft machte. Seine wichtigsten Lehrer waren zweifellos der Philosoph Henri Bergson und der Soziologe Émile Durkheim. Im Grunde genommen dienten sie Halbwachs stets als (kritische) Bezugspunkte, und zwar sein ganzes intellektuelles Leben lang. François Simiand und Marcel Mauss, die beide zur Speerspitze der Durkheim-Schule zählen, waren mit Halbwachs befreundet, aber eben auch Konkurrenten, wenn es beispielsweise um die Ausrichtung des Durkheim’schen Erbes ging (Abschnitt III). Charles Blondel schließlich konkurrierte mit Halbwachs in dessen Straßburger Zeit um ein angemessenes Verständnis der Sozialpsychologie, respektive um die Abgrenzung zwischen Soziologie und (kollektiver) Psychologie. Nach einer Darstellung der Halbwachs’schen intellektuellen Persönlichkeitsowie deren Einbettung in das wissenschaftliche Umfeld und die ihn prägenden Persönlichkeiten werden die zentralen Aspekte seiner drei fundamentalen Gedächtnisstudien herausgearbeitet. Sie gelten zu Recht als das Herzstück der von Halbwachs passioniert betriebenen Soziologie. In diesen Arbeiten zur Soziologie und Sozialpsychologie des Gedächtnisses – Les cadres sociaux de la mémoire (1925a), La topographie légendaire des évangiles en Terre sainte (1941) sowie La mémoire collective (1950) – gelang es Halbwachs, als dem ersten wirklich empirisch arbeitenden Soziologen der französischen Schule, zu zeigen, dass es sich bei Erinnerungen an die Vergangenheit wesentlich um Rekonstruktionen im Lichte der Gegenwart handelt. Statt einer verkürzten, weil individualistischen Sichtweise, für die vor allem Halbwachs’ ehemaliger Lehrer Henri Bergson steht, zeigte Halbwachs im Rahmen seiner »kollektiven Psychologie« auf, in welcher Art und Weise das kollektive Gedächtnis kein Archiv ist, das die Ereignisse als Kopie ablegt und als Erinnerung beliebig abrufbar macht. Vielmehr werden diese Ereignisse im Prozess des Erinnerns bearbeitet, indem gewisse Erlebnisse ausgewählt, dadurch aber auch stets verformt werden. Andere Ereignisse geraten vollkommen in Vergessenheit. Kollektive Gedächtnisse, so argumentierte Halbwachs ab den 1920er-Jahren immer wieder, garantierten ihren Trägern den Zusammenhalt in der Gegenwart und sicherten zudem eine Kontinuität, die in die Zukunft verweise. Gerade wenn sich kollektive Gedächtnisse als konstitutiv für soziale Gemeinschaften (Familie, religiöse Gruppen, soziale Klassen) erwiesen, setzten sie allfälligen sozialen Unbeständigkeiten eine Form der Dauerhaftigkeit entgegen. Eine konkrete Anwendung seiner Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis legte Halbwachs mit seiner bislang nicht so sehr bekannten Arbeit zu den Stätten der Verkündigung im Heiligen Land (dt. 2003) vor. Hier interessierten ihn die Gedächtnisorte, die den Lebens- und Leidensweg von Jesus Christus nachzuzeichnen helfen. Im Sinne einer praktischen Anwendung belegen die Gedächtnisstudien die Bedeutsamkeit materieller Strukturen für soziale Gruppen, mitunter für ganze Bevölkerungen (Abschnitt IV). Neben diesen, bereits ins kollektive Gedächtnis der Kultur-und Sozialwissenschaften eingegangenen Gedächtnisstudien bearbeitete Halbwachs – wie bereits angedeutet – eine große Anzahl sozialwissenschaftlicher Themen aus einer interdisziplinären Perspektive. Wie zuvor bei den Studien zum kollektiven Gedächtnis begegnen wir hierbei einem Autor, der durch seine schier unerschöpfliche Neugier ebenso besticht wie durch ein gleichfalls klares Bewusstsein bezüglich der durch Durkheim begonnenen, aber keineswegs abgeschlossenen Formierung der Soziologie als eigenständiger Disziplin. Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1917 artikulierte Durkheim mit einiger Beharrlichkeit, nicht zuletzt mit der Gründung einer eigenen Zeitschrift (Année sociologique) und dem damit verbundenen Aufbau einer eigenen Schule, je eigene Gebietsansprüche der Soziologie erfolgreich. Bei Halbwachs scheinen jedoch dogmatische Absichten, die Durkheim unverkennbar vertreten hatte (weil er dies im Kampf um disziplinäre Abgrenzungen auch musste), zugunsten einer produktiven Orientierung an den Nachbardisziplinen, also Psychologie, Ökonomie, Geschichte und Geographie, weitgehend verschwunden zu sein. Dieses multiperspektivische Vorgehen zeigt sich bereits bei den früh von Halbwachs aufgeworfenen Fragen nach den sozialen Klassen und ihren Bedürfnissen. Überzeugend erbrachte Halbwachs hier...


Dietmar J. Wetzel ist wissenschaftlicher Assistent und Dozent am Institut für Soziologie der Universität Bern.



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