Buch, Deutsch, Band 12, 229 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 296 g
Städtische Eigenlogik und jüdische Kultur seit der Antike
Buch, Deutsch, Band 12, 229 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 296 g
Reihe: Interdisziplinäre Stadtforschung
ISBN: 978-3-593-39536-4
Verlag: Campus
Städte sind in einer spezifischen Landschaft angesiedelt, welche sich mit ihnen verändert und sie ihrerseits prägt. Ihre Bewohner durchleben eine eigene Geschichte durch die Jahrhunderte, in denen sich verschiedene Formen der Vergesellschaftung, des Handels und des kulturellen Lebens herausbilden. In diesem Band fragen Historiker, Architekten, Soziologen und Geowissenschaftler nach dem Spezifikum – der Eigenlogik – einzelner Städte vor dem Hintergrund räumlicher Prägung und historischer Entwicklung. Dabei führt der Bogen von Städten des Imperium Romanum über Mittelalter und Neuzeit bis hin zum 20. und 21. Jahrhundert. Der Schwerpunkt liegt auf Städten mit jüdischem Leben und auf dem Mittelmeerraum.
Mit Beiträgen von J. Friedrich Battenberg, Helmuth Berking, Franz Bockrath, Mikael Hård, Andreas Hoppe, Franziska Lang, Martina Löw, Annette Rudolph-Cleff, Dieter Schott, Michael Stahl und Marie-Christin Wedel.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Stadt- und Regionalsoziologie
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte des Judentums (Diaspora)
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort
Andreas Hoppe 7
"Jede Stadt ist ein Seelenzustand" - Über städtische Vergesellschaftung und Identitätsanforderung
Martina Löw 11
Geowissenschaften und die Eigenlogik der Städte
Andreas Hoppe 25
"Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" - Eigenlogik und archäologische Städteforschung
Franziska Lang 47
"Nun blühen alle Städte der Griechen" - Stadtkultur im Imperium Romanum
Michael Stahl 79
Städte und ihre Ressourcen in der Geschichte: Blicke über und aus Europa
Dieter Schott 95
Juden in der vormodernen Stadt zwischen Integration und Ausgrenzung
J. Friedrich Battenberg 117
"Judengeschäfte" - Warenhäuser im urbanen Kontext 1876-1938
Mikael Hård, Marie-Christin Wedel 143
Übertrag und Neuanfang - Der Internationale Baustil in Tel Aviv
Annette Rudolph-Cleff 167
"Muskeljudentum" - zwischen städtischem Individualismus und großstädtischer Indifferenz
Franz Bockrath 187
Imaginäre Geographie - Was wäre, wenn … Berlin und Jerusalem Nachbarn wären?
Helmuth Berking 215
Autorinnen und Autoren 229
Jede Stadt ist ein Seelenzustand, lässt Georges Rodenbach seinen Protagonisten Hugo Viane im Roman Bruges-la-Morte (Zitat nach Das tote Brügge 2004, orig. 1992/1904: 56) sagen. Nach dem Tod seiner Frau erträgt Viane die Stadt der gemeinsamen Liebe nicht länger und sucht einen Ort, der dem Witwerstand entspricht. Mit Brügge findet er eine neue Heimat, die in Schweigen und Schwermut ihm ähnlich zu sein scheint. "Dieses schmerzensreiche Brügge war seine Schwester" (ebd.), schreibt er, gegenseitiges "Durchdringen von Seele und Dingen! Wir dringen in sie ein, wie sie in uns" (ebd.).
Was Rodenbach hier 1904 zu beschreiben sucht, dass nämlich der Zustand der Stadt mit dem Betreten derselben in Menschen einwirkt, die Person erfasst und beeinflusst, gehört heute nicht mehr zu den selbstverständlichen Welterklärungen. Wohl aber haben wir uns daran gewöhnt, dass wir Personen ohne langes Nachdenken über die Städte, aus denen sie kommen, charakterisieren. Selbst Kurzvitae, wie sie Bewerbungen oder Dissertationen beigefügt werden oder auf Homepages gesetzt werden, beginnen nicht selten mit dem Hinweis auf den Geburtsort. Wenn man zum Beispiel liest "geboren 1965 in Passau, Studium an der LMU München und an der TU Berlin", dann werden drei Formate genutzt, um von der vorgestellten Person ein Bild zu erzeugen: Zeit, Raum und Institution. Alter und Dauer, zum Beispiel des Studiums, sind wichtige Quellen zur Interpretation der Persönlichkeit, ebenfalls der Ruf der Hochschulen, die besucht wurden, aber auch die Orte erzählen uns eine Geschichte. In dem Fall wäre die Erzählung wie folgt: Aufwachsen in der bayrischen Provinz, Wechsel in die bayrische Hauptstadt, größtmöglicher Autonomiebeweis in Deutschland durch freiwilligen Umzug zum preußischen Konkurrenten Berlin. Wir hätten ein anderes Bild dieser Person, wäre sie von Passau nach Nürnberg gegangen und dort geblieben oder wäre sie von Passau aus nach Hamburg und Kiel gegangen. Mit anderen Worten: Es gehört zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten, dass wir die Persönlichkeit eines anderen über die Vergesellschaftung durch Orte sowie über Ortswechsel bzw. Verweilen zu entschlüsseln versuchen. Wir nehmen an, dass wir dorthin ziehen, wo der Ort zu unserer Person passt, bzw. umgekehrt auch der Ort auf Dauer uns als Personen beeinflusst. Selbstverständlich kalkulieren wir ein, dass nicht jeder Wechsel freiwillig erfolgt, aber wenn man bleibt, wird man - so die Annahme - sich dem Ort nur schlecht entziehen können. Wer in Basel lebt, ist anderen Einflüssen ausgesetzt als in Genf oder in Zürich. Wer in Tel Aviv lebt, wird über andere Kontexte sozialisiert als in Haifa oder in Jerusalem.
Das gilt ebenso für die Produktion von Wissenschaft. Simmels Werk ist tief von seinen Berliner Erfahrungen durchzogen, New York steht für das Theorieprogramm der World- und Global City-Forschung, wohingegen Los Angeles der postmodernen Forschung Fassung bietet (siehe Ber-king/Löw 2005 sowie Crang/Thrift 2000: 13). Die Beziehung zwischen Stadt- und Theoriegestalt kann ein aufschlussreiches Forschungsfeld sein. Dies gilt auch für die Produktion von Literatur: Thomas Mann hat bekanntlich in seinem Vortrag "Lübeck als geistige Lebensform" (1960, orig. 1926) darauf bestanden, dass Lübeck zu einer persönlichen Lebensform, -stimmung und -haltung geführt habe, die nicht nur sein Werk Buddenbrooks, sondern alle seine Bücher beeinflusst hätte. Dieser Gedanke, dass die Welt- und Selbstsicht durch den räumlichen Kontext der Stadt beeinflusst wird, soll im Folgenden aufgegriffen werden, indem untersucht wird, wie personale Identität durch die Eigenlogik von Städten geprägt wird.