E-Book, Deutsch, Band 3, 447 Seiten
Reihe: Zeitreise-Trilogie Fatima
Wulf Das Auge der Fatima
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95530-882-7
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 3, 447 Seiten
Reihe: Zeitreise-Trilogie Fatima
ISBN: 978-3-95530-882-7
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
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1
Nur mühsam unterdrückte Dr. Beatrice Helmer ein Gähnen. Das Licht der blendfreien Lampe fiel auf das vor ihr liegende Operationsgebiet und die zitternden, feuchten Hände der Medizinstudentin, die ihr gegenüberstand. Der Schweiß hatte den Puder in den OP-Handschuhen zu weißen Klumpen verklebt, die sich als dünne Streifen unter dem Latex abzeichneten. Martina Brettschneider war Studentin im letzten Jahr der Ausbildung, im Praktischen Jahr, eine so genannte »PJlerin«. Sie war gerade mit ihrer ersten Wundnaht beschäftigt. Und das bereits seit einigen Minuten. Beatrice verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein und beobachtete die verzweifelten Bemühungen der PJlerin, den Nadelhalter mit der gebogenen Nadel endlich unter Kontrolle zu bringen und nicht einfach in der offenen Wunde der Patientin zu verlieren. Dabei zog und zerrte sie gleichzeitig mit der Pinzette an der Oberhaut, als hätte sie einen Schiffstampen und nicht die pergamentdünne Bauchhaut einer Frau vor sich. Hoffentlich riss die Haut nicht ein. Einen Bikini würde die alte Dame zwar kaum mehr tragen, fünfundneunzigjährigen doch Wundheilungsstörungen konnte sie bestimmt nicht gebrauchen. »Der Einstichwinkel muss steiler sein«, sagte Beatrice, als sie es schließlich nicht mehr aushielt, weiterhin untätig zuzusehen. Sie nahm die heiße Hand der jungen Frau und führte sie. Dabei juckte es ihr in den Fingern, Martina Brettschneider einfach Pinzette und Nadelhalter wegzunehmen und die Naht innerhalb kürzester Zeit selbst zu Ende zu bringen. Doch tapfer bezwang sie ihre Ungeduld. Sie selbst hatte schließlich auch einmal – vor unendlich vielen Jahren – ihre erste Wundnaht an einem lebenden Patienten gemacht und dabei die Geduld des OP-Personals auf eine harte Probe gestellt. »Siehst du, Martina? Wenn du die Nadel so hältst, geht sie durch die Haut wie ein Messer durch weiche Butter.« Die PJlerin schaute auf und warf ihr einen verzweifelten Blick zu, ein stummes Flehen. Hinter den dicken Gläsern ihrer Brille hingen feine Wassertropfen. Weinte sie etwa? »Nein, Martina«, sagte Beatrice auf die unausgesprochene Frage und schüttelte den Kopf. Ihr jetzt aus Mitleid oder Ungeduld die unangenehme Aufgabe abzunehmen wäre genau der falsche Weg. Martina wäre für immer für die Chirurgie verloren. »Du hast die Naht begonnen und bringst sie selbstverständlich auch zu Ende.« Ein Hustenanfall des Anästhesisten ließ sie aufblicken. »Es sei denn, es kommt etwas dazwischen.« Hinter dem grünen Vorhang der Anästhesie tauchte Stefans Gesicht auf. Seine Augen funkelten unternehmungslustig. Hoffentlich hatte sie ihn nicht auf einen dummen Gedanken gebracht. Sie selbst wünschte sich ja nichts sehnlicher herbei als eine Durchsage, dass der OP-Saal wegen eines dringenden Notfalls schnellstens geräumt werden müsse. Während Martina ihren nicht besonders erfolgreichen Versuch, die Wunde zu nähen, fortsetzte, warf die OP-Schwester immer wieder verzweifelte Blicke zur Uhr. Und Stefan fragte die Anästhesieschwester, ob man eine Tischreservierung beim Chinesen wohl ohne Probleme von acht Uhr auf Mitternacht verlegen könne – nur für den Fall, dass es heute länger dauern sollte. Beatrice versuchte diese Bemerkung zu ignorieren. Schmunzeln musste sie trotzdem. Wenigstens konnte Martina es durch die OP-Maske nicht sehen. Das hätte ihr bestimmt den Rest gegeben. Beatrice seufzte und verlagerte erneut ihr Gewicht. Ja, es war spät. Ja, diese Wundnaht dauerte bereits viel zu lange. Ja, auch ihre Mittagspause ging gerade den Bach runter. Die roten, leider immer noch weit auseinanderklaffenden Wundränder und die grünen Tücher verschwammen allmählich vor ihren Augen. Die Magensäure brannte in ihrem Bauch. Wenn sie nicht bald etwas zu essen bekäme, würde sie sicherlich ein Loch in die Magenwand ätzen. Und dann – endlich -geschah das Wunder. Die Tür des OPs ging auf, und Dr. Thomas Breitenreiter kam herein. »Ich wollte doch mal nachsehen, welch ungewöhnliche Operation euch im OP festhält«, sagte er und trat mit schnellen Schritten an den OP-Tisch. Er warf einen kurzen Blick über Martinas Schulter auf die Wunde. »Nein, wahrhaftig, eine Leistenhernie. Eine der letzten wahren Herausforderungen in der Chirurgie. Sagt nur Bescheid, wenn ihr Hilfe braucht. Ich stelle sofort ein zweites OP-Team zusammen. Hoffentlich habt ihr Fotos gemacht, um diese medizinische Sensation zu dokumentieren. Wer weiß, vielleicht springt sogar ein Artikel im Lancet dabei heraus.« Martina Brettschneider war dunkelrot im Gesicht geworden, und jetzt hingen wirklich Tränen hinter ihren Brillengläsern. Beatrice wurde wütend. Sie hätte Thomas ins Gesicht schlagen können. »Wenn du keine konstruktiven Vorschläge hast oder helfen möchtest, solltest du lieber die Klappe halten und verschwinden«, zischte sie. »Oder hast du gerade nichts zu tun?« »Nichts wirklich Wichtiges. Nur ein paar Leben retten«, entgegnete er. »Glaubt ihr eigentlich, dass ihr diesen OP für heute gemietet habt? Hier findet nicht der Kurs für Kunststickerei statt. Macht endlich, dass ihr mit eurer Hernie fertig werdet und hier rauskommt. Abgesehen von einem Schwerverletzten, der so schnell wie möglich operiert werden muss, haben wir nämlich noch ein volles Programm.« Dann rauschte er wieder davon, und mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Wütend sah Beatrice ihm nach. Dieser eingebildete, arrogante Kerl, dieses Riesena... In diesem Moment trafen sich ihre Blicke durch die Scheiben zum Waschraum. Thomas zwinkerte. Und dann winkte er ihr sogar fröhlich zu. »Dieser elende Schwindler!«, dachte sie und spürte, wie sich im selben Augenblick ihr Zorn in nichts auflöste. Seine Methoden waren natürlich brutal, erniedrigend, manchmal sogar verabscheuungswürdig. Trotzdem musste sie sich eingestehen, dass sie tief in ihrem Innern Thomas für sein Auftauchen dankbar war. »Es ist wohl besser, wenn ich jetzt weitermache«, sagte sie und streckte ihre Hände aus. Widerspruchslos gab Martina ihr den Nadelhalter und die Pinzette. Vielleicht war sie noch erleichterter als alle anderen hier im OP. Schnell und routiniert reihte Beatrice Knoten um Knoten aneinander, bis die Wunde aussah wie eine Schnur mit in gleichmäßigen Abständen aufgereihten, kleinen, roten blau geränderten Perlen. Es waren nicht einmal zwei Minuten vergangen, als sie bereits die Tuchklemmen lockerte, die sterile Mullkompresse auf die Wunde legte und das Pflaster draufklebte. Die OP war beendet. Endlich. Während Stefan mit der Ausleitung der Narkose begann, warfen sie und Martina ihre Handschuhe in den Mülleimer und zogen sich die grünen OP-Kittel aus. »Danke«, sagte Martina leise. Ihr Gesicht unter der Maske war hochrot, ihre Stirn schweißnass. Sie nahm ihre Brille ab und wischte sie mit einem Zipfel des OP-Hemdes trocken. Ihre Hände zitterten immer noch. Sie schämte sich, das war unverkennbar. »Es tut mir leid, dass ich mich so ungeschickt angestellt habe. Ich...« »Ganz egal, was Thomas gesagt hat, es muss dir überhaupt nicht leidtun«, erwiderte Beatrice freundlich. »Für dich war es schließlich das erste Mal. Du solltest zu Hause in Ruhe die Knoten üben. Ich hatte einen Kommilitonen, der an rohen Schweinefüßen geübt hat, bis ihn seine WG wegen des abscheulichen Gestanks im Kühlschrank rausschmeißen wollte. Aber spätestens wenn du in ein paar Wochen auf die Notaufnahme kommst, wirst du sehr oft Gelegenheit haben, Platzwunden zu nähen. Und dann wirst du es können.« Martina nickte zwar, aber ihre resignierte Körperhaltung sprach Bände. Sie war total frustriert. Und Beatrice konnte es ihr noch nicht einmal verdenken. »Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie. Beatrice warf einen Blick auf die große Wanduhr, die an der Stirnseite des Ganges hing. Es war Viertel nach zwei. Zu spät für das Mittagessen. Die Personalkantine schloss gerade in diesen Minuten ihre Pforten. Blieb also höchstens ein Snack beim Imbiss um die Ecke. »Hast du schon gegessen?« »Ja.« »Dann sei so lieb und geh wieder auf die Station. Du kannst schon mit dem Wechseln der Verbände beginnen. Ich werde noch den OP-Bericht diktieren und den Bogen für die liebe Verwaltung ausfüllen. In einer Viertelstunde komme ich nach.« Beatrice sah der davongehenden Martina hinterher. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, welchen schweren Schaden das Selbstbewusstsein der jungen Frau gerade erlitten hatte. Diese Niederlage musste sie als angehende Ärztin erst einmal verkraften. Und das beste Mittel dafür war immer noch – das wusste Beatrice aus eigener Erfahrung – die Arbeit am Patienten. Nachdem sie in der Schreibecke den Bericht in das dort bereitliegende Diktaphon gesprochen hatte, stieß Beatrice die Tür zum Aufenthaltsraum auf. Sie nahm ihre OP-Maske ab und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Du brauchst dich nicht zu bedanken, Bea«, sagte Thomas. Er saß lässig mit lang ausgestreckten Beinen auf einem der uralten Stühle, einen Plastikbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit vor sich, und grinste breit. »Tatsächlich?«, fragte Beatrice und drückte auf eine Taste des Kaffeeautomaten. Es war die Taste für »Schwarz«, die einzige Möglichkeit, dieses künstliche Gebräu, das, abgesehen von der Farbe, keine weitere Ähnlichkeit mit Kaffee hatte, zu ertragen. Sie wollte gerade beginnen, Thomas einen Vortrag über Kollegialität und Fairness zu halten, über Einfühlungsvermögen und Lehrauftrag, doch sie sah ein, dass es keinen Sinn hatte. Außerdem, hatte sie nicht selbst verzweifelt nach einer Ausrede gesucht, um diese elende Vorstellung endlich beenden zu...