Zorn | Sterben lernen:  Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 49, 277 Seiten

Reihe: Forum Modernes Theater

Zorn Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8233-0048-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 49, 277 Seiten

Reihe: Forum Modernes Theater

ISBN: 978-3-8233-0048-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In seinen letzten, nach der Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen rückte der Theaterregisseur Christoph Schlingensief das persönliche Aufbegehren gegen den eigenen Tod in das Zentrum seines Schaffens. Die Publikation widmet sich dieser totalen künstlerischen Ich-Geste und stellt Schlingensiefs theatrale Selbstinszenierung dabei einerseits in den Horizont autobiographischer Selbstkonstruktion und beleuchtet andererseits die Relevanz der philosophischen Formel des Sterbenlernens für seine letzten Bühnenarbeiten.

Johanna Zorn, geboren 1985 in Innsbruck, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Musikwissenschaft an den Universitäten Innsbruck, Aix-Marseille und Zürich. Von 2011 bis 2015 forschte sie als Mitglied des interdisziplinären Promotionsprogramms ProArt der Ludwig-Maximilians-Universität München mit Stipendien der Graduiertenförderung nach dem Bayerischen Eliteförderungsgesetz und der Fazit-Stiftung über Christoph Schlingensiefs letzte Bühnenarbeiten. Von 2012 bis 2016 war sie Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München sowie an der Schauspielschule Innsbruck. Seit Oktober 2016 ist sie als Akademische Rätin a.Z. am Institut für Theaterwissenschaft tätig

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Einleitung
Der antike Dichter Homer gestaltete im zwölften Gesang der von Horkheimer und Adorno als „Grundtext der europäischen Zivilisation“1 bezeichneten Odyssee einen Zentraltopos über das ambivalente Verhältnis von Verführung und Widerstand aus, der mit der Thematik der Einübung in den Tod eng verbunden ist. Der betörende Gesang der Sirenen offenbare, so erzählt es Homer, seinen Adressaten eine Wahrheit, die kein Mensch zu ertragen im Stande sei. So muss derjenige, der der bloßen Verheißung, durch den bis dahin unerhörten Gesang eines Geheimnisses habhaft zu werden, nicht widerstehen kann, unweigerlich untergehen. Odysseus und seine Gefährten nun, die auf ihren Irrfahrten auch die Heimat der Sirenen passieren, entkommen der vokalen Verlockung der rätselvollen Mischwesen jedoch, ohne ihr recht eigentlich zu widerstehen. Während Odysseus die Besatzung des Schiffes, dem Rat der Seherin Kirke folgend, vorsorglich in den Zustand der Anästhesie versetzt, indem er die Ohren der Männer mit Wachs stopft und somit vor der Verführung schützt, wagt es der Held des Epos, sich dem verhängnisvollen Gesang im Modus des Als-ob zu stellen. Von seinen Männern an einen Pfahl festgebunden, hört er dem Gesang zwar zu, vermag es aber nicht, sich aus eigener Kraft von seinen Fesseln zu lösen, so sehr er es auch versucht.2 Diese beiden, von Homer reflektierten, unterschiedlichen Strategien des Entzugs basieren auf zwei verschiedenen Weisen, es mit der Verführung aufzunehmen. Die eine besteht in der Technik des psychophysiologischen Sich-Verschließens vor der Wahrheit: Indem Odysseus das Vordringen des erregenden Gesangs an die Ohren seiner Besatzung unterbindet, löscht er selbstredend nicht dessen Existenz aus, sondern verschließt lediglich das Wahrnehmungsorgan der Schiffsleute. Existentiell betrachtet, befindet sich die Besatzung nach wie vor im Bedrohungsgebiet der Sirenen. Lediglich phänomenal, durch die Versiegelung des Gehörsinns, wird sie von jeglicher äußeren Einwirkung abgeschirmt. Die den Männern von Odysseus aufgezwungene Haltung gegenüber der Verführung beruht auf der Entscheidung, sich dem Geheimnis des Gesangs von vornherein zu entziehen. Die Logik dieser Wahl besagt, wer sich auf sinnlicher Ebene nicht öffnet, kann der Verführung auch nicht erliegen. Odysseus hingegen begegnet der möglichen stimmlichen Blendung durch die Sirenen in der Haltung eines Wissen-Wollenden und Erfahrungssuchenden. Der Held möchte die Verheißung, die ihm die Entdeckung eines ihn selbst vernichtenden Geheimnisses in Aussicht stellt, keinesfalls ignorieren, sondern, ganz im Gegenteil, er will zu diesem Arcanum vordringen. Allerdings ist Odysseus nicht dazu bereit, die Offenbarung mit seinem Tod zu bezahlen. Gemäß einer dem Mythos unauflösbar zugrunde liegenden Aporie ist das Eine (die sinnliche Erfahrung der Wahrheit) nicht ohne das Andere (den Tod) zu haben. Odysseus, der sich über diese Bedingung hinwegsetzen will, greift zu einem Trick, um eben doch das Eine ohne das Andere zu gewinnen. Indem er den mythisch verbürgten Pakt, der Wissen und Tod konditional und unzertrennlich miteinander verbindet, hintergeht, überschreitet er symbolisch das die Fabel präformierende (Natur-)Gesetz und setzt die Logik des Epos außer Kraft. Aufgrund seiner Hybris – seiner die Natur bezwingenden instrumentellen Vernunft – wurde der Überwinder Odysseus in der Lektüre des Epos durch Horkheimer und Adorno schließlich zum „Urbild […] des bürgerlichen Individuums“3, das sich durch List die Gesetze unterwirft. Horkheimers und Adornos Rede vom falschen Spiel des bürgerlichen Individuums unterschlägt allerdings die existentielle Radikalität von Odysseus’ erprobtem Übertritt als einem von Naivität und Hochmut gleichermaßen gekennzeichneten Versuch, sich der Wahrheit des Todes auszusetzen, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Dabei fußt Odysseus’ Strategie bei genauerem Betrachten auf zwei kontradiktorischen Einstellungen. Einerseits leugnet der Held letztlich jene Macht, die größer und stärker ist als er selbst, andererseits trotzt er diesem selbstauferlegten Denkverbot und ist gewillt, hinter die Grenzen des rational Erfassbaren zu schauen. So zeigt sich im Kern der Sirenen-Episode eine Parabel über den Wunsch des Menschen, in einer Vorläufigkeit zur aletheia vorzudringen, um das Geheimnis des Lebens und des Todes momenthaft zu erblicken, die Sphäre des Unerfahrbaren allerdings sogleich wieder zu verlassen. Odysseus gelingt dieses Vordringen, das außerhalb des mythisch-fiktionalen Rahmens grundsätzlich versagt bleiben muss, da jede Rückkehr versperrt wäre, allerdings nur um den Preis seiner Amnesie, die seine Erinnerung an das Gehörte zu seinem eigenen Schutz im Nachhinein löscht. Die letzte Wahrheit bleibt das hapax legomenon schlechthin, das „nur einmal gehörte Wort“. Trotz der physischen Unerfahrbarkeit des Todes richtet der Mensch freilich seit jeher seinen Blick in die Zukunft, setzt sich selbst dabei unweigerlich in ein Verhältnis zur eigenen Endlichkeit und füllt den unbeschreitbaren Raum des Jenseits im Denken prospektiv mit Vorstellungen aus. Aus der „ureigenste[n] Bildlosigkeit des Todes“4 evolvieren dabei je individuelle Metaphern, die eine symbolische Ordnung konstituieren. Sie halten der Unsagbar- und Darstellungslosigkeit des Todes als nackter Wahrheit, der man, mit Nietzsche, den Schleier nicht abziehen könne, sondern die man verhüllen müsse,5 ein imaginäres Konstrukt entgegen. Die Fülle an Versuchen, den Tod metaphorisch zu umspielen, die aus der abendländischen Kulturgeschichte eine Geschichte des prospektierten Todes gemacht hat, legt Zeugnis darüber ab, dass dessen „Unvorstellbarkeit […] keine Resignation, sondern vielmehr einen gewaltigen Sturm von Bildern und Visionen ausgelöst“6 hat. So begünstigte die rationale wie empirische Ratlosigkeit angesichts des Todesgedankens die Genese einer mannigfaltigen thanatologischen Metaphorik. Die spezifische Rhetorik, die das Phänomen des Todes in die Sphäre der Darstellbarkeit hebt, war und ist im Laufe der Geschichte einer erheblichen Dynamik unterworfen. Franz Kafkas Deutung des im Sirenengesang verborgenen Geheimnisses lässt sich in diesem Sinne als erhellende Fußnote zur Entwicklungsgeschichte des abendländischen Todesbedenkens und der damit verbundenen Metaphorik lesen. In seinem 1917 entstandenen kurzen Prosatext Das Schweigen der Sirenen unterzieht er den Homerischen Mythos vom unwiderstehlichen Gesang der Sirenen einer grundlegenden Re-Lektüre. Ausgehend von der poetischen Konstruktion Homers wagt Kafka das Gedankenexperiment, dass das Furchtbare der Sirenen nicht in deren Gesang, sondern ganz im Gegenteil, in deren nihilistisch-verführerischem Schweigen liegen könnte. „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen“7, lässt Kafka seinen Erzähler sagen. In seiner Version weicht selbst Odysseus vor dem verheißungsvollen Gesang zurück, indem auch er seine Ohren mit Wachs versiegelt, aus Angst davor, die Sirenen schweigen zu hören. Den Gedanken, dass die Wahrheit der Sirenen nicht in ihrem alles offenbarenden Gesang, sondern in dem das eigentliche Nichts entbergenden Schweigen gründe, komponiert Kafka seinem Text in der Möglichkeitsform ein: „Vielleicht hat er [Odysseus], obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, dass die Sirenen schwiegen“8. In betont utopischem Gestus urteilt der Erzähler: „Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht.“9 In seiner Fortschreibung fügt Kafka der Sirenen-Episode somit eine entscheidende zeichentheoretische Novität hinzu. Während Homer den Gesang der Sirenen als Verheißung chiffriert und die Überwältigung, die von ihrem Geheimnis ausgeht, in einem den Zuhörer überfordernden Zeichenüberschuss verortet, geht die Erschütterung in Kafkas Version, im Gegenteil, von der vollkommenen Abwesenheit des Zeichens aus. Der beunruhigenden Ahnung vom Nichts, so lautet die weitreichende handlungstheoretische Konsequenz, kann der moderne Held nur mehr begegnen, indem er sich durch akustische Anästhesie als Unwissender maskiert und die möglicherweise tatsächlich erschreckende Erkenntnis über die fundamentale Abwesenheit eines Dahinterliegenden erspart. Obwohl Kafkas Held nicht auf der Grundlage seiner Erfahrung wissen kann, was ihn erwartet, provoziert allein der Gedanke an das Nichts eine Schutzhandlung in ihm. Der Erzähler von Das Schweigen der Sirenen stimmt mit Sigmund Freud darin überein, dass der moderne Mensch die Tendenz habe, „den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren“10. Wenngleich die poetischen Konstruktionen in Homers Hypotext und Kafkas Hypertext freilich keinen Zweifel daran lassen, dass der Mensch das hinter der Grenze liegende Geheimnis niemals erfahren wird, reflektieren die Autoren unterdessen offensichtlich zwei einander diametral entgegengesetzte Jenseitsvorstellungen. Beide Entwürfe setzen der Unvorstellbarkeit des Todes eine Phantasie entgegen und revoltieren gegen „die Unsagbarkeit dieses leeren Begriffs, dem keine Anschauung korrespondiert“11, mit einer Strategie der substituie­renden Bilder, Worte und Symbole. Dem im diesseitigen Leben unverträglichen Stimmengewimmel aus der Odyssee steht eine die menschliche Vorstellungskraft überfordernde Leere in Kafkas Erzählung gegenüber....



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