E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Reihe: zur Einführung
Zehnpfennig Platon zur Einführung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-082-4
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-082-4
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2. Das Leben (Siebter Brief)
Begegnung mit Sokrates
»Damals, als ich jung war, ging es mir so wie vielen: ich glaubte, sobald ich selbständig geworden wäre, mich unverzüglich den öffentlichen Aufgaben der Polis zuwenden zu müssen.« (SB 324b) So beginnt Platon im Siebten Brief die Schilderung seines Lebensweges, der zunächst konventionell zu verlaufen versprach. Von seiten beider Elternteile der athenischen Aristokratie entstammend, wäre es für den kurz nach dem Tod des Perikles (ca. 427 v. Chr.) geborenen Platon naheliegend gewesen, öffentliche Ämter in seiner Heimatstadt Athen zu bekleiden. Was ihn dazu bewog, weder Neigung noch Tradition zu folgen, war die Erfahrung von Unrecht, verübt von den Machthabern sowohl der tyrannischen als auch der demokratischen Periode. Und in beiden Fällen war das Opfer der politischen Willkürakte jener Mann, der das Leben und Denken Platons grundlegend veränderte: Sokrates. Der immerhin 27 Jahre währende Peloponnesische Krieg (431-404 v. Chr.), in dem Sparta und Athen um die Vorherrschaft in Griechenland rangen, hatte zersetzende Wirkung auf die athenische Demokratie. Althergebrachte Sitten und Traditionen waren fraglich geworden, und »viele« – so Platon im Siebten Brief – lehnten »die damalige Verfassung ab« (SB 324c). Daher kam es 404 zum Umsturz, und dreißig Tyrannen ergriffen die Macht. Einer von ihnen, Kritias, war ein Verwandter Platons, und ein weiteres Mitglied der Familie, Charmides, erhielt während der Tyrannenherrschaft ein hohes Amt. Auch von Platon wurde erwartet, dass er sich unter dem neuen Regime politisch betätigte. Zunächst hegte Platon tatsächlich auch die Hoffnung, die Dreißig »würden die Polis aus ihrem ziemlich ungerechten Leben zu einer gerechten Art führen« (SB 324d). Doch dann musste er miterleben, wie die Tyrannen, um möglichst viele in Schuld zu verstricken, auch Sokrates an ihren Schandtaten zu beteiligen versuchten. Sie wollten ihn zwingen, Leon aus Salamis gewaltsam zu seiner willkürlich angeordneten Hinrichtung zu verschleppen. Sokrates weigerte sich. Nur der Sturz der Dreißig, der bald darauf erfolgte, verhinderte, dass er für diesen Akt des Widerstands bestraft wurde. Hatte die Erfahrung, wie leicht sich Macht und Unrecht paaren, Platon während der Tyrannis veranlasst, auf öffentliches Wirken zu verzichten, so schien ihm eine politische Tätigkeit wieder erwägenswert, als Thrasybulos 403 die Demokratie wiederherstellte. Die neuen Machthaber übten Zurückhaltung bei der Vergeltung begangenen Unrechts, so dass die Chance für eine Versöhnung von Macht und Recht – das große Thema des Siebten Briefs – unter dem demokratischen Regiment gestiegen zu sein schien. Aber dann geschah, was für Platon Inbegriff ungerechten Tuns sein musste: Sokrates wurde ohne den geringsten Anschein von Rechtmäßigkeit der Gottlosigkeit angeklagt und von denen, deren Freund er den Tyrannen nicht hatte ausliefern wollen, zum Tode verurteilt. Aufgrund dieses Justizmordes an dem von ihm wegen seiner Gerechtigkeit über alles verehrten Menschen befielen Platon Zweifel, dass sich jemals politische Konstellationen ergeben könnten, in denen der Gerechte auch der Mächtige sein könnte. Als er später, während seiner sizilischen Reisen, von denen noch die Rede sein wird, versuchte, den Tyrannen Dionysios zur Philosophie zu bekehren und so dem Recht zur Macht zu verhelfen, tat er dies laut eigenem Bekunden mit einiger Skepsis. Er wusste wohl, dass kaum für die Mühen der Philosophie zu gewinnen ist, wer die vermeintlichen Freuden willkürlich ausgeübter Macht bereits gekostet hat. Die in der Autobiographie geschilderte Begegnung mit dem Tyrannen Dionysios erscheint im Leben Platons als der Gegenpol zur Begegnung mit dem Philosophen Sokrates; beide Existenzformen, Philosoph und Tyrann, bezeichnen Extreme in der Lebenswahl. In Platons Hauptwerk, der Politeia, bildet die Tyrannis die letzte Verfallsstufe in der Reihe politischer Ordnungen, die mit der Regentschaft des Philosophenkönigs anhebt (Pol. 543a ff.): Der Herrschaft vollendeter Gerechtigkeit steht die Herrschaft der vollendeten Ungerechtigkeit gegenüber. Wieso die tyrannische Existenz nur Unrecht hervorbringen kann, zeigt das erste Buch der Politeia. Thrasymachos, der Ideologe des tyrannischen Lebens, offenbart dort im Dialog mit Sokrates, dass der einzige Maßstab seines Denkens und Handelns die Selbstdurchsetzung ist, ein unbedingter Wille zur Macht, der kein Recht anerkennt außer dem zur Behauptung der eigenen Willkür. In Thrasymachos ist dem Philosophen Sokrates der gefährlichste Gegner erwachsen, weil die Leugnung jedes Maßstabs jenseits der eigenen Selbstsucht die Leugnung der Möglichkeit philosophischer Wahrheitssuche bedeutet. Deshalb gestaltet sich der Dialog mit Thrasymachos auch trotz aller selbst hier noch spürbaren Ironie als ein erbittertes geistiges Ringen mit dem zwar intellektuell schwächeren, aber existentiell ebenbürtigen Gegner. Philosophie und Tyrannis bilden so die Eckpfeiler des Platonischen Denkens. Dass Platon sich für die Philosophie entschied, ist dem Vorbild zu verdanken, das ihm mit der Sokratischen Wahrheitssuche vor Augen stand. Welch ungeheure Faszination Sokrates auf Platon ausgeübt haben muss, bezeugt Platons Werk. Die Zeugnisse der anderen Zeitgenossen hingegen lassen von solcher Faszination nichts spüren. Bei Xenophon wird Sokrates zum biederen, fast kleinbürgerlichen Ethiker10, bei Aristophanes zum spitzfindigen, sich selbst der Lächerlichkeit preisgebenden Sophisten11. Platons Schüler Aristoteles, der Sokrates nicht mehr selbst erlebt hat, weiß an diesem die Erfindung von Induktion und Definition, also die Ausbildung des wissenschaftlichen Instrumentariums, zu rühmen.12 Dass er sich aber mit »ethischen Gegenständen« und nicht »mit der gesamten Natur« beschäftigt habe13, vermerkt Aristoteles offenbar kritisch und gibt damit zu erkennen, welcher Aufgabe die Philosophie in seinen Augen nachzukommen hätte. Was Platon an Sokrates sah, vermochte anscheinend keiner der Genannten zu erkennen – nicht notwendig Beweis für eine Platonische Überhöhung, sondern vielleicht Zeichen für ein Nicht-Erfassen des vielschichtigen Phänomens Sokrates seitens der anderen. Wenn in Sokrates einmal der Biedermann, dann wieder der Hanswurst, schließlich der Intellektualist gesehen wird, legt das den Verdacht nahe, dass sich der Blick an der Vielfalt der Erscheinungen verfing. Das Eine, das Wesentliche jenseits der Erscheinung war für Platon offenbar, dass Sokrates das lebte, was Platon immer gesucht hatte: Er war der »Gerechteste seiner Zeit« (SB 324e). Wodurch Sokrates das sein konnte, was ihn dazu machte – dies zu erforschen und darzustellen, macht sich das Werk zur Aufgabe. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass das ganze Platonische Werk vor allem eines ist: Erinnerung an Sokrates. Die Akademie
Etwa im Jahr 387 eröffnete Platon außerhalb von Athen seine Akademie – ein Ort, an dem er offenbar mit ausgewählten Schülern zusammen philosophische Studien betrieb. Über Inhalte und Methoden lässt die Quellenlage zum Teil nur Vermutungen zu; so war es umstritten, ob der Lehrbetrieb tatsächlich »akademischen«, das heißt universalwissenschaftlichen und systematischen Charakter hatte. Doch dass Platon die Philosophenausbildung ohne schlüssiges Konzept unternommen haben könnte, ist kaum anzunehmen. Denn wenn man sich das systematische Erziehungsprogramm ansieht, das Platon in seiner Politeia dem angehenden Philosophen zugedacht hat, findet man alle Einzeldisziplinen wieder, die nach verlässlichen Quellen auch in der Akademie gelehrt wurden: Arithmetik und Geometrie, Stereometrie und Astronomie, Harmonielehre und schließlich die Dialektik. Die Politeia gibt ebenfalls darüber Auskunft, in welchem Sinn diese Wissenschaften betrieben werden müssen, sollen sie zur Ausbildung des philosophischen Vermögens dienen: niemals nur um des unmittelbaren Nutzens willen, niemals aber auch als Selbstzweck. Was der modernen Wissenschaft Zweck und Ziel ist, nämlich die praktische Nutzanwendung und die Befriedigung wissenschaftlicher Neugier, ist also nicht Motiv der Platonischen Wissenschaft. Im Platonischen Denken ist Wissenschaft Instrument der Geistesbildung. Mathematik und Naturwissenschaften sollen das Denken vom Sinnlichen zum Geistigen, zum Allgemeinen emporziehen; zusammen sind sie Propädeutik zur Dialektik. Dieser allein gelingt es, vom Werden, das Gegenstand der Einzelwissenschaften ist, zum Sein vorzudringen, das allem zugrunde liegt, indem sie mittels Dihairesis und Synopsis, mittels Zergliederung und Zusammenschau, die Voraussetzungen der anderen Wissenschaften durchdenkt. Deren letzte Voraussetzung ist das Gute, das die Dialektik auch als letztes erfasst, obwohl es das »an sich Erste« ist. Bis zu diesem Letzten aber dringt nur durch, wer neben den intellektuellen vor allem auch die charakterlichen Grundlagen für eine bedingungslose Wahrheitssuche mitbringt. Wahrscheinlich wollte Platon mit seiner Akademiegründung eine...