Wolfrum | Rot-Grün an der Macht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 848 Seiten

Wolfrum Rot-Grün an der Macht

Deutschland 1998 - 2005
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-406-65438-1
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Deutschland 1998 - 2005

E-Book, Deutsch, 848 Seiten

ISBN: 978-3-406-65438-1
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die rot-grüne Ära war eine Zeit des Umbruchs. Ihre Wirkungen prägen die Bundesrepublik bis heute. Atomausstieg, Agenda 2010, Krieg und Frieden – es waren dramatische Jahre, in denen Tabus gebrochen wurden. Auf der Grundlage exklusiven Archivmaterials legt Edgar Wolfrum die erste aus den Quellen gehobene Geschichte Deutschlands zwischen 1998 und 2005 vor. Die rot-grünen Jahre sind bis heute umstritten. Epochale innenpolitische Reformen erhöhten den Pulsschlag der Politik und bewirkten eine gesellschaftliche Polarisierung wie selten zuvor. Soziale Krise, forcierte Globalisierung und internationaler Terrorismus: Um die Jahrtausendwende veränderte sich die Welt in einer rasanten Geschwindigkeit. Mit drei Kriegen wurde die Regierung Schröder-Fischer konfrontiert, im Kosovo, in Afghanistan und im Irak. Mehrmals drohte die Koalition auseinanderzubrechen. Die schwierigen und temporeichen Zeitläufte verlangten den Menschen viel ab. Erfolg und Scheitern lagen auf vielen Feldern nahe beieinander. Das glänzend geschriebene Buch entfaltet ein beeindruckendes Panorama des Übergangs vom 20. zum 21. Jahrhundert, behandelt gleichgewichtig Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur und führt uns die Akteure dieser Jahre in ihren Siegen, aber ebenso in ihren Irrungen und Wirrungen vor Augen. Neues und Überraschendes wird zu Tage gefördert – ein spannendes Stück Zeitgeschichte.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zum Buch;3
4;Über den Autor;3
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;Einführung;11
8;Erster Teil: Aufbruch ins 21. Jahrhundert;17
8.1;Panorama;19
8.2;1. «Aber jetzt ist eine andere Zeit» – Der Machtwechsel 1998;26
8.2.1;Kampa 98 und «Neue Mitte»;26
8.2.2;Der Zeitgeist: Kohl=Vergangenheit, Schröder=Zukunft;35
8.2.3;Rückblick: Der Gang der SPD durch die Wüste;39
8.2.4;Rot-Grün in den Ländern und «hessische Verhältnisse»;42
8.2.5;Sind die Grünen regierungsfähig?;46
8.2.6;Schröder, Fischer und das Kabinett;50
8.2.7;Wie historisch war 1998?;55
8.2.8;Euphorie nach dem Wahlsieg, große Erwartungen, erste Enttäuschungen;58
8.3;2. Das Ende der Nachkriegszeit – Der Kosovo-Krieg;64
8.3.1;NATO-Luftschläge;64
8.3.2;Die weltweite Rückkehr des Krieges;66
8.3.3;Zerfall Jugoslawiens;67
8.3.4;Deutsche Beteiligung ohne UN-Mandat?;70
8.3.5;Von Farbbeuteln, Angriffskriegen und Menschenrechten: Zerreißprobe für die Grünen;76
8.3.6;Die Rolle des Verteidigungsministers Scharping;82
8.3.7;Lob der NATO und «Kriegsparteitag» der SPD;85
8.3.8;Kofi Annan und die Fotentwicklung der UNO;93
8.3.9;Schröder: «Führung zeigen!»;94
8.3.10;Fischer-Plan und Scharpings Moskau-Initiative;97
8.3.11;Von «Nie wieder Krieg» zu «Nie wieder Auschwitz»;101
8.3.12;Folgen der Epochenwende;107
8.4;3. «Der gefährlichste Mann Europas»? – Lafontaines Scheitern als Weltökonom;110
8.4.1;Nur 136 Tage;110
8.4.2;Lafontaines finanzpolitische Vorstellungen;110
8.4.3;Auf internationalem Konfrontationskurs;115
8.4.4;Nemax, Goldgräberstimung und Asienkrise;118
8.4.5;Monate der Gereiztheit und des Verdrusses;120
8.4.6;Der Ablauf des Rücktritts;122
8.4.7;Schockstarre in der SPD;127
8.4.8;Das mediale Echo auf den Rücktritt;131
8.4.9;Die Hintergründe im zeitlichen Abstand;134
8.5;4. Der «Dritte Weg» – Globale Strategie für ein neues Regieren?;138
8.5.1;Bill Clinton, Tony Blair und «The Third Way»;138
8.5.2;Die deutsche Debatte zum gesellschaftlichen Wandel;141
8.5.3;Das Schröder-Blair-Papier in Vorbereitung;145
8.5.4;Präsentation in London: «Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokratie»;147
8.5.5;Internationales und deutsches Echo;154
8.5.6;Kritik: Wird die SPD «rosa»?;157
8.5.7;«Konsens und Führung» oder Berliner «Räterepublik»?;163
8.5.8;Der Regierungsstil des «Medienkanzlers»;166
8.6;5. Das «Projekt», die Gesellschaft zu erneuern – Zeit der Reformen;169
8.6.1;Regierungsstil «happy goes lucky»?;169
8.6.2;Gegen «Scheinselbständigkeit und «Billigjobs»: Das 630-Mark-Gesetz;171
8.6.3;Fataler Fehler: Die Formel vom «Doppelpass»;176
8.6.4;Agenda 2000: Das Aktions- und Reformprogramm der EU;182
8.6.5;Anschluss an den Westen: Ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht;185
8.6.6;Der Greencard-Coup und das Zuwanderungsgesetz;187
8.6.7;Für eine Kultur der Toleranz: Lebenspartnerschaftsgesetz;191
8.6.8;Zaubertrank Zivilgesellschaft? «Zukunft des bürgergesellschaftlichen Engagements»;198
8.6.9;Riester-Reform: Das Ende der staatlichen Rente?;203
8.6.10;Dauerbaustelle Gesundheitsreform;209
8.7;6. Umwelt, Klima, Atom – Die neuen Menschheitsfragen;214
8.7.1;Ökologische Steuerreform: «Projekt der Moderne» oder rot-grüner «Murks»?;215
8.7.2;Vom «Benzinschock» nicht erholt: Das schleichende Ende der ÖSR;222
8.7.3;Operation Dosenpfand und LKW-Maut-Debakel;226
8.7.4;Atomausstieg sofort! Trittin prescht vor;230
8.7.5;Müller und Schröder: Nationaler und internationaler «Energiedialog»;237
8.7.6;Die Grünen und der Atomkonsens;240
8.7.7;Deutschland als Vorbild globaler Klimapolitik: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz;245
8.7.8;«Rinderwahnsinn»: Die BSE-Krise in der EU;249
8.7.9;Ministersturz, Furcht vor einer weltweiten Ausbreitung von BSE und Agrarwende;253
8.7.10;Entwicklungspolitik als globale Strukturpolitik;259
8.7.11;Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung (2002) und «Renewables» (2004) in Bonn;264
9;Zweiter Teil: Im Bann des Terrors vom 11. September 2001;271
9.1;Panorama;273
9.2;1. 9/11 und Afghanistan – Vom Befreier zur Kriegspartei;279
9.2.1;«Uneingeschränkte Solidarität», Chronologie der Ereignisse im Kanzleramt;279
9.2.2;Operation «Enduring Freedom»;284
9.2.3;Anspannung der Regierung und hektische Debatte in den Parteien;285
9.2.4;Verwirrung um Donald Rumsfeld;295
9.2.5;Kriegsbeschluss und Vertrauensfrage;297
9.2.6;Petersberger UN-Konferenz;303
9.2.7;«Gutes» ISAF-Mandat und «ungeliebtes OEF-Mandat;306
9.2.8;Wechsel im Verteidigungsministerium: Scharpings Entlassung, Strucks Ernennung;310
9.2.9;Deutschland wird am Hindukuch verteidigt;314
9.2.10;Alte Wehrverfassung und neue Aufgaben der Bundeswehr;317
9.2.11;«Kein Krieg»? Entwicklungen nach 2005;321
9.3;2. Terrorangst und Sicherheit – Politische und mentale Folgen des Globalschocks;327
9.3.1;Ein Klima der Angst;327
9.3.2;RAF-Terrorbekämpfung als Vorbild?;332
9.3.3;Sicherheitspakete I und II;335
9.3.4;Otto Schily, die Grünen und Günther Beckstein;340
9.3.5;«Der attackierte Rechtsstaat» – Kritik;346
9.3.6;«Sicherheit als Bürgerrecht» oder «Sicherheit herstellen, Bürgerrechte sichern»?;350
9.3.7;Alarm: Ein Flugzeug über Frankfurt;353
9.3.8;Gefahr von rechts: NPD-Verbotsverfahren scheitert;357
9.3.9;Terroranschläge in Madrid und in London;361
9.3.10;Internationaler Vergleich: USA, Europa;365
9.3.11;Transnationale Terrorismusbekämpfung;371
9.4;3. Rückkehr und Verwandlung Europas;373
9.4.1;Integration im Westen und Revolution im Osten;373
9.4.2;Die Osterweiterung der EU;376
9.4.3;Rot-grüner Kurswechsel in der Europapolitik?;379
9.4.4;Deutschland als «ehrlicher Makler»? Fischers Europa-Idee;384
9.4.5;Die Einführung des Euro 2002;388
9.4.6;Braucht Europa eine Verfassung? Debatte und Referenden;391
9.4.7;«Kein Club des christlichen Abendlandes»? Die Türkie-Frage;394
9.4.8;Und Russland?;399
9.5;4. Ein Friedenskanzler? – Schröders «Nein» zum Irak-Krieg 2002/03;402
9.5.1;Die Bush-Doktrin;402
9.5.2;Deutschland zwischen Zweifel und Selbstbewusstsein;406
9.5.3;Wahlkampf, der «deutsche Weg»;410
9.5.4;Bushs Rede vor der UNO;418
9.5.5;Herausforderer Edmund Stoiber und die Irak-Frage;421
9.5.6;Motive des Kanzlers;424
9.5.7;Deutsch-französischer Schulterschluss;428
9.5.8;Die Achse Paris-Berlin-Moskau;434
9.5.9;Die Spaltung Europas;436
9.5.10;Feilschen im Weltsicherheitsrat;438
9.5.11;Rot-grüne Außenpolitik mit globalem Anspruch;444
9.5.12;Folgen des Irak-Krieges;452
9.6;5. Das Ende einer Episode? – Wahlkampf und Jahrhunderthochwasser 2002;457
9.6.1;Der Zustand der Opposition und die CDU-Spendenaffäre;457
9.6.2;Die Liberalen auf Abwegen;464
9.6.3;Rot-Grün verliert fast jede Landtagswahl seit 1999;466
9.6.4;Stoiber setzt sich gegen Merkel durch;468
9.6.5;Familienpolitik im Zentrum;474
9.6.6;Der Vergleich: Kanzler gegen Kandidat;477
9.6.7;Erste TV-Duelle in Deutschland und ihr Medienecho;478
9.6.8;Naturkatastrophe: Die Dämme brechen, Kanzler in Gummistiefeln;484
9.6.9;Wo steht der Aufbau Ost?;488
9.6.10;Wahlabend: Stoiber wähnt sich als Kanzler, doch Rot-Grün gewinnt;494
10;Dritter Teil: Agieren aus der Defensive;499
10.1;Panorama;501
10.2;1. Wetterleuchten – Die Folgen von Börsencrash und PISA-Schock;506
10.2.1;Dramatische Haushaltslage 2002/03;506
10.2.2;Was zuvor geschah: Börsencrash und T-Aktien-Debakel;507
10.2.3;Rückblende: Der PISA-Schock;511
10.2.4;Bildungsoffensive: Die Erfolge;512
10.2.5;Bildungspolitik: Die Misserfolge;516
10.2.6;Ein «Blauer Brief» aus Brüssel und die «Entzauberung» von Hans Eichel;518
10.2.7;Kritik von allen Seiten Ende 2002;525
10.3;2. Agenda 2010 – Die Umorientierung Deutschlands;528
10.3.1;Peter Hartz im Französischen Dom: «Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen»;528
10.3.2;Alarm im Maschinenraum der Agenda-Ingenieure;530
10.3.3;Der Totenschein für das «Bündnis für Arbeit»;536
10.3.4;Schröders Agenda-Rede: Politik des kalkulierten Risikos;539
10.3.5;Hartz-Gesetze und Superminister Wolfgang Clement;544
10.3.6;Die Pistole auf der Brust SPD?;549
10.3.7;Die Grünen und die Agenda;557
10.3.8;Große Koalition: Die Agenda im Vermittlungsausschuss;559
10.3.9;Massenproteste, «Montagsdemonstrationen» und Gewerkschaften im Aufruhr;566
10.3.10;Die «Stimme des kleines Mannes»: «Bild»-Kampagne;574
10.3.11;Warum lief alles schief? Einschätzungen im Rückblick;577
10.3.12;Größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte Deutschlands;580
10.4;3. Europäische Erinnerung – Die Berliner Republik und die deutsche Vergangenheit;584
10.4.1;Kulturstaatsminister Michael Naumann …;584
10.4.2;… und das Holocaust-Mahnaml;588
10.4.3;Die Stockholmer Holocaust-Konferenz 2000;598
10.4.4;Boykott der «EU der 14» gegen Österreich;600
10.4.5;Die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter;603
10.4.6;Bundespräsident Johannes Rau in der Knesset;607
10.4.7;Gespaltene Erinnerungskulturen: Die SED-Diktatur;611
10.4.8;Deutsche als Opfer: Flucht und Vertreibung;614
10.4.9;Europäische Normen der Vergangenheitspolitik;616
10.4.10;Ankunft im Kreis der Siegermächte: Normandie 2004 und Moskau 2005;618
10.5;4. Neue Vielfalt – Kunst, Kultur und Zeitgeist der rot-grünen Jahre;626
10.5.1;Von der Bonner zur Berliner Republik;626
10.5.2;Berlin, Wilhelm II. und Schröder;631
10.5.3;Drei Handschriften der «Bundeskulturpolitik»;634
10.5.4;Hannover und die Welt: Expo 2000;639
10.5.5;Der Streit um die «deutsche Leitkultur»;640
10.5.6;Kulturkampf um die Deutung von 1968;646
10.5.7;Von «Good Bye, Lenin!» zu «Der Untergang»;655
10.5.8;Literaturnobelpreis für Günter Grass und die junge Literatur;658
10.5.9;Kunst des «Empire»: Gursky, Rauch, Richter, Majerus;662
10.5.10;Popstars, Castingshows und Vorbilder;668
10.6;5. Rot-grüne Dämmerung – Niederlagen, Affären und Neuwahl 2005;673
10.6.1;Rekordarbeitslosigkeit und «Heidemord» in Schleswig-Holstein;673
10.6.2;Fischers Stern sinkt: Visa-Affäre und NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes;675
10.6.3;Ende des Sparens: Durchlöchern des EU-Stabilitätspaktes;679
10.6.4;Eine Bastion fällt: Der Verlust von Nordrhein-Westfalen;682
10.6.5;Weitermachen oder Neuwahlen?;685
10.6.6;Vertrauensfrage aus Staatsräson;688
10.6.7;Die Rolle des Bundespräsidenten und des Bundesverfassungsgerichts;692
10.6.8;«Schröder muss weg»: Mediale Meinungsmacher und WASG;696
10.6.9;Neue Kraft im Wahlkampf, aber wofür?;699
11;Epilog;704
12;Bemerkungen zur Methode und zu den Quellen – Dank;714
13;Anmerkungen;721
14;Bildnachweis;784
15;Quellen- und Literaturverzeichnis;785
16;Abkürzungsverzeichnis;833
17;Personenregister;835
18;Ortsregister;844


Einführung
1998 ist in der Bundesrepublik Deutschland erstmals eine amtierende Regierung vollständig abgewählt worden – dies hatte es seit ihrer Gründung 1949 noch nie gegeben. Bisher war zumindest ein Koalitionspartner auch in der neuen Regierung vertreten gewesen. Schon für die Zeitgenossen bedeutete der rot-grüne Machtwechsel unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer einen tiefen Einschnitt. Das Hoffen der einen entsprach dem Bangen der anderen. Doch bald sollte sich erweisen, wie gravierend der Umbruch, der weit über den nationalen Rahmen hinausreichte, tatsächlich war. Rot-Grün wurde, halb freiwillig, meist jedoch gezwungenermaßen, zur ersten «globalen» Regierung in Deutschland. Schon seit dem Ende der 1970er Jahre verdichteten sich etliche globale Ereignisse. Doch führte dieser Globalisierungsschub im Wesentlichen nur zu neuen Wahrnehmungsmustern.[1] Um die Jahrtausendwende herum gerieten jedoch nationale Angelegenheiten immer stärker ins Hintertreffen oder waren alleine nicht mehr zu lösen – die Welt veränderte sich schneller als zuvor. Existenzielle globale Probleme wie Krieg und Frieden, Weltklima oder Finanzkrisen schoben sich nach vorne und erforderten ein weltweites gemeinsames Agieren. Die Bedeutung von nationalen Grenzen schwand, wohingegen globale Bezugspunkte zunahmen. Die Globalisierung drang in vielfältigen Formen in die Lebenswelt der Menschen ein, sie spielte sich nicht nur in der Ökonomie ab. Eine sich ständig beschleunigende Globalisierung hieß vor allem, dass kein Konflikt auf der Welt so fern war, um Deutschland und die Deutschen unberührt zu lassen. Neue Fragen des 21. Jahrhunderts brachen mit Wucht herein. Dieses Buch will erklären, wie die unterschiedlichen Entwicklungsstränge, die diese Zeiten anders sein ließen als vorhergehende, zusammengelaufen sind. In der Rückschau lässt sich die Zeit am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert als eine Scharnierzeit beschreiben, in der Tabus gebrochen wurden und große Veränderungen in der Bundesrepublik in Gang kamen. Es waren Jahre des Umbruchs, und Deutschland befand sich mitten in einer Welt des Wandels und veränderte sich darin selbst. Zur alles überwölbenden Grundtendenz der Globalisierung traten vier weitere bewegende Kräfte und Tendenzen der Zeit hinzu. Das erste und wichtigste weitere Kräftefeld, das diese Jahre durchzog, umfasste Fragen von Krieg und Frieden – vom Kosovo-Krieg über den Krieg in Afghanistan bis zum Irak-Krieg. Der internationale Terrorismus, der in den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA gipfelte, wirkte auf die äußeren und die inneren Angelegenheiten der Staaten gleichermaßen zurück. Auch die Einstellungen und Vorstellungen der Menschen waren zeitweilig von einer Kultur der Angst geprägt und gravierenden Wandlungsprozessen unterworfen. Darin eingelagert veränderte sich – als zweites Feld – das Gesicht Europas. Der Untergang des Kommunismus hallte nach, Freiheitsgewinn und neues Risiko gingen dabei Hand in Hand.[2] Das Ende der Zweiteilung der Welt und des Kalten Krieges sowie die Revolution der Staatenwelt führten zu einer Rückkehr und Verwandlung Europas von historischem Ausmaß innerhalb eines nur sehr kurzen Zeitraums. Schon angesichts dieser Entwicklungen war eine «Schönwetterregierung» in der Bundesrepublik nicht möglich, wenngleich die Handelnden im Überschwang des Wahlsieges von 1998 zunächst davon ausgehen mochten. Vielmehr mussten deutsche Sonderrollen, die noch aus der Zeit der Teilung bestanden, mitunter schonungslos verabschiedet und neue Gleise in weitgehend unbekanntes Terrain verlegt werden. Die rot-grüne Zeit kennzeichneten darüber hinaus turbulente und verwirrend hektische Jahre auf einem ganz anderen, dritten Gebiet: Die westlichen Sozialstaaten, allen voran Deutschland, waren in die Krise geraten; sie sahen sich dabei jedoch nicht mehr nur nationalstaatlichen Problemen unterworfen, sondern die von außen kommenden Kräfte und der Wettbewerb mit aufstrebenden Ökonomien wurden zunehmend stärker. Darüber hinaus verbanden sich diese älteren Probleme mit neuen Menschheitsfragen, etwa dem Klimawandel und dem Schutz der Umwelt. Beides zog zunehmend politische und gesellschaftliche Polarisierungen nach sich. Der Pulsschlag der Politik erhöhte sich merklich, und die bisherige ruhige Stabilität der Republik wich einer neuen Unruhe, aber auch größerer Beweglichkeit, nicht zuletzt angesichts solcher globaler Spannungslagen. Schließlich und viertens war das gesellschaftliche Klima 1998 zwar reformfreudig wie schon lange nicht mehr, doch über die Inhalte von Reformen wurde erbittert gestritten. Bisweilen nahm dieser Streit kulturkämpferische Formen an, wobei es eine wesentliche Rolle spielte, dass die 68er-Generation 1998 an die Macht kam, was auf beiden Seiten – derjenigen der Befürworter und derjenigen der vehementen Kritiker von 68 – zu reflexhaften Reaktionen führte. Insgesamt gesehen waren die Jahre zwischen 1998 und 2005 Schlüsseljahre für die weitere Entwicklung des Landes, das stärker als zuvor seiner globalen Verflechtungen gewahr wurde, sich unter dem Druck gesellschaftlicher Modernisierung befand und einen politischen Generationenwechsel durchlebte. Viele der Bilanzen zu Rot-Grün, die während jener Jahre oder unmittelbar nach dem Ende dieses angeblichen «Projektes» geschrieben wurden, haben solche Zwänge, Verflechtungen und Aporien noch gar nicht wahrgenommen. Stattdessen erblickten Journalisten in den rot-grünen Jahren ein «politisches Abenteuer»,[3] und etliche Sozialwissenschaftler begleiteten die Zeit mit wichtigen kleinteiligen Analysen, verloren jedoch das große Ganze aus den Augen oder vermochten es gar nicht zu sehen, besonders deshalb, weil die Quellen noch fehlten.[4] Am Anfang jeder historischen Forschung stehen die Quellen. Empirische, auf neuem Quellenmaterial fußende Forschungen ermöglichen es, Zeitläufte neu zu deuten. Geschichtswissenschaftliche Fragestellungen können davor bewahren, politik- und sozialwissenschaftliche Thesen und Methoden, die in der Zeit selbst entstanden sind, einfach zu übernehmen und fortzuschreiben, anstatt sie in ihrer Zeitgebundenheit wahrzunehmen.[5] Basierend auf reichhaltigem, bisher unveröffentlichtem Material ist es der Anspruch der vorliegenden Untersuchung, eine erste, vollständig aus den Quellen geschöpfte Gesamtdarstellung der rot-grünen Ära vorzulegen. Sie ist wissenschaftlichen Standards verpflichtet und soll zugleich anschaulich geschrieben sein. Um diese Zeit lebendig werden zu lassen, wird ausgiebig aus den Quellen zitiert. Ziel ist es, eine eigenständige historische Perspektive auf die jüngste Vergangenheit zu entwickeln. Abgesehen von solchen wenigen Hinweisen kann diese Einführung aus zwei Gründen knapp gehalten werden: Zum einen, da Bemerkungen zu den Quellen und zur Methode, die sich mit einem Dank an zahlreiche Personen verbinden, im Nachwort zu finden sind. Zum anderen, da die spezifischen Fragen der Untersuchung am Anfang der jeweiligen Großkapitel aufgeworfen werden: Das Buch gliedert sich chronologisch in drei Teile, und jedem Teil ist ein «Panorama» vorangestellt, in dem aus der Vogelperspektive wichtige Zeittendenzen eingefangen und die Leitfragen für den Fortgang der Darstellung benannt werden. Der erste Teil des Buches beschreibt den von einer neuen politischen Generation beabsichtigten schwungvollen Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Rot-Grün peilte eine nachholende Modernisierung der Gesellschaft und ökologische Strukturreformen an, besonders den Ausstieg aus der Atomenergie. Ein neuer «Geist» sollte die Republik am Übergang von Bonn nach Berlin begleiten. Doch vom ersten Tag an brach sich jegliches Vorhaben an der Frage von Krieg und Frieden, an Gewalt und Zivilität, an der Verhinderung einer «humanitären Katastrophe» auf dem Balkan. Rot-Grün und die gesamte deutsche Gesellschaft wurden mit aller Wucht aus der für viele Menschen so behaglichen Nachkriegszeit herausgeschleudert. Wer jedoch geglaubt hatte, mit dem Ende des Kosovo-Kriegs sei das Schlimmste vorüber, irrte gewaltig. Nie zuvor seit 1945 war Deutschland dermaßen mit globalen Herausforderungen konfrontiert wie nach dem Terror von 9/11. Davon handelt der zweite Teil des Buches, der den Blick auf die Terrorismusbekämpfung richtet und die Mentalitäten der Angst darstellt, die viele westliche Gesellschaften ergriff und veränderte. Dass Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde, stellte eine ganz neue Erfahrung dar. Die Beteiligung der Bundesrepublik am Afghanistankrieg wird ebenso geschildert wie das unerhörte deutsche «Nein» zum dritten Krieg innerhalb kürzester Zeit, dem Irak-Krieg, den die neue US-Administration unter George W. Bush unbedingt zu führen gewillt war. Dabei soll auch erläutert werden, welche Folgen dieses «Nein» für Europa und die Welt hatte. Nach der knappen Wiederwahl agierte Rot-Grün seit der Jahreswende von 2002 zu 2003 nur mehr aus der Defensive und schien dem politischen Tod näher als dem Leben. Die Aufbruchstimmung war vollkommen verflogen. Dies ist das Thema des dritten Teils. Die meisten politischen Beobachter hatten damit gerechnet, dass Rot-Grün eine Episode bleiben würde. Doch plötzlich brachte diese...


Edgar Wolfrum, geb. 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, darunter das Standardwerk Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.



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