E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm
Woolf Orlando
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70319-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm
ISBN: 978-3-311-70319-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Er – denn es war kein Zweifel über sein Geschlecht möglich, wenn auch die Mode der Zeit dazu beitrug, es unkenntlich zu machen – war damit beschäftigt, den Kopf eines Mauren zu zersäbeln, der von den Dachbalken herabbaumelte. Dieser Kopf hatte die Farbe und mehr oder weniger auch die Form eines alten Fußballs, wenn man von den eingefallenen Wangen und ein paar Strähnen strohigen Haares absah, das der Behaarung einer Kokosnuss glich. Orlandos Vater (vielleicht auch sein Großvater) hatte den Schädel von den Schultern eines gewaltigen Heiden geschlagen, der sich unter dem Mond der barbarischen Schlachtfelder Afrikas wider ihn erhoben hatte; und nun hing er in dem mächtigen Haus des Lords, der ihn abgehauen hatte, und schaukelte sachte und unablässig in der Brise, die ohne Unterlass durch die Räume des Speichers strich. Orlandos Väter waren auf vielen Feldern voll Asphodelos geritten, auf steinigen Feldern und solchen, die von fremden Flüssen getränkt wurden; und sie hatten vielerlei Köpfe in vielerlei Farben von vielerlei Schultern geschlagen und sie heimgebracht, um sie von den Dachbalken herabbaumeln zu lassen. Orlando wollte es ihnen gleichtun, das gelobte er. Da er aber erst sechzehn Jahre zählte und noch zu jung war, um mit ihnen in Afrika oder Frankreich zu reiten, stahl er sich von seiner Mutter und den Pfauen im Garten hinweg und ging in die Dachkammer, um da seine Hiebe und Stöße zu führen und mit der Klinge die Luft zu zersäbeln. Zuweilen durchtrennte er die Schnur, sodass der Schädel herabpolterte; dann musste er ihn wieder aufhängen, wobei er ihn mit einer gewissen Ritterlichkeit fast unerreichbar hoch anbrachte, sodass sein Feind nun mit geschrumpften, schwarzen Lippen triumphierend auf ihn herabgrinste. Der Schädel schwang hin und her, denn das Haus, in dessen höchstem First Orlando wohnte, war so riesengroß, dass selbst der Wind sich darin zu fangen schien, der winters wie sommers mal hierhin und dorthin wehte. Der grüne Arras-Teppich mit den Jägergestalten bewegte sich unablässig. Orlandos Väter waren von jeher adelig gewesen. Gekrönt waren sie aus den Nebeln im Norden gekommen. Die schwarzen Bahnen im Zimmer, die gelben Lachen, die den Boden sprenkelten – brachte sie nicht die Sonne hervor, die durch die farbige Glasmalerei eines mächtigen Wappens am Fenster fiel? Orlando stand nun mitten im gelben Leib eines heraldischen Leoparden. Als er die Hand auf den Sims legte, um das Fenster aufzustoßen, färbte sie sich alsbald rot und blau und gelb wie ein Schmetterlingsflügel. Wer Sinnbilder liebt und Freude an ihrer Deutung hat, mag hier zur Kenntnis nehmen, dass Orlandos wohlgeformte Beine, sein anmutiger Körper und seine stattlichen Schultern ganz und gar mit den mannigfachen Tönen heraldischen Lichts geschmückt waren, dass aber sein Gesicht, als er das Fenster aufgestoßen hatte, nur von der Sonne beleuchtet war. Ein ehrlicheres, trotzigeres Gesicht ließe sich nicht finden. Glücklich die Mutter, die das Leben eines solchen Menschen im Schoße trug, glücklicher noch der Biograph, der es schildert! Niemals muss sie sich grämen, niemals muss er sich von einem Romancier oder Dichter Beistand leihen. Von Tat zu Tat, von Ruhm zu Ruhm, von Amt zu Amt muss es schreiten, gefolgt von seinem Skribenten, bis sie das höchste Ziel erreichen, nach dem ihrer beider Sehnsucht langt. Orlando war, wenn man ihn recht betrachtete, für eine solche Laufbahn geradezu wie geschaffen. Das Rot seiner Wangen bedeckte ein Flaum, samten und zart wie Pfirsichhaut; auf den Lippen war dieser Flaum nur wenig dichter als auf den Wangen. Die Lippen selbst waren voll und zeigten, leicht geöffnet, Zähne von köstlichem mandelhellem Weiß. Nichts störte die kurze, straffe Linie der pfeilgeraden Nase; das Haar war schwarz, die Ohren waren klein und lagen eng am Kopf. Leider aber, leider kann man diese Aufzählung jugendlicher Schönheit nicht beenden, ohne Stirn und Augen zu erwähnen. Leider, leider kommen ja die Menschen selten ohne diese drei auf die Welt; und sobald wir Orlando betrachten, wie er so am Fenster steht, müssen wir einräumen, dass er Augen hatte wie regennasse Veilchenkelche, so groß, als hätte sich Wasser in ihnen gestaut und sie geweitet, und eine Stirn wie die Wölbung einer Marmorkuppel, eingezwängt zwischen die glatten Flächen seiner Schläfen. Sobald wir einen Blick tun auf Augen und Stirn, geraten wir ins Schwärmen. Sobald wir nur einen Blick tun auf Augen und Stirn, müssen wir tausend Unstimmigkeiten einräumen, die nicht zu sehen das Bestreben eines jeden guten Biographen ist. Manches, was er sah, verwirrte Orlando: der Anblick seiner Mutter, einer wunderschönen Dame in grünem Gewand, die durch den Park wandelte, um die Pfauen zu füttern, gefolgt von Twitchett, ihrer Zofe; anderes wiederum entzückte ihn: die Vögel und die Bäume; und wieder anderes weckte in ihm die Liebe zum Tod: der Abendhimmel, die heimkehrenden Krähen; und all dies, das so die Wendeltreppe zu seinem Hirn (welches geräumig war) hinaufstieg, samt den Geräuschen des Gartens – Hämmern und Holzhacken –, löste jenes Durcheinander und jenen Aufruhr von Leidenschaften und Erregungen aus, die jeder gute Biograph verabscheut. Aber fahren wir fort: Orlando zog langsam den Kopf zurück, setzte sich an den Tisch, nahm mit dem geistesabwesenden Gebaren eines Menschen, der Tag für Tag um die gleiche Stunde immer das Gleiche tut, ein Schreibheft zur Hand, das die Aufschrift trug: Æthelbert. Ein Trauerspiel in fünf Akten – und tauchte eine alte fleckige Gänsefeder in die Tinte. Bald hatte er zehn Seiten und mehr mit Poesie bedeckt. Sie floss ihm offenkundig leicht aus der Feder, aber sie war abstrakt. Laster, Verbrechen und Elend waren die Gestalten seines Dramas; es kamen Könige und Königinnen unvorstellbarer Reiche darin vor; schauerliche Verschwörungen stürzten sie ins Verderben; edle Gefühle durchdrangen sie; kein Wort wurde so gesagt, wie Orlando selbst es gesprochen hätte, vielmehr war alles mit einer Anmut und Gewandtheit geformt, die überaus bemerkenswert waren, wenn man bedenkt, dass er noch keine siebzehn Jahre zählte und das sechzehnte Jahrhundert noch etliche Jahre zu durchmessen hatte. Schließlich hielt er doch inne. Er schilderte, was alle jungen Dichter bis in alle Ewigkeit schildern werden: die Natur; und um das Grün recht getreu zu erfassen, betrachtete er (und hierbei zeigte er mehr Kühnheit als die meisten) das Ding selbst, einen Lorbeerbusch, der unter dem Fenster wuchs. Danach konnte er natürlich nicht weiterschreiben. Grün in der Natur und Grün in der Literatur sind zwei verschiedene Dinge. Natur und Literatur sind anscheinend von gegenseitiger Abneigung erfüllt; bringt man sie zusammen, reißen sie einander in Stücke. Das Grün, das Orlando jetzt sah, verdarb ihm den Reim und spaltete sein Versmaß. Obendrein hat die Natur ihre Tücken. Man braucht nur aus dem Fenster zu blicken, auf die Bienen in den Blumen, auf einen gähnenden Hund oder einen Sonnenuntergang und zu denken: Wie viele Sonnenuntergänge werde ich noch sehen? und so weiter und so weiter (der Gedanke ist allzu bekannt, als dass sich lohnte, ihn weiterzuspinnen), und schon lässt man die Feder fallen, greift sich den Rock, rennt aus dem Zimmer und stößt dabei mit dem Fuß gegen eine bemalte Truhe. Denn Orlando war ein wenig ungeschickt. Er vermied es sorgsam, jemandem zu begegnen. Stubbs, der Gärtner, kam den Weg entlang. Orlando versteckte sich hinter einem Baum, bis der Mann vorüber war. Er verließ den Park durch eine kleine Pforte in der Mauer. Er ging vorbei an allen Ställen, Hundezwingern, Brauereien, Zimmermannswerkstätten, Waschhäusern, Talglichtziehereien, an den Orten, wo man Ochsen schlachtete, Hufeisen schmiedete, Wämser nähte – denn das Haus war eine Stadt, die vom Arbeitslärm mannigfacher Gewerbe widerhallte –, und erreichte ungesehen den farnigen Pfad, der hügelan durch den Park führte. Es besteht vielleicht eine Verwandtschaft zwischen menschlichen Eigenschaften; eine bringt die andere mit sich; und der Biograph tut gut daran, darauf hinzuweisen, dass Ungeschicklichkeit sich oft mit Liebe zum Alleinsein paart. Und Orlando, der über eine Truhe gestolpert war, liebte weite Ausblicke und das Gefühl, auf ewig, auf ewig, ja, auf ewig allein zu sein. So hauchte er denn nach langem Schweigen: »Ich bin allein!«, öffnete also zum ersten Mal in diesem Bericht den Mund. Durch Farnkraut und Hagedorngebüsch war er hügelan geeilt, Rotwild und Waldvögel aufscheuchend, bis er an eine Stelle kam, die eine frei stehende Eiche krönte. Sie lag hoch, so hoch, dass man neunzehn englische Grafschaften überblicken konnte – an klaren Tagen gar dreißig oder vierzig, vorausgesetzt das Wetter war besonders gut. Zuweilen sah man den Ärmelkanal und wie Welle auf Welle zum Ufer zog. Flüsse sah man und Lustboote, die auf ihnen dahinglitten; Galeonen, die aufs Meer hinausfuhren; und Kriegsschiffe mit Rauchwölkchen, aus denen dumpf der Donner von Kanonenschüssen hallte; und Forts an der Küste und Burgen inmitten der Wiesen und hier einen Wachtturm und dort eine Festung und dann wieder ein mächtiges Herrenhaus wie das von Orlandos Vater, massig wie eine kleine Stadt, eingezwängt in das von Wällen umgebene Tal. Im Osten erblickte man die Türme Londons und den Rauch der großen Stadt; und, wenn der Wind aus der richtigen Ecke wehte, zeigte sich ganz am Horizont sogar der Snowdon bergriesenhaft mit felsigem Gipfel und zackigem Grat zwischen den Wolken. Einen Augenblick lang stand Orlando da, zählte, schaute und erkannte: Dies war seines Vaters Haus, jenes gehörte dem Onkel. Die drei großen Türme drüben zwischen den...