E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Zimmermann Militärische Missionen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-86854-449-7
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rechtfertigungen bewaffneter Auslandeinsätze in Geschichte und Gegenwart
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-86854-449-7
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Militärische Eingriffe in fremden Territorien gehören zu den großen Triebkräften der Weltgeschichte. Gewöhnlich lagen ihre Ursachen in der Gier nach Macht, Land oder Reichtümern begru?ndet. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein neuer Typus etabliert: milita?rische Interventionen, die nicht mehr vornehmlich auf Vergeltung, Eroberung oder Machtgewinn abzielen, sondern auf die Herstellung kollektiver und individueller Sicherheit durch die Stabilisierung fremder Territorien. Hubert Zimmermann zeichnet, basierend auf umfangreichen Fallstudien zu den USA, Deutschland und Frankreich, die spannende Geschichte militärischer Interventionen und ihrer Rechtfertigungen im internationalen Vergleich bis in die Gegenwart nach. Wie wandelten sich im Laufe der Geschichte die Motive und Begründungen? Welche Konflikte und Widersprüche tauchten immer wieder auf? Ganz wesentlich geht es bei der Rechtfertigung von Auslandseinsätzen um die eigene Identität im Verhältnis zu anderen Gesellschaften. In diesem Sinne ist dieses Buch auch eine Reflexion u?ber die seit jeher umstrittenen Vorstellungen von Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Umgang der Staaten untereinander.
Hubert Zimmermann ist Professor für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung.
Deutungskämpfe um militärische Auslandsinterventionen1
Der Streit um die amerikanische (Nicht)Intervention in Syrien
Barack Obama hatte genug: »Samantha, es reicht jetzt! Ich habe dein Buch schon gelesen!« Diese scharfe Zurechtweisung aus dem Munde eines so gut wie nie unbeherrschten Präsidenten ereignete sich während einer spannungsgeladenen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats der USA im Sommer 2013.2 Sie galt Samantha Power, der Frau, die er kurz zuvor als amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen nominiert hatte. In der Sitzung ging es um die Frage, ob die USA im Syrienkonflikt militärisch intervenieren sollten. Mitte August dieses Jahres war bekannt geworden, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad skrupellos Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hatte. In der regierungsinternen Kontroverse war Samantha Power die leidenschaftlichste Befürworterin eines Einsatzes des amerikanischen Militärs. Die ursprünglich aus Irland stammende Diplomatin hatte in den 1990er Jahren als Reporterin für verschiedene Medien aus den humanitären Krisengebieten der Welt berichtet. Von dort schrieb sie aufsehenerregende und schockierende Augenzeugenberichte von Kriegsverbrechen, insbesondere aus dem bosnischen Bürgerkrieg. Sie verarbeitete diese Erfahrungen in ihrem 2003 erschienenen Buch mit dem Titel A Problem from Hell: America in the Age of Genocide, in dem sie die amerikanische Zurückhaltung bei zahlreichen Völkermorden des 20. Jahrhunderts scharf kritisierte. Das desinteressierte Wegsehen der US-Politik sowie ihre Ignoranz bei offensichtlichen Massenverbrechen, trotz der verfügbaren überwältigenden Machtressourcen, widersprächen den Grundwerten und der Identität der Vereinigten Staaten. Gerade die USA, so Power, hätten die Pflicht, bei fundamentalen Menschenrechtsverstößen ihre militärische Macht einzusetzen. A Problem from Hell stürmte die Bestsellerlisten für Sachbücher und brachte Samantha Power den Pulitzer-Preis ein. Das Buch erregte auch die Aufmerksamkeit des damaligen US-Senators Barack Obama, der die Autorin erst zur außenpolitischen Beraterin in seinem Wahlkampfteam machte, um sie dann, nach seiner Wahl zum Präsidenten, in den Nationalen Sicherheitsrat zu berufen.3 Dort war sie verantwortlich für Menschenrechtsfragen und sprach sich, entsprechend der Botschaft ihres Buches, immer wieder für einen entschiedenen Einsatz des amerikanischen Militärs bei humanitären Krisen aus. Wie viele andere in der Regierung drängte sie den Präsidenten zu energischem Handeln, als sich die 2011 beginnenden Unruhen in Syrien, deren Ursprung in Protesten der Bevölkerung gegen die Diktatur Bashar al-Assads lag, zu einem immer brutaler werdenden Bürgerkrieg wandelten und schließlich zur bisher größten humanitären Katastrophe des 21. Jahrhunderts wurden. Zur zunehmenden Frustration der Interventionsbefürworter in seiner Regierung, erwies sich der Präsident jedoch als sehr zögerlich und blockierte jedes größere Engagement des US-Militärs im Krisenherd. Dabei hatte sich Obama in seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises im August 2011 noch klar für die Notwendigkeit eines robusten Eingreifens ausgesprochen, wenn es durch Diplomatie und wirtschaftlichen Druck nicht gelänge, massive Menschenrechtsverletzungen zu stoppen. Als aber in Syrien der Moment der Entscheidung kam, überwog die Vorsicht. Vordergründig waren die katastrophalen Erfahrungen, die die Vorgängerregierung im Irak gesammelt hatte, der Grund. »Don’t do stupid shit!« wurde zum viel zitierten Mantra Obamas, und dazu gehörte eine Intervention in Konflikte, deren unübersichtliche Gemengelage in den USA von nur wenigen Expertinnen verstanden wurde und die keine essenziellen nationalen Interessen betrafen. Auch als der Präsident öffentlich eine »rote Linie« zog, nämlich den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, und das Assad-Regime diese Linie mit seinem Chemiewaffeneinsatz überschritt, entschied er sich für eine zurückhaltende Strategie, die seine Außenministerin Hillary Clinton, den Nahost-Sondergesandten John Kerry, Samantha Power und viele andere in der Regierung vor den Kopf stieß. Jedoch: Für eine unilaterale Intervention mit ungewissen Erfolgsaussichten und auf einer nicht gesicherten Faktenbasis reichten Obama die Argumente, die seine Beraterinnen und Berater präsentierten, nicht aus. Es sei gerade nicht die Verantwortung der Amerikaner, so insistierte er, immer wieder bei humanitären oder sonstigen Konflikten das Leben der eigenen Soldaten sowie die eigenen nationalen Interessen aufs Spiel zu setzen. Die abrupte Kehrtwende des Präsidenten wurde in den Medien und im Kongress heftig kritisiert. Ausgerechnet der russische Präsident Wladimir Putin half ihm letztlich aus der Zwickmühle, indem er zustimmte, gemeinsam mit den USA Druck auf Assad auszuüben, damit dieser seine Chemiewaffen vernichtete. Angesichts dieser vereinten Front knickte der syrische Diktator ein, wenn auch, wie sich bald zeigen sollte, nur scheinbar. Schließlich war es auch Putin, der wenig Skrupel hatte, mit der direkten und rücksichtslosen Intervention russischer Luftstreitkräfte im Syrienkonflikt eine entscheidende Wende zu erzwingen. Die Vermutung dürfte nicht gewagt sein, dass humanitäre Aspekte bei der russischen Militäraktion eine ziemlich geringe Rolle spielten. Die Syriendebatte sowie die Besetzung der Krim und schließlich der Angriffskrieg gegen die Ukraine markierten einen Wendepunkt in der internationalen Politik. Eine Periode umfangreicher globaler und multinationaler Interventionen ging zu Ende und wurde durch einen neuen Anti-Interventionismus abgelöst. Dabei sind sowohl innenpolitisch bei den wichtigsten Interventionsmächten als auch international aufgrund der aktuellen geopolitischen Konstellation nach den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts die Bedingungen für neue größere Auslandsinterventionen kaum noch gegeben.4 Diese Geschichte der Auslandsinterventionen macht deutlich, dass derartige Perioden der Zurückhaltung nicht ungewöhnlich sind, aber auch nach einiger Zeit wieder enden. Der bewaffnete Auslandseinsatz als Instrument der internationalen Politik wird bleiben und irgendwann wieder häufiger angewandt werden, jedenfalls solange das internationale System grundsätzlich in Form einer Welt von Staaten organisiert ist. Die Kontroverse in der Obama-Regierung zeigt jedoch beispielhaft, wie umstritten die Problematik von Interventionen zu jeder Zeit ist und wie schwierig es ist, diese zu rechtfertigen, selbst im Angesicht massenhaften Sterbens, der Vertreibung von Millionen von Menschen und des Einsatzes international geächteter Massenvernichtungswaffen. Humanitäre Argumente, Sicherheitsinteressen, rechtliche Aspekte, wirtschaftliche und technologische Faktoren führen zu komplexen normativ-philosophischen und realpolitischen Kontroversen im Spannungsfeld von verletzter Souveränität der betroffenen Staaten und globalen Werten. Mit den resultierenden Fragen plagten sich politisch Handelnde und politische Denker und Denkerinnen seit Jahrhunderten. Trotz vieler schlechter Erfahrungen kam es immer wieder zu Interventionen, die häufig katastrophal endeten und von vornherein zum Scheitern verurteilt schienen. Wie wurden sie gerechtfertigt, auch wenn in der Regel viele offensichtlich rationale Beweggründe dagegensprachen? Im ersten Teil dieses Buches wird gezeigt, wie sich die wichtigsten Argumente für und gegen militärische Interventionen bis ins 20. Jahrhundert entwickelten. Wir werden sehen, wie unterschiedliche Großmächte und Kulturen um Rechtfertigungsfragen rangen und was ihre jeweilige Haltung zu militärischen Auslandsinterventionen über das Selbstbild dieser Gesellschaften aussagt. So werden auch die Debatten in Afrika und Asien, jene Regionen, die meist zum Opfer westlicher Interventionen wurden, komprimiert dargestellt und verglichen. Hier geht es nicht um eine erschöpfende Darstellung der Interventionsproblematik auf diesen Kontinenten, denn auch dort gibt es, wie auch in westlichen Staaten, viele unterschiedliche Sichtweisen auf Auslandseinsätze. Vielmehr sollen nichtwestliche Perspektiven aufgezeigt werden und die Tatsache, dass hier ähnliche Motive wie in westlichen Debatten auftauchten. Interventionen sind kein rein westliches Konzept, aber es sind westliche Staaten gewesen, die in den letzten zwei Jahrhunderten die Mehrzahl dieser Einsätze zu verantworten hatten. Im zweiten Teil wird der Fokus auf spezifische Länder gelegt. Insbesondere die USA und Frankreich waren weltweit aktiv, aber auch Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten, immer begleitet von erregten Kontroversen, vielfach militärisch im Ausland engagiert. Die detaillierte Darstellung der Auseinandersetzungen um Interventionen in diesen Ländern bildet den Kern der Untersuchung. Es geht ausdrücklich nicht darum, den Verlauf von militärischen Interventionen im Detail nachzuzeichnen, ihren Erfolg und Misserfolg anhand bestimmter Kriterien zu bewerten oder den »Wahrheitsgehalt« der durch die handelnden...