E-Book, Deutsch, Band 9, 800 Seiten
Reihe: Anaconda Gesammelte Werke
Wilde Oscar Wilde, Gesammelte Werke
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7306-9053-6
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 9, 800 Seiten
Reihe: Anaconda Gesammelte Werke
ISBN: 978-3-7306-9053-6
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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ERSTES KAPITEL
Das Atelier war erfüllt von starkem Rosenduft, und wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten draußen bewegte, drang durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders oder der zartere Duft der Rotdornblüten. Lord Henry Wotton lag auf einem Diwan mit persischen Satteltaschen und rauchte, wie gewöhnlich, unzählige Zigaretten. Von seiner Ecke aus konnte er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbenen Goldregenblüten sehen, deren zitternde Zweige kaum noch die Last ihrer flammenden Schönheit zu tragen schienen; dann und wann grüßten auch durch die langen Seidenvorhänge, die vor das große Fenster gezogen waren, fantastische Schatten vorbeifliegender Vögel. Das gab einen Augenblick eine japanische Stimmung und ließ den Liegenden an die Maler von Tokio denken mit den, wie aus blassem Bernstein geschnitzten Gesichtern, die mit den Mitteln einer Kunst, die nur unbeweglich sein kann, die Empfindung von Schnelligkeit und Bewegung hervorzubringen suchen. Das dumpfe Summen der Bienen, die ihren Weg durch das hohe, ungemähte Gras suchten oder mit zäher Beharrlichkeit um die goldbestäubten Trichter des wuchernden Geißblatts kreisten, ließ die Stille noch drückender erscheinen. Das dumpfe Brausen Londons wirkte wie die Basstöne einer fernen Orgel. In der Mitte des Raumes lehnte auf einer aufrechten Staffelei das lebensgroße Bild eines ganz außerordentlich schönen Jünglings, und vor der Staffelei saß, ein paar Schritte weit entfernt, der Maler Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen merkwürdigen Vermutungen Anlass gegeben hat. Während der Maler die graziöse und anmutige Gestalt ansah, die seine Kunst so kunstvoll gespiegelt hatte, schien ein heiteres Lächeln über sein Gesicht zu gehen und dort zu verweilen. Plötzlich aber fuhr er auf, schloss die Augen und presste die Finger auf die Lider, als fürchte er, aus einem seltsamen Traum zu erwachen, und suche, ihn im Gehirn festzuhalten. »Es ist Ihr bestes Werk, Basil, das beste, was Sie je gemacht haben«, sagte Lord Henry matt. »Sie müssen es nächstes Jahr unbedingt in die Grosvenor-Galerie schicken. Die Academy ist zu groß und zu gewöhnlich. Immer, wenn ich hingegangen bin, waren entweder so viel Leute da, dass ich die Bilder nicht sehen konnte, was schlimm, oder so viel Bilder, dass ich die Leute nicht sehen konnte, was noch schlimmer war. Die Grosvenor-Galerie ist der einzig richtige Platz.« »Ich glaube nicht, dass ich es überhaupt ausstellen werde«, antwortete der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen Weise zurück, über die schon seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein – will es nicht ausstellen.« Lord Henry zog die Augenbrauen hoch und sah den anderen durch die dünnen blauen Rauchwolken, die in fantastischen Wirbeln von der starken, opiumhaltigen Zigarette aufstiegen, erstaunt an. »Überhaupt nicht ausstellen? Ja warum, mein Lieber? Haben Sie irgendeinen Grund dafür? Was für Käuze ihr Maler doch seid! Ihr tut alles Erdenkliche, euch einen Namen zu machen – habt ihr ihn dann endlich, scheint ihr nur das eine Bedürfnis zu haben, ihn wieder loszuwerden. Das ist sehr dumm von Ihnen, denn es gibt nur eine Sache auf der Welt, die peinlicher ist, als in aller Mund zu sein, und das ist: in niemandes Mund zu sein. Ein Bild wie das da gäbe Ihnen eine Stellung weit über allen jungen Leuten in England und würde die alten rasend machen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.« »Ich weiß, dass Sie über mich lachen werden, aber ich kann es nicht ausstellen. Wirklich nicht. Es ist zu viel von mir selbst darin.« Lord Henry streckte sich auf dem Diwan und lachte. »Ich habe ja gewusst, dass Sie lachen würden; es bleibt aber doch wahr.« »Zu viel von Ihnen selbst? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie gedacht, dass Sie so eitel sind! Ich kann wirklich keine Ähnlichkeit entdecken zwischen Ihnen mit Ihrem rauen, strengen Gesicht und dem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der aussieht, als wäre er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Mein lieber Basil, er ist ein Narziss, während Sie … Natürlich haben Sie ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber die Schönheit, die wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört die Harmonie jedes Gesichts. Sobald man sich hinsetzt, um zu denken, wird man nur Nase oder nur Stirn oder sonst etwas Gräuliches. Sehen Sie sich doch einmal alle die Leute an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet haben. Sie sind alle ausgesprochen hässlich. Natürlich mit Ausnahme der Geistlichen. Aber die Geistlichen denken eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch dasselbe, was er als achtzehnjähriger Bursch gesagt hat, und infolgedessen sieht er entzückend aus. Ihr geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen Sie mir nie verraten haben, dessen Bild mich aber bezaubert, denkt niemals. Davon bin ich ganz überzeugt. Er ist so ein hirnloses, schönes Geschöpf, wie wir sie im Winter immer um uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum Ansehen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas brauchen, unseren Geist abzukühlen. Geben Sie sich keinen Illusionen hin, Basil: Sie sehen ihm ganz und gar nicht ähnlich.« »Sie haben mich nicht verstanden, Henry«, antwortete der Künstler. »Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich – das weiß ich selbst. In Wirklichkeit wäre es mir gar nicht recht, wenn ich ihm ähnlich sähe. Sie brauchen gar nicht die Achseln zu zucken. Es gibt eine besondere Tragik der physischen und geistigen Vornehmheit, die dem Schicksal der Könige gleicht, deren Irrwegen in der Weltgeschichte man immer wieder nachspürt. Es ist besser, sich von seinen Nebenmenschen nicht allzu sehr zu unterscheiden. Die Hässlichen und die Dummen haben’s am besten in dieser Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel begaffen. Sie wissen nichts von Siegen, aber auch Niederlagen bleiben ihnen erspart. Sie leben dahin, wie wir alle es sollten: ungestört, gleichgültig und ohne Missbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil, empfangen kein Unheil von fremder Hand. Wir anderen müssen alle bezahlen: Sie für Ihren Stand und Reichtum, ich für meinen Geist, so viel ich davon habe, für meine Kunst, so viel sie wert ist, Dorian Gray für seine schöne Erscheinung, wir alle müssen für die Geschenke der Götter leiden, furchtbar leiden …« »Dorian Gray? Heißt er so?«, fragte Lord Henry, durch das Atelier auf Basil Hallward zugehend. »Ja, so heißt er. Ich wollte Ihnen eigentlich seinen Namen nicht nennen …« »Aber warum nicht?« »Ich kann Ihnen das nicht so genau erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr lieb habe, verrate ich seinen Namen keiner Seele. Das käme mir vor, als lieferte ich einen Teil von ihm aus. In mir wächst immer mehr die Vorliebe für alles Geheimnisvolle. Das scheint noch die einzige Art zu sein, wie man unser modernes Leben rätselhaft und wunderbar gestalten kann. Die gewöhnlichste Begebenheit wird entzückend, wenn man sie vor anderen verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich einmal wegfahre. Wenn ich’s täte, wäre mein ganzes Vergnügen hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt doch ein wenig Romantik ins Leben. Sie halten mich jetzt wohl für sehr töricht?« »Nicht im Geringsten«, antwortete Lord Henry. »Nicht im Mindesten, mein lieber Basil. Sie scheinen zu vergessen, dass ich verheiratet bin, und dass der Hauptreiz der Ehe ja darin liegt, dass beide Teile gezwungen sind, ein Leben der Täuschung und Verstellung zu führen. Ich weiß nie, wo meine Frau ist; meine Frau weiß nie, was ich mache. Wenn wir uns treffen – und wir treffen uns gelegentlich, wenn wir zu demselben Diner geladen sind oder einmal gleichzeitig zum Herzog aufs Land fahren –, erzählen wir uns die albernsten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau kann das glänzend – ohne Frage weit besser als ich. Sie verwickelt sich nie in Widersprüche, was bei mir beständig vorkommt. Wenn sie mich aber dabei ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Manchmal wünschte ich, sie tät es – aber sie lacht mich nur aus.« »Ich hasse die Art, wie Sie über Ihre Ehe sprechen, Henry«, sagte Basil und ging auf die Tür zu, die in den Garten führte. »Ich glaube, Sie sind in Wirklichkeit ein sehr guter Ehemann und schämen sich dessen bloß. Sie sind überhaupt ein absonderlicher Mensch: Sie sagen nie etwas Moralisches und tun nie etwas Unmoralisches. Ihr Zynismus ist nichts als Pose.« »Natürlichkeit ist nichts als Pose. Und zwar die ärgerlichste, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus. Die beiden jungen Männer gingen nun zusammen in den Garten hinaus und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. Die Sonnenlichter tanzten über die glatten Blätter. Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen. Nach einer Weile zog Lord Henry die Uhr und sagte leise: »Ich muss leider fort, Basil. Aber bevor ich gehe, müssen Sie mir noch die Frage beantworten, die ich vorhin an Sie gerichtet habe.« »Was war das?«, sagte der Maler, die Augen fest zur Erde gerichtet. »Sie wissen es sehr gut.« »Ich weiß es nicht, Henry.« »Gut, ich will also nochmals fragen: Erklären Sie mir, warum Sie Dorian Grays Bild nicht ausstellen wollen. Ich möchte...