E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Wind / Brandis / Schleheck Einmal kurz die Welt retten
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8392-7080-6
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prämiert mit dem Skoutz Award 2023
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Kriminalromane im GMEINER-Verlag
ISBN: 978-3-8392-7080-6
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Welt steht vor dem Kollaps. Den führenden Wissenschaftlern zufolge werden im Jahr 2052 wichtige Ressourcen aufgebraucht und große Teile der Welt aufgrund des Klimawandels unbewohnbar sein. Milliarden Menschen drohen Obdachlosigkeit, Hunger und Armut.
24 dramatische, sarkastische, skurrile und tiefsinnige Kurzgeschichten deutschsprachiger Topautorinnen und -autoren widmen sich den drängendsten Themen unserer Zeit und regen zum Nachdenken an. Sie sind ein Appell an uns alle: Der Kampf um das Morgen muss heute beginnen!
Mit Geschichten von Dieter Aurass, Raoul Biltgen, Katja Brandis, Veronika A. Grager, Anne Grießer, Petra K. Gungl, Reinhard Kleindl, Regine Kölpin, Beatrix Klamlovsky, Uwe Laub, Mari März, Günter Neuwirth, Regina Schleheck, Claudia Schmid, Ursula Schmid-Spreer, Ingrid Schmitz, Alex Thomas, Heidi Troi, Eva Maria Nielsen, Fenna Williams, Barbara Wimmer, Janet Zentel und Jennifer B. Wind.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Beckmeisters Geschäfte
Von Katja Brandis
Gewidmet Sir Frederick Grant Banting und Charles Best, die das Insulin beim Menschen entdeckten und zum ersten Mal isolieren konnten. Bayern 2052 »Was meinen Sie, Lunita, werden die Bauerntölpel im nächsten Kaff aus ihren Ställen kriechen, um uns Umsatz zu bescheren?« Quentin Beckmeister schnickte einen Staubfussel vom Ärmel seines Armani-Jacketts. Es tat ihm in der Seele weh, wie angeschmuddelt es inzwischen wirkte. Im letzten Ort hatte er zwar eine Reinigung gefunden, doch die war komplett ausgebrannt gewesen. Ärgerlich. »Ist … mir … egal«, keuchte Lunita und trat kräftiger in die Pedale der Elektro-Fahrrad-Rikscha, die er in einem Anflug von Sentimentalität für seinen Kindheitshelden »Beckmobil« getauft hatte. Wegen des bedeckten Himmels zog der von Solarmodulen auf dem Dach gespeiste Motor nicht richtig, und seine einzige Mitarbeiterin war völlig verschwitzt. Ekelhaft. Und sie mochte das sogar, nannte es »fit bleiben«. »Es sollte Ihnen nicht egal sein, schließlich zahlen diese Leute sozusagen Ihr Gehalt«, gab Beckmeister zu bedenken und hielt den Atem an, als sie an einer Wohnsiedlung vorbeikamen. Weil das Wasser- und Abwassersystem nur noch sporadisch funktionierte, hatten viele Leute sich in ihren Gärten Außenklos gebaut. Außerdem hing ein beißender Geruch nach brennendem Müll in der Luft. »Nein, mein Gehalt zahlen Sie, und wo bleibt eigentlich die Erhöhung?«, fragte Lunita – sie war zehn Jahre jünger als er, noch nicht mal 30 – und strampelte weiter, ohne sich zu ihm umzuwenden. Was schade war, denn sie hatte ein Gesicht, das ihn an Marilyn Monroe erinnerte, und prachtvolle, wellige kastanienbraune Haare, die ihr über den Rücken fielen. »Was für eine Gehaltserhöhung?« »Die, die Sie mir versprochen haben, nachdem ich Sie letzte Woche rausgehauen habe. Als Ihnen dieser Typ auf den Fersen war, dessen Frau Sie …« »Ach so, das«, meinte Beckmeister und lehnte sich entspannt auf seinem Polstersitz zurück. »Na gut. Aber nur, wenn wir diesmal ordentlich Umsatz machen.« Lunita-Aldi Drechsler – ihre Eltern hatten bei ihrer Geburt offensichtlich Geld gebraucht – war eine ehemalige Nachbarin. Früher hatte sie ein Taekwondo-Studio geleitet, das nach dem Großen Kollaps pleitegegangen war, und sie war gezwungen gewesen, sich umzuorientieren. So wie er selbst. Er hatte seine Arbeit als Pharmavertreter wirklich gemocht. Zu schade, dass es keine Pharmaindustrie mehr gab. Beckmeister lehnte sich aus dem Fenster und sah zu, wie das Ortsschild vorbeizog. »Olching«. Eins dieser langweiligen Käffer rund um München. Er hakte den Namen auf seiner schon leicht zerfledderten Landkarte ab, damit er nicht versehentlich noch einmal hierherkam. Nicht sehr schwungvoll parkte Lunita die Rikscha vor dem Gasthaus »An der Amper« und schleppte die Alukoffer mit ihrer Ausrüstung auf ihre Zimmer, während Beckmeister sich darüber informierte, was die Küche hergab. »Wir haben heute Ente«, wisperte ihm die Wirtin zu, eine Frau mit kurzen grauen Haaren, die sie garantiert früher gefärbt hatte. Bestimmt platinblond oder aubergine. »Die meisten sind natürlich längst weggefangen worden, doch ein paar sind gestern auf dem Fluss gelandet. Mein Sohn hat sie gleich erledigt. 100 Euro pro Stück.« »Wunderbar – ich nehme eine«, sagte Beckmeister; für gutes Essen gab er gerne Geld aus. »Für meine Kollegin genügt ein Teller Nudeln.« Er zog ein paar Scheine hervor, denn ohne Vorkasse ging längst nichts mehr. Zum Glück hatte die Frau nicht »Pferdesteak« gesagt, von dem hatte er für längere Zeit genug. Da fast keine Autos mehr fuhren, war er zu Anfang stilecht in einer Pferdekutsche gereist, bis der Gaul sich auf einer Wiese an Äpfeln überfressen hatte und eingegangen war. Da war es Glück im Unglück gewesen, dass Lunita aus einer Metzgersfamilie stammte. »Was machen wir, wenn’s morgen Ärger gibt?«, brummte Lunita, während sie ihre Nudeln hinunterschlang und dabei abwechselnd seine Ente und ihn mit Blicken durchbohrte. »Es wird keinen Ärger geben«, versprach Beckmeister und ließ ihre Blicke an sich abperlen, dabei löste er das Filet geschickt vom Knochen. Seine Mutter hatte sich so gewünscht, dass er Chirurg werden würde. Tja. Vielleicht war es besser, dass sie noch vor dem Großen Kollaps gestorben war – Brustkrebs, zu spät entdeckt, um selbst mit den tollsten Therapien noch etwas bewirken zu können. »Ich check’s noch mal«, meinte Lunita und holte die Karte hervor, um zu überprüfen, ob der Ortsname abgehakt war oder nicht. »Mein Gedächtnis ist perfekt«, sagte Beckmeister eingeschnappt. »Ich war noch nie hier, ganz sicher.« Das war ein wichtiges Element seines Geschäfts. In den ersten sechs Wochen nach dem Großen Kollaps vor zwei Jahren hatte er endlich einen alten Traum wahr machen können – reich zu werden. Villa-mit-Pool-reich. Während die meisten Leute noch jammerten, klagten oder versuchten, mit der neuen Situation klarzukommen, hatte er die glorreiche Idee gehabt, Insulin zu verkaufen. Ohne das Zeug konnten Typ-1-Diabetiker – von denen es sehr, sehr viele gab! – schließlich nicht überleben. Bingo! Sie und ihre verzweifelten Angehörigen hatten jeden Preis für das Zeug gezahlt, das er ihnen anbot und das hauptsächlich aus Wasser mit etwas Desinfektionsmittel bestand. Seit das Internet nicht mehr funktionierte, verbreiteten sich Warnungen nicht mehr besonders schnell, und er hatte wenig Gegenwind bekommen. Leider waren nach sechs bis acht Wochen die meisten Typ-1-Leute weggestorben, doch für die Villa hatte es locker gereicht und Kranke mit anderen Leiden gab es nach wie vor reichlich. Sicher auch hier in Olching, Oberbayern. Am nächsten Morgen begaben Lunita und er sich früh zum Markt, der auf einem Platz neben der Kirche stattfand. Ohne Begeisterung blickte Beckmeister sich um. Dieser Brunnen aus Betonquadern hatte vor 50 Jahren bestimmt sehr modern gewirkt. Die Kirche aus rosabraunen und cremefarbenen Steinen sah ansehnlich aus, dafür wirkte die Hauptstraße abgewrackt, mit Geschäften, deren Schaufenster von Kleinunternehmern gekapert worden waren; Werbespots ihrer Holoprojektoren flackerten über dem Bürgersteig. Sämtliche Dächer waren mit Solarzellen und Regensammelgeräten zugepflastert. »Sie bauen auf, Lunita, ja?«, bat Beckmeister seine Assistentin und drehte rasch eine Runde, um sich über die anderen Stände zu informieren. Die spannende Frage war wie immer – würde es den Stand eines richtigen Arztes geben? Neben dem üblichen Obst, Gemüse und selbst geschlachteten Kleinvieh sah er einen Stand mit Gebrauchtpapier und einen mit Do-it-yourself-Gentechnik. Neben der üblichen Elektroschrott-Ecke betrieb ein frettchenhaft wirkender Mann einen Stand mit Fahrradteilen, Holoprojektoren, Batterien und Regenwasserfiltern. Seine auffallend muskulösen Oberschenkel in Kombination mit seinen dünnen Armen machten Beckmeister misstrauisch. So sahen Leute aus, die vom Richter zu mindestens 75 Kilowattstunden Stromerzeugung und damit bis zu 500 Stunden Strampeln auf einem Standfahrrad verurteilt worden waren. Auch der bärtige Kerl am Waffenstand nebenan wirkte nicht sehr vertrauenerweckend. Unauffällig prägte Beckmeister sich ihre Gesichter ein und schaute sich weiter um. Eine drahtige Frau hatte ein Mobiltelefon und bot Anrufe oder Textnachrichten für fünf Euro das Stück beziehungsweise Tauschware im gleichen Wert an. Unter einem Sonnensegel hatte sich ein Geschichtenerzähler eingerichtet, der seinem Plakat nach eine mehrteilige Geschichte namens »Stranger Things« zum Besten gab. Oh, verdammt. Ein Stück weiter hockte eine Ärztin – laut ihres Schildes »Dr. med. Andrea Bräuer, Allgemeinärztin« – hinter einem Klapptisch und sprach mit dem Patienten auf dem Stuhl daneben. Sie war etwa Ende 30 und hatte nackenlange blonde Haare; obwohl ihre Jeans löchrig war, hatte sie es geschafft, ihren Kittel halbwegs sauber zu halten. Die eingearbeiteten LEDs darin, die bestimmt mal eine Leuchtanimation für ihre Praxis gezeigt hatten, glommen nur noch matt. Schade für dich, Mäuschen, dass du ein Namensschild aufgestellt hast, dachte Beckmeister, schlenderte zu seinem eigenen Stand zurück und setzte seine Maske auf (die verhinderte nicht nur, dass die Kranken ihm ein unschönes Souvenir bescherten, sondern praktischerweise auch, dass ihn jemand wiedererkannte). »Konkurrenz vor Ort«, zischte er Lunita zu, die sich schon im Gasthaus in ihr Krankenschwestern-Outfit mit dem extrakurzen Rock geworfen hatte. »Einfach nicht reagieren, falls sie rüberkommt, klar? Ich mach das schon.« »Klar«, knurrte Lunita, ebenfalls bereits mit Maske, über der ihre großen braunen Augen gut zur Geltung kamen. Dann verkaufte sie einem Mann, der ihr in den Ausschnitt starrte, innerhalb von zwei Minuten drei Fläschchen Wespengift gegen Haarausfall. Sie war gut. Schon war die Kundenschlange an ihrem Stand länger als die bei der deutlich weniger attraktiven und verbissen wirkenden Dr. Bräuer. Die Kundinnen wandten sich meistens nicht an Lunita, sondern an Beckmeister, der keine Schwierigkeiten hatte, eine natürliche Autorität auszustrahlen. »Haben Sie was gegen Herzrasen? Das bekomme ich hin und wieder, wirklich beängstigend«, sagte eine Frau im mittleren Alter, die ihrer schlaffen Haut nach früher mal dick gewesen war. Beckmeister lächelte hinter der Maske. »Aber...