E-Book, Deutsch, 162 Seiten
Reihe: Classics To Go
Wolzogen Die Erbschleicherinnen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98744-501-9
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 162 Seiten
Reihe: Classics To Go
ISBN: 978-3-98744-501-9
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Erstes Kapitel.
[Erklärt, warum die Schwestern Mödlinger aus München in Bitterfeld zu weinen anfingen, und warum die Frau Konsul sich vorläufig über die Frau Geheimrat nicht weiter äußerte.] In dem Damenabteil zweiter Klasse des durchgehenden Wagens Ala-Berlin waren alle Vorhänge zugezogen und die blauen Lichtschirme über der trübflackernden Oellampe heruntergeklappt. Es war zwischen fünf und sechs Uhr morgens; draußen begann es zu dämmern, der Regen klatschte gegen die Scheiben und trommelte auf dem Dache des Wagens. Auf der kürzeren der beiden Polsterbänke lag eine sehr dicke ältere Dame ausgestreckt. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, und zwei dünne Zöpfchen baumelten über die Lehne hinaus vor der polierten Tür des Toilettenkämmerchens auf und nieder wie zwei ansehnliche Rattenschwänzchen. Sie hatte sich die Taille und das Korsett aufgeknöpft, eine Reisedecke über sich gebreitet und die Füße in formlosen schwarzen Samtpantoffeln stecken, von denen jedoch der eine heruntergefallen war und einen schwarzen Strumpf sehen ließ, aus dem die große Zehe ziemlich weit herausschaute. Diese gute Dame schnarchte fürchterlich. Sie hatte den Mund weit offen, und ihre feisten Hängewangen wackelten gleichmäßig im Takt, den der rasselnde Zug just angeschlagen hatte. Jetzt gab es einen kleinen Ruck, der Zug bog in eine Kurve ein und schlug gleichzeitig einen andern Rhythmus an, flott hüpfende Anapästen nach der Melodie weiland König Ludwigs: »Wenn der Mut in der Brust seine Spannkraft übt«. Diese plötzliche Veränderung schien die dicke Dame in ihrer Behaglichkeit zu stören; der Mund schnappte zu, sie warf das Haupt mit einem tiefen Seufzer auf die andere Seite und stieß mit dem linken Fuß aus. Die unglückliche junge Dame, welche auf demselben Polster am Fenster die ganze Nacht aufrechtsitzend in arger Bedrängnis hatte verbringen müssen, fuhr, von dem kräftigen Stoß in die rechte Hüfte getroffen, erschreckt zusammen, rieb sich die Augen und blickte verstört umher. Ein trauriger Blick streifte ihre umfangreiche Nachbarin, sie seufzte, zog sich die Handschuhe aus und begann ihr Genick, das ihr von dem langen Sitzen mit vorgebeugtem Kopf ganz steif geworden war, mit den Fingern zu reiben. Dann schob sie die Vorhänge ein wenig auseinander und schaute hinaus. Grau, grau! Weite Ebene ohne Baum und Strauch. Der Regen drückte den Rauchschweif aus der Lokomotive zu Boden nieder, daß er wie aufgeleimt auf dem öden Ackerfeld zur Seite des flachen Bahndammes klebte. Trostlos! Fröstelnd drückte sie sich wieder in ihre Ecke, kreuzte die Arme über der Brust und gähnte. Sie schloß die Augen; aber an Schlaf war in ihrer unbequemen Stellung doch nicht mehr zu denken, und als bald darauf ein langgezogener, wehklagender Pfiff der Lokomotive anzeigte, daß sie sich einer größeren Station näherten, richtete sie sich wieder auf und schob die Gardine zurück. »Du, Kathi,« klang's da vom gegenüberliegenden Polster her, und gleichzeitig bekam sie einen leisen Puff gegen das Knie, »magst nimmer schlafen?« »I möcht' schon, aber die laßt mich ja net!« gab die also Angeredete zurück und deutete mit einem drollig bekümmerten Blick auf ihre schnarchende Nachbarin. »Die ganze Nacht hat s' mi pufft mit ihre Elefantenfüß.« »Ja, und schnarchen tut s' wie a Nilpferd«, erwiderte das andere junge Mädchen, das noch lang ausgestreckt dalag und gähnend die Arme aufwärts reckte. »Na weißt, Lizzi, du kannst doch net klagen. Wie hast denn du dees ang'stellt, daß di so bequem niederg'legt hast?« versetzte die große Kathi. »I hätt' mi net traut, wo doch die Dame da sich z'erst ausg'streckt hat.« Lizzi richtete sich leise kichernd auf, winkte die Schwester näher heran und flüsterte ihr, sich zu ihr hinüberbeugend, ins Ohr: »Du, des ham mir schlau g'macht: z'erst hab' ich bloß a biß'l die Knie 'raufzogen und dann nach 'er halben Stund hab' i ein Bein vorg'streckt und wieder nach 'er halben Stund dees andre – und dabei hab' i mi g'stellt, als ob i fest schlafen tät, hab' an tiefen Schnaufer getan und mi auf die andre Seiten 'rumgedreht, daß s' hat meinen müssen, i wüßt' von nix. I hab's wohl g'hört, wie's Au geschrien und g'schimpft hat, aber was kann denn i dafür, was i im Schlaf tu'! Mit beide Füß bin i auf ihr drauf g'legen, aber z'letzt is ihr dees doch z'viel worden und nah hat's ihre magern Steckerln fei 'runter tun müssen, siext's!« Mit schadenfrohem Gekicher wandten sich die beiden verschlafenen Mädchenköpfe einer hageren, mittelalterlichen Dame zu, die in höchst unbequemer Stellung, den Kopf wie eine geknickte Lilie vornüber hängen lassend, halb hockend, in der rechten Ecke lag. »A geh, du bist a rechte Kecke«, sagte Kathi, mit einem halb neidischen, halb bewundernden Blick an der jüngeren Schwester herabsehend, die sich eben anschickte, ihre verdrückten Gewänder glattzustreichen. Da hatte jene das Loch im Strumpf der dicken Dame entdeckt und packte eifrig unter neuem Gekicher die Schwester am Arm. »Uijegerl, Kathi, da schau!« flüsterte sie, auf die große Zehe deutend, »geh, nimm fürchterliche Rache und kitz'l dees Ungeheuer a weng an der Fußsohl'.« Kathi fuhr ordentlich entsetzt zurück über eine solche Zumutung. »O mei, na, dees brächt' i net fertig!« Lizzi zuckte die Achseln, streckte vorsichtig eine Hand vor und da – kribbel, krabbel – war die finstere Tat vollbracht! Die dicke Dame zuckte zusammen und stieß einen unwilligen Laut aus, der wie das Aufbellen eines großen Hundes im Traume klang, schnarchte aber gleich darauf ruhig weiter. Lizzi war von diesem geringen Erfolg ihres Unternehmens nicht recht befriedigt und wollte eben zu stärkeren Reizmitteln übergehen, als der Zug hielt und gleichzeitig die dürre Dame in der andern Ecke sich zu regen begann. »Wo sind mer denn?« rief Lizzi halblaut, indem sie sich dem Fenster zuwandte und die Gardinen zurückzog. Sie rieb sich noch einmal die Augen, und dann buchstabierte sie den Namen »Bitterfeld«. Die beiden Mädchen traten an die Tür und blickten, einander umschlungen haltend, hinaus. Etwas Oederes hatten sie in ihrem Leben noch nicht gesehen als diesen Bahnhof in der grauen nebligen Morgendämmerung, diese Fabrikessen und diese traurige Ebene dahinter. »Du, Kathi,« begann Lizzi, nachdem sie eine ganze Weile stumm hinausgeschaut hatten, »da wohnen auch Menschen! Unbegreiflich! Net amal begraben möcht' ich mich hier lassen. Je, was is denn, was hast denn, Kathi?« Kathi weinte. Große Tränen liefen ihr über die blassen Wangen. Es zuckte ihr um Nase und Mund, und vergeblich suchte sie sich zu beherrschen. Es half auch nichts, daß sie eiligst das verknüllte, feuchte Taschentuch hervorzog und sich heftig schneuzte. Sie mußte ein paarmal laut aufschluchzen. Dann zog die jüngere Schwester sie neben sich auf den Sitz nieder, schlang ihren Arm unter dem ihrigen durch, drückte sich eng an ihre Seite und fragte liebevoll: »Ja, was is denn mit dir, Kathi, was hast denn alleweil wieder? Jetzt sind mer doch bald da – das Weinen hilft doch auch z'nix mehr.« »Freilich wohl, weiß schon,« schluchzte das große Mädchen, mit beiden Händen vor den Augen, »recht dumm is; aber mer weiß doch net, wie's kommt unter lauter fremde Leut'. Die ganze Nacht fahrt man immer weiter weg von der Heimat und nachher, wann mer d' Augen auftut und 'nausschaut, nah liest ma: Bi–i–i–itterfeld! Dees klingt so – so hoffnungslos.« Lizzi machte einen schwachen Versuch die törichte Schwester auszuspotten, aber es gelang ihr schlecht, denn ihr standen selbst die Augen voll Tränen, und nun sie die Schwester darauf aufmerksam gemacht, kam es ihr selbst so vor, als ob in dem Namen »Bitterfeld« eine böse Vorbedeutung liegen müsse. So streichelte sie also nur still der Kathi über den Handrücken und half ihr weinen. Die lange hagere Dame, die durch Lizzis Tücke so schnöde um ihre Nachtruhe gebracht war, begann jetzt munter zu werden, setzte sich steif aufrecht und starrte mißbilligend die weinenden Schwestern von der Seite an, als ob sich so etwas in ihrer Gegenwart nicht schicke. Dann holte sie Kamm und Taschenspiegel hervor und begann ihre spärlichen Stirnlöckchen zu frisieren. Jetzt trapste ein Mann über das Wagendach und löschte die Lampe aus, denn es war allmählich leidlich hell geworden, und dann gab's einen Ruck, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Davon wachte auch die dicke Dame auf. Mit Anstrengung brachte sie sich in sitzende Stellung, schaute sich blöde und verschlafen um, sperrte ungeniert ihre üppige Fülle wieder in die bergenden Hüllen ein und verschwand dann, sich mühsam durch die enge Pforte drängend, in dem kleinen Kabinett – ein Anblick, der so lächerlich war, daß selbst die säuerliche Dame in der Ecke ein flüchtiges Grinsen nicht unterdrücken konnte und Lizzi trotz ihrer Tränen laut herauskicherte. Erst als die dicke Dame nach einigen Minuten von ihrem Morgenausflug zurückkehrte, bemerkte sie, daß ihr der rechte Pantoffel fehle. Sie zog einen Kneifer hervor, quetschte ihn auf das breite Näschen, spähte am Boden umher und setzte sich dann resigniert auf ihren Platz. »Ach, liebes Fräulein,« begann sie, »hätten Sie wohl die Freundlichkeit ...« Ehe sie noch ausreden konnte, hatte Lizzi schon den Verlorenen unter der Bank entdeckt und sich danach gebückt. »Danke schön, mein Kind, danke«, sagte die Dicke dann freundlich und klopfte dem Mädchen, als es sich erhob, auf die Schulter. »Je kiek, was ist denn das, wir haben wohl gar geweint?« »Ja, ein bissel schon«, erwiderte Lizzi verlegen lächelnd, indem sie sich wieder neben die...