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E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Bendixen Eine zeitgemäße Form der Liebe
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96054-383-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Parentale Prosa
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-96054-383-1
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Löwenjunges fällt in der Kinder- und Tiertagesstätte unangenehm auf und durchläuft diverse Maßnahmen, um seine Menschwerdung voranzutreiben. Einer jungen Frau wächst seit ihrer Kindheit eine Sonnenblume im Ohr, doch sie weigert sich, die Triebe abzuschneiden. Als sie schwanger wird, verkomplizieren sich die Dinge. Eine Mutter, die ihren Sohn ganz bewusst ohne Vater aufzieht, wittert u¨berall Verachtung. In einem wissenschaftlichen Vortrag wird ein Programm vorgestellt, bei dem u¨berforderte Mu¨tter ihre Kinder tauschen und so zu einer zeitgemäßen Form der Liebe finden können.
Katharina Bendixen erzählt von Eltern und ihren Kindern, von Konflikten und Überlastung, von den Anspru¨chen an Mutterschaft und von ihren Widerspru¨chen. Dafu¨r findet sie unterschiedlichste literarische Zugänge: Klassische Short Storys stehen neben magisch-surrealen Erzählungen, experimentelle Formen wie Therapieberichte, fiktive Pru¨fungsaufgaben oder das absurde Protokoll einer Eltern-Chatgruppe spielen mit den Textsorten, die Eltern im Alltag umgeben, und fu¨hlen einer so gestressten wie saturierten Gesellschaft auf den Zahn.
»Bissig, stilsicher und unterhaltsam zeigt Katharina Bendixen die Absurditäten moderner Mutterschaft, die uns ausnahmslos alle betreffen.« Slata Roschal
»Klug, rätselhaft und verspielt erzählt Katharina Bendixen vom Chaos, von der Ratlosigkeit, aber auch vom großen Glu¨ck heutiger Elternschaft.« Florian Wacker
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Meine Zeit mit Rosa
Rosa Freytag war knapp zwei Jahre alt, als sie sich draußen im Hof einen Sonnenblumenkern ins Ohr steckte. Sie erzählte davon ohne den Anflug eines Zweifels, und ich weiß noch, wie ich mich wunderte, dass sie sich daran tatsächlich zu erinnern glaubte. Rosa sagte, ihre Eltern hätten auf einer Bank gesessen und sich offenbar nichts dabei gedacht, als sie zum Vogelhäuschen ging, und im nächsten Moment war der Kern schon in ihrem Ohr verschwunden. Rosas Mutter sprang auf und drückte Rosas Kopf auf die Seite, der Kern fiel nicht heraus. Die Eltern schnappten sich die Tochter und rannten hoch in die Wohnung, aber dort kam es ihnen plötzlich übertrieben vor, den Notarzt zu rufen. Also beschlossen sie, bis zum nächsten Morgen zu warten, und was sollte über Nacht schon passieren? »Vielleicht achten wir darauf, dass sie auf der linken Seite schläft«, sagte der Vater. »Nicht, dass der Kern weiter reinrutscht.« »Wie stellst du dir das vor?«, fragte die Mutter. »Sie schläft nie auf der linken Seite. Willst du sie festbinden?« Natürlich banden sie Rosa nicht fest, und am nächsten Morgen standen Rosa und ihr Vater noch vor Beginn der Sprechzeit an der Kinderarztpraxis. Rosa wurde als erste Patientin ins Behandlungszimmer gerufen. Der Arzt schaute so lange in Rosas Ohr, dass selbst die Schwester die Stirn zu runzeln begann. »Ich sehe nichts«, sagte er schließlich. »Sind Sie ganz sicher, dass der Kern nicht runtergefallen ist?« »Meine Frau hat es gesehen«, sagte Rosas Vater. »Vielleicht gehen Sie mit ihrer Tochter am Wochenende ins Schwimmbad«, sagte der Arzt. »Das ist besser als jede Ohrspülung.« »Und wenn das nicht hilft?« »Falls dieser Kern wirklich in Rosas Ohr steckt, rutscht er im Schwimmbad garantiert heraus«, sagte der Arzt. »Aber wenn Ihnen das lieber ist, stelle ich Ihnen einen Überweisungsschein aus.« Rosas Vater merkte, dass weder der Arzt noch die Schwester ihm glaubten. Immerhin nannte die Schwester ihm einen Spezialisten, und auf dem Weg ins Büro wählte der Vater die Nummer der Praxis vergeblich. Auch in der Mittagspause erreichte er dort niemanden. Am Abend pinnte er die Überweisung an den Kühlschrank, wo sie im Laufe der nächsten Wochen hinter anderen Zetteln verschwand, und nach und nach geriet die ganze Sache in Vergessenheit, zumal Rosa keinerlei Symptome zeigte, sondern das ruhige Kind blieb, das sie von Geburt an gewesen war. Die erste Sonnenblume wuchs Rosa kurz vor ihrem dritten Geburtstag aus dem Ohr. Natürlich war es erst einmal keine Blume, sondern nur ein grüner Stängel mit zwei kleinen Blättern. Die Überweisung fand sich noch am Kühlschrank, und die Eltern bugsierten Rosa in den Autositz und fuhren zum Spezialisten, der den Trieb abzwickte und ins Labor schickte. Eine halbe Woche später rief er ins Telefon: »Sofort operieren!« »Was ist es überhaupt?«, fragte Rosas Mutter. »Was wohl? Eine Sonnenblume!« Der Arzt klang ungeduldig. »Sie haben Glück, in der kommenden Woche ist noch ein OP-Termin frei. Morgen Vormittag sehe ich die kleine Maus zum Blutabnehmen, ein paar Formulare müssten Sie bitte auch noch unterschreiben. In diesem Alter ist Vollnarkose angebracht, danach kann es zu Übelkeit und Erbrechen kommen. Das passiert aber eher selten.« Am Wochenende bekam Rosa jedoch Fieber, sodass die Operation abgesagt werden musste, und bevor sie einen neuen Termin vereinbaren konnten, wurde Rosas Mutter von einem seltsamen Gefühl beschlichen. Rosas Eltern konsultierten einen zweiten Spezialisten, der empfahl, den Stängel vor Rosas zwölftem Geburtstag nur regelmäßig zu stutzen und sich keine übermäßigen Sorgen zu machen. Manchmal gelang das Rosas Eltern sogar, aber über das zweite Kind, das sie sich eigentlich gewünscht hatten, sprachen sie immer seltener. In den folgenden Jahren verschnitten sie die Pflanze jeden Morgen, und Rosa ließ das mit absolutem Gleichmut über sich ergehen. Auch in der Schule erwies sie sich als unauffälliges Kind. Erst als sie in der dritten Klasse war, fragte sie eines Morgens ihre Eltern: »Warum schneidet ihr die Pflanze immer ab?« »Wir wollen nicht, dass sie wächst«, sagte Rosas Vater. »Aha«, sagte Rosa mit der Leichtigkeit, mit der Kinder fast alles hinnehmen. Beim Abendessen erklärte sie allerdings, dass weder Sara noch Karoline einen Trieb im Ohr hatten. In der gesamten Klasse hatte überhaupt niemand eine Pflanze im Ohr, und Richard hatte der Vertrauenslehrerin Bescheid gegeben. Liebe Eltern, stand auf dem Zettel in Rosas Postmappe. Rosa ist ein wunderbares Mädchen mit vielen Ressourcen, über die ich gern mit Ihnen ins Gespräch kommen würde. Die Vertrauenslehrerin fragte Rosas Eltern, ob sie viel arbeiten müssten, ob Rosa manchmal schlecht träume und ob sie Geschwister habe. Erst ganz am Ende kam sie auf den Trieb zu sprechen, sie fragte: »Um was für eine Pflanze handelt es sich eigentlich?« »Vermutlich eine Sonnenblume«, sagte Rosas Vater. »Vermutlich?« Die Vertrauenslehrerin machte ein erstauntes Gesicht. »Sie haben die Pflanze bisher nicht wachsen lassen?« Rosas Eltern schüttelten den Kopf. »Eine Sonnenblume ist doch toll! Mag Rosa Sonnenblumen?« »Ich weiß nicht«, sagte Rosas Mutter vorsichtig. »Ich glaube, sie mag alle Blumen.« »Und was wünscht sie sich selbst? Würde sie die Blume nicht gern einmal sehen?« Auf dem Heimweg waren Rosas Eltern ungewöhnlich schweigsam, und kaum dass sie zu Hause waren, gerieten sie in Streit. Rosas Vater warf Rosas Mutter vor, dass sie damals gezögert hatte, draußen im Hof, vor acht Jahren, als Rosa sich den Sonnenblumenkern ins Ohr gesteckt hatte, und Rosas Mutter entgegnete, dass Rosas Vater mit dem Anruf beim Spezialisten auch nicht sonderlich entschlossen gewesen war. Es ging hin und her, und Rosa hörte jedes Wort. So erfuhr sie, seit wann der Trieb in ihrem linken Ohr sie begleitete, dass ihr verschiedene Möglichkeiten offenstanden und dass eine dieser Möglichkeiten darin bestand, den Trieb nicht mehr abzuschneiden – eine Vorstellung, die ihr gefiel. Die Pflanze wuchs erstaunlich schnell. Nachdem sie Rosas Ohr verlassen hatte, streckte sie sich nach oben, Richtung Sonne, und nach wenigen Wochen öffnete sich zwei Handbreit über Rosas Kopf die erste Blüte. Eine Zeitlang steckten sich auch Rosas Freundinnen Blumen ins Haar. Aber natürlich welkten diese Blumen sehr schnell, während Rosas Blume wochenlang blühte, und natürlich machten sich Rosas Klassenkameraden bald über sie lustig. Rosa ließ sich davon nicht stören. Sie unternahm auch nichts, als im Herbst eine zweite Pflanze aus ihrem linken Ohr wuchs und sich im Frühjahr darauf auch in ihrem rechten Ohr ein Trieb zeigte. Die Stängel wurden immer dicker, und sie hörte dadurch nicht mehr so gut. Aber sie bat die anderen einfach, ihre Worte zu wiederholen, und wenn ihre Kopfschmerzen zu stark wurden, blieb sie für ein paar Tage im Bett, und an dieser Stelle der Erzählung konnte ich nicht anders, als Rosas Mut zu bewundern. Rosa hielt erstaunlich lange durch. Erst vor dem Wechsel zur weiterführenden Schule schnitt sie die Blumen ab, und sie wunderte sich über den heftigen Schmerz und das helle, fast weiße Blut. Rosas Eltern kannten ihre Tochter inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie Rosas Entscheidung besser nicht kommentierten. Nur einmal brachten sie die Operation noch ins Spiel, und Rosa zeigte sich durchaus aufgeschlossen. Aber der Spezialist von damals hatte seine Praxis an einen jüngeren Kollegen übergeben, und der verwies sie an eine Privatklinik im Norden, deren Kosten die Möglichkeiten von Rosas Eltern überstiegen. Rosa trug die Haare jetzt lang. Sie hatte eine spezielle Technik entwickelt, die Stängel allein zu stutzen, und dabei ärgerte sie sich jedes Mal über ihren Starrsinn. Nur weil sie es hatte besser wissen wollen als ihre Eltern, musste sie jetzt drei Triebe verschneiden statt nur einen, oder waren daran vielleicht ihre Eltern schuld, die jahrelang nichts gegen die Triebe unternommen hatten? Die noch dazu von ihr verlangten, auch am Wochenende spätestens um 22 Uhr zu Hause zu sein? Die sich ständig stritten und trotzdem nicht scheiden ließen und die sich, als sie endlich aufhörten zu streiten, doch noch scheiden ließen? Obwohl Rosa sich in der zwölften Klasse ins Ohr schnitt und fast zwei Monate lang in der Schule fehlte, legte sie ihr Abitur mit Auszeichnung ab. Zum Studium ging sie in die Stadt, in der sich die Privatklinik befand. Sie sagte, damit habe sie keinen festen Plan verfolgt. Es sei ihr einzig darum gegangen, alle Möglichkeiten zu haben. Ich lernte Rosa Freytag kennen, als sie sich zum zweiten Mal in der Klinik vorstellte. Sie stand kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, und während ich ihre Akte ins Sprechzimmer brachte, überflog ich das Protokoll ihres ersten Besuchs. Vorstellig wegen geplanter OP, las ich. Mglw. interessiert, allerdings angespannte fin. Situation. Auch diesmal kam sie wegen der Operation, und fast alles an Rosas Bericht kannte ich aus anderen Fällen – die Entschlossenheit, mit der sie als Kleinkind nach dem Sonnenblumenkern gegriffen hatte, die Rebellion in der Grundschule, die Anpassung in der Vorpubertät, natürlich die Unwissenheit der verschiedenen Ärzte. Selbst das unprofessionelle Verhalten von Rosas Vertrauenslehrerin war kein Einzelfall, und im Studium hatte Rosa...