E-Book, Deutsch, 127 Seiten
Znoj / Ermann / Huber Trauer und Trauerbewältigung
aktualisierte Auflage
ISBN: 978-3-17-038372-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychologische Konzepte im Wandel
E-Book, Deutsch, 127 Seiten
ISBN: 978-3-17-038372-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2. Vorlesung
Wer trauert wie, weshalb, worum?
In dieser Vorlesung möchte ich mich – im Gegensatz zur ersten Vorlesung – stärker mit der trauernden Person als mit abstrakten Modellen beschäftigen. Die Unruhe, die mit der Verzweiflung, den Gedanken und dem Schmerz einhergeht, verhindert oft die Fähigkeit, den Alltag mit seinen Anforderungen und Routinen zu meistern. Auch dauert die Trauer länger, als wir das vielleicht als Betroffene annehmen würden. Weshalb treten immer noch körperliche Reaktionen bei mir auf, sogar wenn der Verlust schon mehrere Jahre zurückliegt? Weshalb sehe ich oft Bilder oder habe Fantasien, die das Leben mit der verstorbenen Person zum Inhalt haben? Vielleicht habe ich als Trauernde?(r) auch keine Lust, die Bindung oder Beziehung zur verstorbenen Person aufzugeben, oder ich habe sogar Angst davor, weil ich dann befürchte, die Erinnerung an den geliebten Menschen ebenfalls ganz zu verlieren! So betrachtet, stehen mir als trauernder Person oder als Helfer Vorstellungen im Weg, die eine erfolgreiche Verarbeitung des Verlustes verhindern. Diese Vorstellungen sind meist nicht bewusst reflektiert, wirken jedoch auf unser Denken, Handeln und Fühlen ein, ohne uns Gelegenheit zu geben, sie auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen. Genau um diese Vorstellungen geht es zu Beginn der heutigen Vorlesung. Mythen bezüglich der Trauer
Viele Bilder und Metaphern sollen die Kontinuität des Lebens und die Trauer als einen Teil des Sterbens und Werdens in der Natur versinnbildlichen. Dieses »Trauern« ist ein Mythos, der wenig Raum für individuelle Gefühle zulässt. Gesellschaftliche Rituale sollen helfen, individuelle Gefühle zu fassen und in sozial akzeptierte Bahnen zu lenken. Weder Betroffene noch potenziell Helfende (Familie, Freunde, Seelsorger, Ärzte oder Psychotherapeuten) sind vor solchen Vorstellungen gefeit. Gesellschaftliche Trauer, die im Verlust erlebten Gefühle und entsprechende psychische Zustände dürfen nicht gleichgesetzt werden. Das Erleben wird oft als diskrepant zu den eigenen Vorstellungen und den gesellschaftlich geforderten Zuständen erlebt. Ein Beispiel dafür wäre etwa die Vorstellung, sich verpflichtet zu fühlen, richtig zu trauern und als Beweis für echte Trauer dauernd zu weinen und sich entsprechend niedergeschlagen zu fühlen. Ein Fehlen dieser emotionalen Anzeichen wird dann gleich als das Fehlen von Trauer interpretiert, und entsprechend fühlt man sich selbst schlecht oder wird von anderen entsprechend bewertet: »Du trauerst nicht genug, also hast Du ihn nicht geliebt!« Existierende Normen beinhalten allerdings zeitliche und örtliche Beschränkungen von Traueräußerungen. So ist es nicht nur in Ordnung, sondern geradezu Norm, am Grab zu weinen, andererseits wird verlangt, dass der Trauernde gesellschaftlich funktioniert und die notwendigen vorgeschriebenen amtlichen Schritte unternimmt. Eine solche zeitliche Beschränkung kann vielen Trauernden entgegenkommen, allein schon deshalb, weil es physisch unmöglich ist, 24 Stunden am Tag ununterbrochen zu trauern; aber es fallen darunter weitere Beschränkungen, wie etwa die Norm, nach wenigen Tagen wieder am Arbeitsplatz erscheinen und die dort verlangten Leistungen erbringen zu müssen. Trauernde stehen immer in sozialen Verbänden, die Forderungen stellen. Eine Mutter, die um ihren verstorbenen Mann trauert, hat Kinder, welche ernährt und versorgt werden müssen sowie in ihrer Trauer gestützt werden sollen. Zusätzlich ist sie mit neuen Aufgaben konfrontiert, in die sie sich selbst erst einarbeiten muss. Neben den organisatorischen Dingen, welche unmittelbar mit dem Verlust zusammenhängen, stellen sich unter Umständen auch finanzielle Engpässe ein; etwaige Vorwürfe von Verwandten können zusätzliche Schwierigkeiten bedeuten. Diese Vielzahl von Anforderungen erlaubt oft gar nicht, sich der eigenen Gefühlslagen bewusst zu werden, geschweige denn, sich auf sich selbst zurückzubesinnen. Vielfach wird aber eine die Trauer einschränkende Situation als hilfreich wahrgenommen. Was sagen uns unsere kulturelle Mythen zu diesem Problem? In zwei Übersichtsarbeiten untersuchten Wortman und Silver30 die wichtigsten (oft irreführenden) Annahmen, die über die Bewältigung von Verlusten herrschen. Diese Annahmen sind im Folgenden aufgezählt. Mythos Nr. 1: Nach einem Verlust folgt unvermeidlich eine hohe emotionale Belastung und eine Depression.
Es geht bei diesem Mythos um die Erwartung, dass ein großer Verlust gleichzeitig ein großes Ausmaß an Verzweiflung und Belastung hervorruft. Diese Erwartungshaltung setzt eine Norm: Wenn jemand keine deutlichen Anzeichen einer tiefen Verzweiflung zeigt oder spürt, so hat diese Person den Verstorbenen nicht genügend geliebt oder ist diesem nicht genügend verbunden gewesen. Wenn wir davon ausgehen, dass zum Zeitpunkt des Versterbens eines Ehepartners mindestens die Hälfte aller Ehen als glücklich empfunden wird, so müssten wir davon ausgehen, dass bei mindestens 50?% aller Trauernden Anzeichen einer solcher Verzweiflung feststellbar sind. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die Anzahl von Personen mit depressiven Symptomen (das sind in der Regel die Symptome, die mit hoher emotionaler Belastung verbunden sind) wesentlich geringer ist und nur gerade in der Anfangsphase, also unmittelbar nach dem Verlust, solche Anzeichen feststellbar sind. Schon nach wenigen Monaten reduziert sich die Belastung bei den meisten Menschen stark. Immerhin 20?% aller Trauernden zeigen aber noch zu diesem Zeitpunkt deutliche Anzeichen einer Depression.31 Noch wichtiger als dieser Befund ist die Tatsache, dass sehr viele Trauernde nicht nur negative Gefühle wahrnehmen, sondern auch von positiven Gefühle berichten.32 Das Wahrnehmen positiver Gefühle ist dabei kein Zeichen von Verdrängung oder gar einer Freude, dass durch den Tod auf einmal viele Probleme gelöst worden wären, sondern deutet nur die erfolgreiche Anpassung an ein Leben ohne den geliebten Menschen an. Es ist im Übrigen eine Fehlannahme, wenn wir davon ausgehen, dass das Erleben eines Verlustes notwendigerweise die Fähigkeit zur Freude einschränkt. Die Einschränkung, Freude zu zeigen oder zu lachen, hat mehr mit kulturellen Normen zu tun als mit dem persönlichen Verlust. Trauernde, die auch positive Gefühle erleben können, kommen im Allgemeinen besser mit den negativen Emotionen zurecht! Mythos Nr. 2: Das Erleben intensiver emotionaler Belastung stellt eine notwendige Voraussetzung für den Heilungsprozess dar.
Anders gesagt: Fehlt eine solche Reaktion, ist dies als Zeichen einer pathologischen Entwicklung zu werten. Sollte dieses Argument stimmen, so müsste man sehr vielen Trauernden eine äußerst fatale Diagnose stellen. Wie oben dargestellt, trauern viele Menschen nicht mit Anzeichen tiefer Verzweiflung, sondern gefasst und im Vollbesitz ihrer Kräfte. Sollten sich alle diese Menschen nur etwas vormachen? Müssen wir wirklich annehmen, dass es sich rächt, wenn wir nicht »richtig« trauern? Das Fehlen einer starken Trauerreaktion wird in unserer (westlichen) Kultur leicht mit einer »pathologischen« Entwicklung gleichgesetzt. Es wird davon ausgegangen, dass die Trauer zu einem späteren, meist unerwarteten Zeitpunkt auftaucht und dabei nicht selten mit problematischen oder gar pathologischen Verhaltensweisen verbunden ist. Man nimmt also an, dass der Trauerprozess in diesen Fällen gar nicht eingesetzt hat. Diese »abwesende« Trauer kann nach dieser Auffassung dann umso größeren Schaden anrichten als sie unbewusst agieren kann. In anderen Worten wird abwesende Trauer als pathologischer Prozess gedeutet, der nur durch gezielte Trauerarbeit unterbrochen werden kann. Auch hier hält der Mythos der Wirklichkeit nicht stand: In vielen Untersuchungen konnte kein einziger Fall einer solchen unerkannten oder »verspäteten« Trauer berichtet werden, auch in solchen nicht, in denen Trauernde über mehrere Jahre systematisch untersucht wurden33. Im Gegenteil erhärtet sich der Befund, dass anfänglich intensive Trauer auch noch nach zwei Jahren eine intensivere Trauer vorhersagt. Mythos Nr. 3: Ein Verlust muss durchgearbeitet werden; die mit dem Verlust einhergehenden Veränderungen müssen emotional konfrontiert werden.
An sich spricht wenig gegen diese Annahme; es leuchtet ein, dass Veränderungen emotional reflektiert werden sollten. Was aber ist mit »Durcharbeiten« gemeint? In der Terminologie von Freud (von ihm stammt der Begriff) bedeutet es, dass man sich mit allen emotionalen Aspekten, die mit dem Verlust verbunden sind, bewusst auseinandersetzen muss. Wenn also Eltern ein Kind verloren haben, so könnte das bedeuten, dass sich Eltern darüber den Kopf zerbrechen sollten, ob der Tod des Kindes nicht hätte verhindert werden können, es könnte die Suche nach dem Sinn gemeint sein oder das ständige Sich-Beschäftigen mit dem Verlust in all seinen Aspekten, beispielsweise mit den gemeinsamen Zukunftsplänen, die jetzt nicht mehr realisiert werden können, mit dem Ordnen der Kleider, die nicht...