Buch, Deutsch, Band 46, 410 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 573 g
Reihe: Campus Historische Studien
Das Konzert als urbanes Forum 1890-1940
Buch, Deutsch, Band 46, 410 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 573 g
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-38637-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
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Vorwort
Einleitung
Kapitel I: Das Konzert in der Frankfurter musikalischen Welt des 19. Jahrhunderts
1. Ideale der Musik
2. Das Konzert als öffentliche Institution
3. Individuum und Gesellschaft
Kapitel II: Musik für alle: Das Konzert im Fin de Siècle
1. Das Konzert und die Krise
2. Die Popularisierung des Konzerts
3. Aufbruch aus der Krise
4. Der Konzertsaal als Arena
Kapitel III: Ein Tempel für die Nation: Das Konzert und der Erste Weltkrieg
1. "Vaterländische Konzerte"
2. Musik als Verklärung
Kapitel IV: Revolution in der musikalischen Welt: Musik und Gesellschaft, 1916-1924
1. Umstrittene Konzepte des Konzerts
2. Reformer und Reformen
3. Klänge des Umbruchs
Kapitel V: Die Welt in der Stadt: Das Konzert und die kulturelle Vielfalt in der Mitte der 1920er Jahre
1. Musik und Utopie auf der musikalischen Weltausstellung von 1927
2. Das Konzert und die Expansion der musikalischen Welt
3. Die Moderne hören
Kapitel VI: Der Verlust der Welt: Das Konzert und der Aufstieg der Nationalsozialisten
1. Das Ende des Krisendiskurses
2. Das Konzert und seine Reorganisation in den 30er Jahren
3. Von der Kollektivierung zur Privatisierung
Kapitel VII: Die "Ruinen des Konzerts"? Das Konzert nach 1945
Abkürzungen
Abbildungsverzeichnis
Quellen und Literatur
Personen- und Sachregister
1906 reiste der englische Dirigent, Kritiker und Publizist Landon Ronald (1873-1938) nach Frankfurt am Main, um sich ein Bild vom Konzertleben in einem der "musikalischen Mittelpunkte Deutschlands" zu machen. Als er ein Konzert des städtischen Orchesters besuchte, enttäuschte ihn allerdings das Publikum, das ihn an die Unterhaltungskonzerte des Londoner Covent-Gardens erinnerte. "Die Damen gehen hin, mehr in der Absicht, ihre Toiletten zu zeigen und diejenigen ihrer Freundinnen zu kritisieren, als um der Musik zu lauschen", bemerkte Ronald. Er beschrieb die heterogene Zusammensetzung der Konzerthörer: Wohl sah er "wahre Musikkenner und Liebhaber", aber die "elegante Welt" blieb ihm viel stärker in Erinnerung. Er bemängelte die Überzahl an "Kunstenthusiasten" im Parkett, die nichts von der Musik verstünden, und er zeigte sich überrascht von den Verhaltensweisen der Hörer, denn "selten oder niemals wohnte ich einem Konzert bei, in welchem ein Werk ausgezischt wurde". Dennoch stimmte er den Reaktionen des "sehr kritischen deutschen Publikums" zu, das seine Sicherheit im Urteil beim Hören von Richard Strauss' Tondichtung Don Quixote bewiesen habe: "Bei dieser Gelegenheit fühlte jedermann in dem Saale, der sich des Verständnisses für gute Musik rühmen konnte, ganz richtig, dass eine solche Darbietung geradezu eine Beleidigung war, und alle zeigten Groll in einer Art und Weise, die meinen Enthusiasmus erregte." Schließlich machte er ein "kleines Strauss-Syndikat" in Frankfurt dafür verantwortlich, dass das Publikum ein solches "Sammelsurium von hässlicher, gewöhnlicher und eintöniger Musik" hören musste.
Man mag in diesem Konzertbericht mangelndes Verständnis gegenüber moderner Musik sehen oder ihn als Quelle für Ronalds eigene musikalische Sichtweisen und seinen kulturellen Hintergrund lesen. Aber Ronalds Beobachtungen lassen sich auch als Bemerkungen interpretieren, die einen Einblick in die Beziehung von Konzert und Gesellschaft im Fin de Siècle geben. Ronald verweist auf die Konflikte um soziale und ästhetische Ansprüche und Erwartungen, er berichtet über Spannungen zwischen den Wünschen der Hörer und den Intentionen der Organisatoren, und er schildert die Probleme, ungewohnten Klängen zu begegnen und andere ästhetische Meinungen zu tolerieren. Ronalds Beobachtungen verweisen auf ein ganzes Spektrum an Themen eines Konzertbesuchs: auf Geschmack und Organisation, Emotion und Verhalten, Lebensstil und Ästhetik. Dabei konstruiert er das Konzert als ein komplexes Ereignis auf verschiedenen Ebenen mit Hierarchien und Abhängigkeiten zwischen Hörern, Musikern und Veranstaltern. Er projiziert seine gesellschaftlichen Vorstellungen und sein Gefühl der Instabilität auf das Konzert, und damit ist die Gesellschaft fest in Ronalds Konzertbeschreibung von 1906 verankert.
Wenn das Konzert eine solche soziale Bedeutung für Ronald erfüllte, stellt sich die Frage, wie es mit der Gesellschaft verbunden war und wie sich diese Beziehung in Zeiten fundamentalen Wandels im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verändert hat. Die vorliegende Studie befasst sich mit den Interdependenzen des Konzerts zur Gesellschaft am Beispiel von Frankfurt am Main in diesem Zeitraum. Ich zeige, dass sich der Konzertsaal als ein urbanes Forum für Auseinandersetzungen und Kommunikation über Kultur, Politik und Gesellschaft etablierte. Eine solche Kulturgeschichte des Konzerts revidiert die Aussage, dass "die Struktur des bürgerlichen Konzertbetriebs […] sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr entscheidend verändert" hat. Ich stelle die These auf, dass sich, erstens, in einem lang andauernden Prozess der soziale und kulturelle Stellenwert des Konzerts vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert gewandelt hat. Zweitens gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Phase beschleunigten Wandels, als das Konzert als soziale Institution aktiviert wurde, auf die sich die Hoffnungen und Erwartungen der Gesellschaft richteten. Nach 1930 büßte es dann jedoch immer mehr an sozialer Bedeutung ein, als sich Alternativen zum Konzert etablierten. Drittens hat sich der räumliche Kontext gewandelt, als Frankfurt in Folge der Rekonzeptualisierung der kulturellen Landkarte zu einem Zentrum der Moderne avancierte. Ich verorte damit das Konzert in seinem historischen Kontext und in seinen zeitlichen und räumlichen Dimensionen.
Diese Phase von etwa 50 Jahren, in denen die Forumsfunktion des Konzerts hervortrat und ihren Höhepunkt erreichte, untersuche ich durch die Linse der "musikalischen Welt". Dieses Konzept, ursprünglich aus der Kunstsoziologie stammend, enthält drei Komponenten: Diskurse, in denen Musik soziale Bedeutung verliehen bekommt; Praktiken, mit denen Musik im Konzert organisiert wird; und Wahrnehmungsweisen, mit denen Musik im Konzert gehört wird. Aus dieser kulturtheoretischen Perspektive lassen sich spezifische Fragen beantworten: Welche Funktionen billigten die Zeitgenossen der Musik zu? Wer traf die Entscheidungen im Konzertsaal? Warum traf Musik auf solche kritischen Reaktionen und mit welchen Metaphern wurde sie beschrieben? Das Konzert ist eine soziale performance, und wenn wir sie untersuchen, können wir erfahren, wie sich eine Gesellschaft darstellt und wie sich ihre Vorstellungen ändern.