Wharton | Das Haus der Freude | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 486 Seiten

Wharton Das Haus der Freude

E-Book, Deutsch, 486 Seiten

ISBN: 978-3-15-961859-3
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lily Bart ist jung, schön und ein gern gesehener Gast auf den gesellschaftlichen Events der New Yorker High Society. Doch mit dem Ruin ihrer Familie kann sie ihr Leben in den feinen Kreisen nur fortführen, wenn sie einen reichen Ehemann findet. Lily muss sich entscheiden: Will sie als bloßes Schmuckstück an der Seite eines Mannes Reichtum und Luxus - oder will sie ein Leben gemäß ihrer tatsächlichen Gefühle? Wie in »Zeit der Unschuld« zeigt sich die Pulitzer-Preisträgerin Edith Wharton auch in ihrer 1905 erschienenen Sozialsatire als kühle Beobachterin, die mit bitterböser Raffinesse die schillernden und oberflächlichen Kreise der Reichen und Schönen zerlegt. - Mit einer kompakten Biographie der Autorin.
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Erstes Buch
I
Selden hielt überrascht inne. Im nachmittäglichen Trubel des Grand Central Bahnhofs hatte der Anblick von Miss Lily Bart seine Augen erfrischt. Es war ein Montag, früh im September, und er kehrte gerade zu seiner Arbeit zurück nach einem kurzen Abstecher aufs Land; aber was machte Miss Bart in der Stadt um diese Jahreszeit? Wenn sie den Eindruck vermittelt hätte, als wolle sie einen Zug erreichen, hätte er daraus schließen können, er habe sie im Moment des Wechsels von einem Landhaus zum anderen getroffen, wo man sich um ihre Anwesenheit stritt, nachdem die Saison in Newport zu Ende gegangen war. Aber ihr anscheinend planloses Verhalten verwunderte ihn. Sie stand abseits von der Menge und ließ diese an sich vorüberziehen in Richtung auf den Bahnsteig oder auf die Straße und gab sich dabei ein ganz und gar unentschlossenes Aussehen, das, wie er vermutete, auch die Maske für ganz bestimmte Absichten sein konnte. Es kam ihm gleich der Gedanke, dass sie auf jemanden warten würde, aber er fragte sich, warum ihn diese Überlegung derart fesselte. Es war nichts Neues an Lily Bart, und doch konnte er sie nie sehen, ohne dass er ein leises Interesse an ihr verspürte; es war typisch für sie, dass sie ständig Spekulationen verursachte, dass selbst ihre einfachsten Handlungen als Resultat weitreichender Absichten erschienen. Einem Impuls von Neugier folgend, verließ er den direkten Weg zum Ausgang und schlenderte an ihr vorbei. Er wusste, dass sie, wenn sie nicht gesehen werden wollte, versuchen würde, ihm auszuweichen, und der Gedanke, dass er so ihre Geschicklichkeit auf die Probe stellen würde, amüsierte ihn. »Mr. Selden – was für ein Glück!« Sie trat lächelnd einige Schritte vor, schon fast begierig in ihrem Bemühen, ihn abzufangen. Einige Leute, die eben an ihnen vorbeieilten, blieben stehen und schauten sich um, denn Miss Bart war eine Erscheinung, die sogar einen eiligen Vorstadtreisenden auf seinem Weg zum letzten Zug anhalten ließ. Selden hatte sie nie strahlender gesehen. Ihr Kopf mit den lebhaften Farben, der sich gegen die matte Tönung der Menge abhob, ließ sie noch mehr auffallen als im Ballsaal, und unter ihrem dunklen Hut und Schleier hatte sie wieder die mädchenhafte Weichheit, die Reinheit der Farbe, die sie nach elf Jahren späten Zubettgehens und unermüdlichen Tanzens zu verlieren begann. Waren es wirklich schon elf Jahre, fragte sich Selden erstaunt, und hatte sie wirklich schon ihren neunundzwanzigsten Geburtstag hinter sich, wie ihre Rivalen behaupteten? »Was für ein Glück!«, wiederholte sie. »Wie nett von Ihnen, dass Sie zu meiner Rettung kommen.« Er antwortete freudig, dass dies zu tun die Mission seines Lebens sei, und fragte, wie die Rettung denn aussehen solle? »Oh, irgendwie – Sie könnten sich sogar auf eine Bank setzen und mit mir unterhalten. Man setzt einen Cotillon lang aus, warum nicht einen Zug lang? Es ist hier schließlich nicht wärmer als in Mrs. Van Osburghs Wintergarten – und einige Frauen hier sind auch kein bisschen hässlicher.« Sie unterbrach sich lachend, um zu erklären, dass sie von Tuxedo aus in die Stadt gekommen sei auf ihrem Weg zu den Gus Trenors auf Bellomont und den Zug um drei Uhr fünfzehn nach Rhinebeck verpasst habe. »Und es fährt kein anderer bis halb sechs.« Sie sah auf ihre kleine juwelenbesetzte Armbanduhr zwischen den Spitzen ihres Ärmels. »Genau zwei Stunden zu warten. Und ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Mein Mädchen ist schon heute Morgen in die Stadt gefahren, um einige Einkäufe für mich zu erledigen, und sollte um ein Uhr nach Bellomont weiterfahren. Das Haus meiner Tante ist abgeschlossen, und ich kenne keinen Menschen in der Stadt.« Sie sah sich bekümmert im Bahnhof um. »Es ist doch noch heißer hier als bei Mrs. Van Osburgh. Wenn Sie Zeit hätten, könnten Sie mich dann nicht ein wenig zum Luftschnappen ausführen?« Er erklärte, dass er ihr ganz und gar zur Verfügung stehe; das Abenteuer schien ihm recht unterhaltsam. Als Zuschauer hatte er sich immer an Lily Bart erfreut, und sein Leben lag so ganz außerhalb ihres Kreises, dass es ihm Vergnügen bereitete, für kurze Zeit auf die plötzliche Vertrautheit einzugehen, die sich aus ihrem Vorschlag ergab. »Sollen wir zu Sherry’s hinübergehen und eine Tasse Tee trinken?« Sie lächelte zustimmend, schnitt aber dann eine kleine Grimasse. »Montags kommen so viele Leute in die Stadt – man kann sicher sein, eine Menge Langweiler zu treffen. Ich bin natürlich so alt wie Methusalem, und es sollte mir nichts ausmachen; aber wenn ich auch alt genug bin, Sie sind es nicht«, wandte sie fröhlich ein. »Ich lechze natürlich nach einer Tasse Tee, aber gibt es kein ruhigeres Eckchen?« Er erwiderte ihr Lächeln, das lebhaft sein Gesicht suchte. Ihre Diskretion interessierte ihn beinahe genauso sehr wie ihre Frechheiten; er war ganz sicher, dass beide zu einem sorgfältig ausgearbeiteten Plan gehörten. Bei der Beurteilung von Miss Bart hatte er sich immer des »Beweises aus Zweckmäßigkeit« bedient. »Die Möglichkeiten, die New York bietet, sind ziemlich mager« sagte er, »aber ich werde zuerst einmal nach einer Droschke sehen, und dann werden wir uns etwas einfallen lassen.« Er führte sie durch das Gedränge heimkehrender Urlauber, vorbei an Mädchen mit fahlen Gesichtern und absurden Hüten, an flachbrüstigen Frauen, die sich mit Papierbündeln und Palmblattfächern abmühten. War es möglich, dass sie zu derselben Art gehörte? Die Farblosigkeit, die grobe Machart des Durchschnitts der Frauen machte ihm bewusst, wie delikat sie gearbeitet war. Ein rascher Schauer hatte die Luft abgekühlt, und noch immer hingen Wolken erfrischend über der nassen Straße. »Wie herrlich! Lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen«, sagte sie, als sie aus dem Bahnhof traten. Sie bogen in die Madison Avenue ein und begannen in nördlicher Richtung zu schlendern. Wie sie so neben ihm herging mit ihrem weitausholenden leichten Schritt, kam Selden die Tatsache zu Bewusstsein, dass er ein ungeheures Vergnügen an ihrer Nähe empfand, an der Formung ihres kleinen Ohres, an der kraus nach oben gebogenen Welle ihres Haares – war es vielleicht ein klein wenig künstlich aufgehellt? – und an dem dichten Wuchs ihrer geraden dunklen Wimpern. Alles an ihr war zugleich kraftvoll und exquisit, zugleich stark und fein. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es große Mühen gekostet haben musste, sie zu erschaffen, dass viele öde und hässliche Menschen auf mysteriöse Weise hatten geopfert werden müssen, um sie hervorzubringen. Er war sich bewusst, dass die Qualitäten, die sie vor der Menge ihres Geschlechts auszeichneten, vorwiegend äußerlicher Natur waren, so als ob eine feine Glasur von Schönheit und wählerischem Geschmack über ganz gewöhnlichen Ton gezogen worden wäre. Doch diese Analogie ließ ihn unbefriedigt, denn grobes Material würde man nicht zu solcher Vollendung bringen können, und war es nicht möglich, dass der Stoff, aus dem sie gemacht war, von feiner Qualität war, dass die Umstände ihn aber in eine oberflächlich gearbeitete Form gebracht hatten? Als er diesen Punkt seiner Überlegungen erreicht hatte, kam die Sonne heraus, und ihr aufgespannter Sonnenschirm machte seine Freude an ihrem Aussehen zunichte. Einen Moment später blieb sie stehen und seufzte. »Oje, mir ist so heiß und ich habe solchen Durst; und was für eine scheußliche Stadt New York doch ist!« Sie blickte mit verzweifeltem Gesichtsausdruck die triste Straße entlang. »Andere Städte ziehen im Sommer ihre besten Sachen an, aber New York scheint in Hemdsärmeln dazusitzen!« Ihre Augen wanderten in eine der Seitenstraßen. »Jemand war dort wenigstens menschlich genug, ein paar Bäume zu pflanzen. Wollen wir in den Schatten gehen?« »Ich freue mich, dass meine Straße Ihre Zustimmung findet«, sagte Selden, als sie um die Ecke bogen. »Ihre Straße? Wohnen Sie hier?« Sie betrachtete mit Interesse die neuen Häuserfassaden aus Ziegel und Sandstein mit ihren wunderlichen Variationen, die dem übertriebenen amerikanischen Bedürfnis nach Neuheit entsprachen. Andererseits wirkten die Häuser mit ihren Markisen und Blumenkästen aber auch wieder frisch und einladend. »Ach ja, natürlich: The Benedick. Was für ein hübsches Haus! Ich glaube nicht, dass ich es schon einmal gesehen habe.« Sie sah zu dem flachen Gebäude mit seinen Marmorsäulen und der pseudo-georgianischen Fassade hinüber. »Welche sind Ihre Fenster? Die mit den heruntergelassenen Markisen?« »Im obersten Stockwerk, ja.« »Und der nette kleine Balkon, ist das Ihrer? Wie schön kühl es da oben aussieht!« Er zögerte einen Moment. »Kommen Sie herauf, und sehen Sie es sich an«, schlug er vor. »Ich kann Ihnen in kürzester Zeit eine Tasse Tee anbieten – und Sie werden keine Langweiler treffen.« Die Farbe ihrer Wangen vertiefte sich um ein weniges – noch immer verfügte sie über die Fähigkeit, zur rechten Zeit zu erröten –, aber sie nahm seinen Vorschlag so leichthin auf, wie er gemacht worden war. »Warum nicht? Es ist zu verlockend – ich werde das Risiko eingehen«, erklärte sie. »Oh, ich bin nicht gefährlich«, sagte er in demselben Ton. Wahrhaftig, er hatte sie noch nie so gemocht wie in diesem Augenblick. Er wusste,...


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