E-Book, Deutsch, 257 Seiten
Woller Jagdszenen aus Niederthann
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79316-5
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Lehrstück über Rassismus
E-Book, Deutsch, 257 Seiten
ISBN: 978-3-406-79316-5
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In Niederthann gärt eine dunkle Vergangenheit. Das beschauliche Dorf in Oberbayern war in den 1970er Jahren Schauplatz eines Verbrechens, das als Lehrstück für Alltagsrassismus und seine verhängnisvollen Konsequenzen dienen kann: Eine junge Romni verlor ihr Leben, eine andere blieb schwer verletzt zurück. Hans Woller hat den Kriminalfall rekonstruiert und erzählt eine Geschichte voller Abgründe und rassistischer Ressentiments, die uns fern erscheint, aber doch so nahe ist. Denn Fragen wie diese sind nach wie vor brandaktuell: Die Schüsse von Niederthann - könnten sie wieder fallen, wen würden sie diesmal treffen, und würde die Gesellschaft heute anders darauf reagieren als damals, als man den Täter zum Opfer erklärte und den Opfern mit ebenso kaltherziger wie herabsetzender Gehässigkeit begegnete?
In Niederthann fielen 1972 vier Schüsse. Keiner ging daneben. Die Bilanz war schauerlich: eine schwer verletzte Romni und eine tote Romni, die ein Kind im Leibe trug. Sie flohen bereits aus dem Bauernhof, in dem sie überrascht worden waren. Der Todesschütze kam vor Gericht glimpflich davon. Alle standen zu ihm: die Polizei, die Justiz, die katholische Kirche, die CSU, überhaupt die ganze «anständige» Gesellschaft, die sich auch finanziell nicht lumpen ließ. Zahlreiche Kreisräte und Bürgermeister der CSU beteiligten sich ebenso an der Hilfsaktion wie ein Minister, der zusammen mit zwei Kollegen die Hand über den Täter hielt. Um die Opfer und ihre Angehörigen kümmerte sich niemand. SIe waren ja nur «Zigeuner» und sie blieben es, von Empathie bis heute keine Spur. Hans Woller schildert die Hintergründe und Folgewirkungen dieses Kriminalfalles, der als «Zigeuner-Krieg» für Schlagzeilen sorgte.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog Vier Schüsse und viele Fragen
Es ist der Nachmittag des 5. November 1972. Anka steht in einem kleinen Dorf in der Nähe von Pfaffenhofen an der Ilm, 50 Kilometer nördlich von München, keine zwanzig Kilometer von Freising entfernt. Auch Hinterkaifeck (im literarischen Leben Tannöd), der düsterste und rätselhafteste Mordort in Bayern, ist nicht weit. Niederthann, so heißt das Dorf, ist umgeben von sanften Hügeln mit Wiesen, Wäldern und Feldern, aus denen jetzt im Herbst graue Hopfenstangen wachsen und schief zum Himmel deuten. Eine fruchtbare Gegend und uralter Kulturboden; Niederthann wurde fast auf den Tag genau vor 1154 Jahren, am 6. November 818, erstmals urkundlich erwähnt. Die Kirchturmuhr hat soeben drei Uhr geschlagen. Anka hat jetzt noch zehn Minuten zu leben. Die 18-Jährige ist 1,62 Meter groß, sie hat lange schwarze Haare, dunkle Augen und ein freundliches, offenes Gesicht. Sie trägt eine gelbe Strickweste, eine weiß-blau gemusterte Bluse und einen bunten Rock.[1] Die junge Frau sieht sich um. Die Sonne hat ihren Zenit bereits überschritten, Schleierwolken ziehen über den Himmel, über einem sumpfigen Graben steigen feine Nebelschwaden auf. Das Dorf liegt wie verlassen da: eine romanische Kirche mit einem gedrungenen Turm, ein gepflegter Friedhof, auf dem die Reinthaler, Wohlrab und sogar die Stowasser ihre letzte Ruhe gefunden haben, ein paar stattliche Bauernhöfe, die auskömmlichen Wohlstand im Hopfengeschäft verraten, ein kleines Lagerhaus, ein Lebensmittelladen, ein Wirtshaus mit Metzgerei, ein, zwei Autos davor. Ansonsten nichts, keine Menschenseele auf der Straße, im Ort herrscht träger Stillstand, den auch die sieben Schläge der Turmuhr und die dumpfen Klagen der Türkentauben nicht stören. Es ist, als verdaue sich das verkrochene Dorf in solchen Stunden im Schatten der Kirche selbst, wie jeden Sonntag, wenn die Bauern sich ein paar Stunden Ruhe gönnen. Anka wird von vier Mädchen im Alter von elf bis 18 Jahren begleitet. Sie wollen Lebensmittel auftreiben für ihre Leute, die an der nahen Autobahnraststätte warten, sind aber bisher erfolglos geblieben. Wo immer sie klopften und fragten – man wies sie ab. Die Bauern wollen mit den schwarzhaarigen Mädchen in ihren fliegenden Röcken nichts zu tun haben, sie verstehen sie nicht und fürchten sie, weil sie anders sind. Zigeuner nennt man sie, Roma sind sie. Anka ist eine von ihnen und kennt solche missmutigen Zurückweisungen. Die Einheimischen begegnen ihnen fast überall so. Am östlichen Ortsrand, direkt an der Straße, keine 150 Meter von der Kirche weg, liegt ein kleiner unscheinbarer Bauernhof: zweistöckiges Wohnhaus, Stall, Nebengebäude. Das Zauntor steht offen, die Haustür ist nicht abgesperrt. Die Bauersleute sitzen im Wohnzimmer, der Fernseher läuft, Kinder reden laut durcheinander. Ruft Anka, klopft sie an die Tür oder schleicht sie mit den anderen einfach so in das Haus? Polizei und Justiz stehen später vor einem Rätsel. Klar ist nur: Die fünf jungen Frauen und Mädchen betreten das Haus und halten sich im Erdgeschoss nicht lange auf, sie steigen sofort die Treppe hoch, in den ersten Stock, dann in den Dachboden. Sie haben nicht viel Zeit, um sich dort oben genauer umzusehen. Denn schon dringen von unten Geräusche herauf – Mädchenstimmen im Flur, eine knarrende Tür, dann Schritte auf der Steintreppe, die zum ersten Stock führt, und auf der Holztreppe zum Speicher. Es sind die schweren Schritte eines Mannes, die sich im ersten Stock verlieren, und die leichteren einer Frau, die näher kommen, bedrohlich näher. Anka stockt der Atem, sie muss nicht lange überlegen. Sie gibt ihren Begleiterinnen ein stummes Zeichen und stürmt schließlich, die vier Mädchen hinterdrein, Hals über Kopf an der Bäuerin vorbei. Die fünf Romnja hören die gellenden Schreie der Frau, sie hören die kreischenden Kinder, die der Mutter mit einigem Abstand gefolgt sind, und hasten weiter die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Drei, die jüngsten, sind schon durch die Haustür entwischt und auf der Straße, als Schüsse fallen, vier trockene Schüsse kurz hintereinander, abgefeuert auf die fliehenden Mädchen. Keiner geht daneben. Anka ist am schwersten getroffen. Ein Projektil durchdringt ihre Lunge, ihre Speiseröhre und die Brustschlagader, das andere steckt im Unterleib, jeder Schuss hätte für sich allein zum Tode geführt: Die rechte Gesäßhälfte ist verletzt, das Becken zerschmettert, die Gebärmutter durchschossen – und mit ihr der Fötus eines 36 cm großen Kindes; es wäre ein Junge geworden.[2] Anka verblutet auf den untersten Stufen der Treppe. Milena ist auf der Flucht noch über sie gesprungen, wird dann aber kurz vor der Haustür ebenfalls von zwei Schüssen erwischt: Durchschuss der linken Wade und Bauchschuss.[3] Sie kommt schwer verletzt mit dem Leben davon. Still ist es danach nicht mehr in Niederthann, und auch mit der Ruhe ist es für lange vorbei. Vier Schüsse reißen das Dorf aus der gewohnten Ereignislosigkeit. Die tragischen Vorfälle wühlten das ganze Land auf. Das Fernsehen und zahlreiche Zeitungen berichteten über die «Jagdszenen aus Oberbayern»[4], viele auf der ersten Seite mit Bildern des Täters und des Opfers, und der Schriftsteller Bernd Schroeder schrieb ein stark verfremdetes Drehbuch über den Fall, das der Regisseur Hartmut Griesmayr 1977 für das Zweite Deutsche Fernsehen verfilmte. «Notwehr» hieß der in das Aussteiger-Milieu transponierte Film, in dem Stars wie Günter Lamprecht und Friedrich von Thun zu sehen waren.[5] Sogar der Bundesgerichtshof beschäftigte sich zwei Mal mit dem Fall. In der bayerischen Provinz, so hieß es, war ein «Zigeuner-Krieg»[6] ausgebrochen, der damals nach einer Erklärung verlangte und es heute noch immer tut: Wie kam es zu diesem Blutbad? Wer war der Täter? Ein unbescholtener Bürger, ein schießwütiger Waffennarr oder ein fremdenfeindlicher Fanatiker? Eine «Bestie»[7]? Um wen handelte es sich bei den Opfern? Woher kamen sie? Was hatten sie in Niederthann vor? Welche Rolle spielte die Polizei bei der Aufklärung und welche die Justiz bei der Ahndung des Verbrechens? Was bewog den Verteidiger des Täters, einen politisch weit rechts stehenden Anwalt, der bereits bei den Nürnberger NS-Prozessen mitgemischt hatte, immer wieder Öl ins Feuer zu gießen? Von welchen Interessen ließ sich der renommierte Strafverteidiger Rolf Bossi leiten, als er die Vertretung der Roma übernahm? Wie reagierten die örtliche Gesellschaft und die Medien auf die Schüsse in Niederthann? Wie die große Politik, die schon dadurch in den Fall verwickelt war, dass ein bayerischer Minister aus dieser Gegend stammte, dort seinen Wahlkreis hatte und den Täter persönlich kannte? Wie groß war die Versuchung für die Parteien, die Angst vor den «Zigeunern» zu schüren, um die eigenen Reihen zu mobilisieren, oder die «Zigeuner»-Phobie als schändlichen Anachronismus zu verdammen, um den gleichen Effekt bei anderen Wählergruppen zu erzielen? Schließlich befanden sich Bayern und der Bund Anfang der 1970er Jahre fast permanent im Wahlkampfmodus. Überhaupt und generell: Aus welchen Motiven speiste sich die unerhörte öffentliche Resonanz des Falles, der immer weitere Kreise zog? Diese Fragen stehen im Zentrum des Buches. Aber nicht sie allein. Es geht auch um die psychischen Folgen des Verbrechens. Wie kam der Täter damit zurecht, dass er das Leben einer schwangeren jungen Frau auf dem Gewissen hatte? Was erlebten und erlitten seine Ehefrau und seine beiden Töchter, die einen Mann und einen Vater hatten, den man zur «Bestie» erklärte? Wie ging die Dorfgemeinschaft mit ihm und ihnen um? Ähnliche Fragen richten sich an die Gruppe der Roma, aus deren Mitte die Opfer von Niederthann kamen. Anka hinterließ einen Mann und zwei Kinder, die ohne ihre Mutter aufwachsen mussten – sogar ohne Erinnerung an sie; so klein waren sie, als die Tat geschah. Fanden sie je heraus aus dem monströsen Schatten, den der Verlust der Mutter warf? Erhielten sie und das zweite Opfer mit seinen schweren Verletzungen Unterstützung? Materielle Entschädigung gar? Oder blieben sie mit ihren Narben allein, weil man sie für gefährliche Fremde hielt, die nicht dazu gehörten und niemanden zu kümmern brauchten? Nicht zu vergessen die langfristigen politischen Folgen. Niederthann war gewiss nicht überall. Aber überall wuchs wegen solcher und ähnlicher Fälle – und des öffentlichen Streits darüber – das Bewusstsein für die Nöte und Sorgen der Sinti und Roma. Seit Menschengedenken an den Rand gedrängt, geächtet und verfolgt, waren sie im Dritten Reich zu Hunderttausenden ermordet worden, ohne dass sich eine Stimme für sie erhoben hätte. Auch nach 1945 fanden...