E-Book, Deutsch, 145 Seiten
Zwanzger Angst und Gesellschaft
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95466-612-6
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
mit Fokusbeitrag zur Corona-Pandemie
E-Book, Deutsch, 145 Seiten
ISBN: 978-3-95466-612-6
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Angst ist eine unserer wichtigsten Emotionen – und so alt wie die Menschheit selbst. Angst übt eine ungeheure Kraft aus, sowohl auf unser eigenes Leben als auch auf das Leben in unserer Gesellschaft. Angst kann uns antreiben, Angst kann behindern. Die Angst erscheint in allen Lebensbereichen, in Politik und Wirtschaft, in der Arbeitswelt, in Sport und Kultur. Angst beschäftigt uns unser gesamtes Leben hindurch, von der Geburt bis zum Tod.
Angst und Gesellschaft beleuchtet die vielgestaltigen Phänomene, Schattenseiten und Potenziale der Angst. Mediziner, Therapeuten, Medien- und Kunstschaffende, Theologen, Soziologen und Historiker eröffnen ihre spezifische Perspektive auf die Facetten der Angst in Gesellschaft, Geschichte und Kultur. Ein aktueller Fokusbeitrag reflektiert die Angst und Ängste im Kontext der COVID-19-Pandemie.
Herausgeber Peter Zwanzger ist einer der renommiertesten Angstforscher. Seit über 20 Jahren befasst er sich mit Angst, deren Entstehung und Behandlung.
Zielgruppe
Angst-Betroffene, Interessierte, Journalisten, Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen und Soziologen
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Angst in der antiken Mythologie
Isabel Grimm-Stadelmann
2 Ängste der deutschen Gesellschaft
Heinz Bude
Fokusbeitrag: Angst und Pandemie
Peter Zwanzger
3 Angst und die Rolle der Medien
Joachim Käppner
4 Angst und Glaube
Irmtraud Fischer
5 Angst und Musik
Alexander Schmidt, Isabel Fernholz, Jennifer Mumm, Andreas Ströhle und Jens Plag
Exkurs: Lampenfieber
Georg Enoch Freiherr von und zu Guttenberg
6 Angst und Macht
Markos Maragkos
7 Angst im Film
Julia Barbara Köhne
8 Angst und Arbeit
Beate Muschalla
9 Angst und Angstbewältigung im Leistungssport
Jürgen Beckmann und Denise Beckmann
10 Angst vor Sterben und Tod
Andrea Tretner
2Ängste der deutschen Gesellschaft
Heinz Bude Angst ist in modernen Gesellschaften ein Thema, über das man sich über alle sozialen Grenzen hinweg relativ schnell und problemlos verständigen kann. Über Angst kann die gläubige Muslima mit der kämpferischen Säkularistin, der verzweifelte Menschenrechtler mit dem liberalen Zyniker reden. Sie ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind (Luhmann 2008, 158). Angststörungen, so wie sie in spezifischen und diffusen Varianten in psychiatrischen Erhebungen festgestellt werden, zählen zu den häufigsten psychischen Störungen mit einem nicht selten chronischen Verlauf (Bandelow et al. 2014). Sie haben entgegen der allgemeinen Ansicht in den letzten Jahrzehnten aber nicht zugenommen. Wobei dieser Befund nicht so klar ist, weil sie in der Regel in Verbindung mit Depressionen, Suchterkrankungen und psychiatrisch nicht auffälligen Verstimmungen auftreten. Die einschlägige Forschung nimmt an, dass sich solche Angstzustände aus dem Zusammenspiel von psychosozialen, genetischen und neurobiologischen Faktoren klären lassen. Wenn im Folgenden über Ängste in der deutschen Gesellschaft die Rede ist, dann sind nicht Angststörungen gemeint, die einen Krankheitszustand definieren, sondern Ängste, über die man sich im Blick über die Veränderungen der deutschen Gesellschaft verständigen kann. Also nicht Panikattacken, die als körperliche und psychische Alarmreaktionen vor Prüfungen oder beim Betreten eines voll besetzten Aufzugs auftreten, sondern emotionale Bewertungen von Nachrichten über den Umfang unkontrollierter Einwanderung, über zunehmende Gewaltdelikte in Diskotheken mit jugendlichem Publikum, über die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich oder über die wachsende Bedrohung durch cyberkriminelle Banden. In diesem Sinn kann man sagen, dass sich die Gesellschaftsmitglieder in Begriffen der Angst über den Zustand ihres Zusammenlebens verständigen: wer weiterkommt und wer zurückbleibt; wo es zu sozialen Verwerfungen kommt und wo sich soziale Löcher auftun; was unweigerlich vergeht und was von grundlegendem Bestand ist. In Begriffen der Angst fühlt sich die Gesellschaft selbst den Puls (Bude 2014, 12). 2.1Die Kommunikation von Angst in der Öffentlichkeit
Angstkommunikation ist allerdings in der Regel nicht von der wechselseitigen Akzeptanz der Ängste der anderen bestimmt, sondern intensiviert sich über bestimmten Reizthemen, welche die gemeinsame Vergewisserung über den Zustand des Gemeinwesens kontrovers werden lassen (Zur Stimmung der Gereiztheit Bude 2016). Drei Reizthemen springen einen heute sofort an. Das ist zum einen das Thema der Zuwanderung und deren Folgen für die Befindlichkeit der Einwanderungsgesellschaft. Dann das Thema der sozialen Ungleichheit und die Wahrnehmung einer sich vertiefenden sozialen Spaltung unserer Gesellschaft. Und schließlich das Thema der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, dem offenbar durch die gewohnten Methoden makroökomischen Krisenvermeidungs- oder Krisenbewältigungsstrategien nicht mehr so einfach beizukommen ist. 2.1.1Das Reizthema Zuwanderung Zuwanderung ist in der gesamten OECD-Welt ein Reizthema für die gesellschaftlichen Öffentlichkeiten. Die Angst betrifft hier das Verhältnis von Eigenem und Fremdem (Bielefeld 1998) im Blick auf soziale Wohlfahrt, politische Mitsprache und kulturelle Eigenheiten. Den Zuwandernden unterstellt man unangemessene Beanspruchung sozialer Rechte, verborgene politische Illoyalität und die unverblümte kulturelle Landnahme. Am Ende, so das vielfach bekräftigte Angstbild, kann man sich in seinem eigenen Land nicht mehr zu Hause fühlen. In einer Erhebung von 2017 wurden fünf etwa gleich große Gruppen mit spezifischen Haltungen zum Reizthema Zuwanderung identifiziert: liberale Kosmopoliten, die für offene Grenzen und niedrige Hürden für die Einwandernden plädieren, humanitäre Skeptiker, die sich für offene Grenzen aussprechen, aber die Folgen unkontrollierter Einwanderung mit Sorge betrachten, ökonomische Pragmatisten, die Einwanderung befürworten, solange sie nützt, moderate Gegner von Einwanderung, die für die sofortige Rückführung von Straftätern und Trittbettfahrern unter den Einwandernden eintreten, und absolute Gegner, die jeder Form von Einwanderung widersprechen (The Economist 2018, 5). Zwanzig Prozent sind klar dafür und zwanzig strikt dagegen, dass mehr Menschen nach Deutschland einwandern – und die Mehrheit von sechzig Prozent ringt mit sich über ein moderates Dafür oder ein moderates Dagegen. Bei dieser Mehrheit betrifft das Angstproblem die Unterscheidung zwischen Emigranten und Siedlern (Collier 2014, 99ff.). Man begrüßt unter Umständen Emigranten, die ihr persönliches Glück in der Ankunftsgesellschaft suchen und dafür viel auf sich nehmen und sich am Ende zu guten Nachbarn entwickeln und ihre Herkunft aus einem anderen Land als Teil ihrer persönliche Zuwanderungsgeschichte begreifen. Man reagiert aber mit Ablehnung auf Einwanderer, die ihre Lebensart in der Einwanderergemeinde pflegen und den Eindruck erwecken, als kämen sie als Siedler ins Land, die sich als Außenseiter, mit Norbert Elias gesprochen (Elias u. Scotson 1993), gegen die Etablierten stellen. Je zahlenmäßig größer eine Einwanderergruppe ist, um so langsamer verläuft die Absorption durch die Ankunftsgesellschaft, weil die Einwandernden dann mehr mit Ihresgleichen als mit den Einheimischen zu tun haben. Aber die Angst der Etablierten, im eigenen Land nicht mehr zu Hause zu sein, wächst, je mehr sie den Eindruck gewinnen, dass bei den Einwandernden das Emigrationsverständnis vom Siedlerverständnis überlagert wird. Die proklamierte Angst ist hier die Folge einer vermuteten Verschiebung in der Machtbalance zwischen Etablierten und Außenseitern, die die Einheimischen dazu veranlasst, die normale Absorption von Einwandernden im Lauf der Zeit infrage zu stellen. Man meint, sich verteidigen zu müssen, obwohl man zweifellos in der Mehrheit ist, und besorgt sich in Kategorien der Kultur ums Eigene gegen das Fremde. 2.1.2Die Angst, nicht mithalten zu können Die emotionale Energie dieser in der Öffentlichkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen erschließt sich aber nur dann, wenn man sie im Zusammenhang eines zweiten Angstthemas versteht, das für ein verbreitetes Unbehagen im Ganzen trotz zunehmender Zufriedenheit mit der persönlichen Situation sorgt (Schupp et al. 2013, 34–43): Das ist die Angst, nicht mithalten zu können und etwas Wichtiges zu verpassen. Man kann dieses Unbehagen so auf den Punkt bringen, dass wir heute einen Wechsel im gesellschaftlichen Integrationsmodus vom Aufstiegsversprechen zur Exklusionsdrohung erleben. Für die Generationen der Nachkriegszeit, die heute zwischen sechzig und achtzig und teilweise neunzig Jahre alt sind, hatte die Botschaft „Aufstieg durch Bildung“ einen motivierenden Klang. Wer sich anstrengte und trotz erlebter Niederlagen und Zurücksetzungen Durchhaltevermögen an den Tag legte, konnte es zu etwas bringen. Der Umstand, dass bei den meisten der Zufall eine viel wichtigere Rolle spielte als die Ziele und Absichten, war deshalb hinnehmbar, weil man trotz allem auf einer Position landete, die man im Nachhinein als erworben und verdient ansehen konnte. Dieser Glaube existiert nicht mehr. Der Lebenslauf wird durch eine Folge von Gabelungspunkten erlebt, an denen sich jeweils entscheidet, wer weiter kommt und wer zurückbleibt. Das beginnt bei der frühkindlichen Förderung im Kindergarten, verläuft über die Wahl der weiterführenden Schule, betrifft die Netzwerke, die einem weiterhelfen, und den Ort, an dem man hängengeblieben ist, und findet bei der Partnerwahl eine entscheidende Festlegung. Natürlich kann man vieles revidieren und nichts ist für immer verloren. Aber es kommt auf einen selbst an, was man aus den Ressourcen der eigenen Herkunft und aus den Gelegenheiten, die sich einem bieten, macht. Das war natürlich schon immer so, aber heute stellen sich viele die Frage, ob der Wille reicht, die Geschicklichkeit passt und das Auftreten überzeugt. Die Sicherheit durch das Vertrauen in den Zufall ist der Angst gewichen, sich richtig entschieden oder etwas verpasst zu haben oder sich bei dem ganzen Bemühen der Optionswahrung und des Entscheidungsvorbehalts gar selbst zu verfehlen. So ist die Angst tatsächlich, wie es bei Kierkegaard heißt, „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit vor der Möglichkeit“ geworden. 2.1.3Angst ums Ganze der Gesellschaft Das geschieht vor dem Hintergrund von zwei fühl- und sichtbaren sozialstrukturellen Veränderungen. In den letzten zwanzig Jahren ist auch in Deutschaland wie überall in der OECD-Welt ein neues Proletariat entstanden, das nicht mehr ein Proletariat der Industrie, sondern eins der Dienstleistung ist (dazu Bahl 2014; Staab 2014). „Einfache Dienstleistungen“ in den Bereichen der Zustellung, in der Transportbranche, in der Gebäudereinigung, im Einzelhandel, in der Gastronomie und in der Pflege machen 12 bis 15 Prozent der Beschäftigten aus. Das sind „Dead-end jobs“ ohne Aufstiegsperspektiven, in denen man für körperlich belastende und mental fordernde Tätigkeit ohne staatliche Aufstockung bei einer vollzeitigen und unbefristeten Beschäftigung nicht genug verdient, um in Städten wie Reutlingen, Bielefeld oder Regensburg über die Runden zu kommen. Wir haben hier eine kollektive Lebenslage vor Augen, die deshalb Klassencharakter hat, weil...