Buch, Deutsch, Band 15, 323 Seiten, Format (B × H): 214 mm x 142 mm, Gewicht: 408 g
Reihe: Eigene und fremde Welten
Deutsche und britische Darstellungen im 20. Jahrhundert
Buch, Deutsch, Band 15, 323 Seiten, Format (B × H): 214 mm x 142 mm, Gewicht: 408 g
Reihe: Eigene und fremde Welten
ISBN: 978-3-593-38934-9
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Mediensoziologie
Weitere Infos & Material
Danksagung. 7
Einleitung. 9
Thema und Fragestellung. 9
Zur Auswahl der Zeiträume und Länder. 16
Zur Quellengrundlage und zum Problem der Repräsentativität. 19
Forschungsstand und Begriffsklärung. 22
Karikaturen in Deutschland und Großbritannien. 30
Die Karikatur alsQuelle:Methodischer Zugriff und die Frage
nach der Wirkung von Karikaturen. 33
Europa-Motive in deutschen und britischen Karikaturen. 45
Die vielen Gesichter Europas: Ikonographische Personalisierungen. 48
Der Ur-Mythos: Europa auf dem Stier. 48
Europa als Frau. 88
Die Ausnahmen: Europa als Kind und als Mann. 116
Europa in Bewegung?. 130
Europa als Boot. 131
Europa als Wagen und als Zug. 146
Europa in der Luft. 155
Die Konturen Europas. 158
Die Karte Europas. 158
Die europäische Küste. 177
Europa als Wegweiser. 179
Europa als Berg. 183
Wahrzeichen Europas?. 187
Europa als Heim: Schloss oder Ruine?. 189
Exklusion und Hoffnung auf Zutritt. 192
Lastenverteilung im ›Haus Europa‹. 197
Europa im Bauprozess. 200
Europa als Illusion?. 206
Das offizielle Europa: Buchstaben und Sterne. 210
Zwischenfazit. 226
Bildsetting und kulturelle Ebene der Europa-Karikaturen. 229
Europa-Karikaturen: Konvergenzen und Transfers. 251
Konvergenzen deutscher und britischer Europa-Karikaturen:
Ähnliche Themenschwerpunkte?. 253
Transfer von Europa-Karikaturen: Von Großbritannien nach
Deutschland – und umgekehrt?. 259
DerWandel europäischen Selbstverständnisses in Deutschland
und Großbritannien im 20. Jahrhundert. 273
Epoche der Selbstbezogenheit und Exklusion: die 1920er Jahre. 276
Zwischen Aufbruch und Sabotage: Das Paradox der 1950er Jahre. 286
Krise und Kritik: die 1980er und 1990er Jahre. 299
Zwischenfazit. 308
Ergebnisse. 311
Die Karikatur als Quelle der Europa-Forschung. 311
Der deutsch-britische Vergleich. 313
Darstellung und Bewertung Europas in den Karikaturen. 314
Abbildungsverzeichnis. 319
Verzeichnis der Diagramme. 323
Karikaturen in Deutschland und Großbritannien
In seiner Autobiographie bemerkte der in Neuseeland geborene britische Karikaturist
David Low zum britischen Publikum und zur Situation der britischen
Bildsatire in den 1920er Jahren:
The English, by all evidence, had much more appreciation of humor than of wit.Wit was
rather the diversion of intellectuals, narrowed to more or less obscure or esoteric references
and associations. In 1920 there was no radio and Hollywood was young; and the British
masses still had not only music, songs, plays, pictures but especially their own local jokes,
farce and broad comedy, none of it yet overlaid by streamlined American imports. [. ] By
the time the world had arrived at 1920, the original ribald rowdy fun of the old masters in
this department, Gillray and Rowlandson, had considerably watered down. Leech, Doyle,
Tenniel, Sambourne and Partridge had rubbed the rough places off the genuine article,
and substituted dignity and grace for strength and power in political caricature. [. ] The
translation of the art of Caricature from periodical to the daily newspaper had begun in
many ways an even more restricting and emasculating change. [. ] A world war had just
passed, taking, by the feel of things, the old social order with it. It did not require a New
Zealander standing on London Bridge to see that much of pre-war inspiration of graphic
wit and humor was outdated, overtaken and run down by events.
In diesem Zitat treten vor allem drei Aspekte zu Tage: Erstens wird die Karikatur-
Tradition der Briten beschrieben, ihre Vorliebe für die sowohl niveauvolle als
auch derbe Bildsatire in der Tradition des frühen 19. Jahrhunderts mit James
Gillray und Thomas Rowlandson, und nicht so sehr für die zurückhaltende und
stilisierte Bildkunst vieler Karikaturisten der viktorianischen Ära. Ein zweiter
Aspekt ist die veränderte mediale Situation der Bildsatire mit ihrer Verlagerung
von Satiremagazinen wie dem Punch hin zur Publikation in Tageszeitungen.
Der Verlust des Publikationsmonopols für Karikaturen von Satiremagazinen
ging auch mit strukturellen Veränderungen der Bildsatire einher: In den
Tageszeitungen wurden weder ganzseitige Karikaturen abgedruckt, noch hatte
der Zeichner eine ganze Woche Zeit für die Produktion der nächsten Karikatur,
denn das Medium der Tagespresse zwang den Karikaturisten zur höher frequentierten
Produktion. Mit dem Einzug der Bildsatire in die Tagespresse wurde
die Karikatur auch zum ersten Mal einem breiteren Publikum zugänglich. Ein dritter Aspekt
ist die veränderte externe Lage: Das Ende des Ersten Weltkrieg
bewirkte offenbar eine starke Politisierung der Karikatur, die durch ein generelles
Bewusstsein für die krisenhaften sozialen Verhältnisse forciert wurde. Damit
nahm die Produktion politischer Karikaturen im Verhältnis zu Gesellschaftskarikaturen
zu, in denen es vorwiegend um Alltagswitze und Gesellschaftskritik,
wie beispielsweise übertriebene Extravaganzen der Mode, ging. Insofern transformierte
sich verstärkt nach dem ErstenWeltkrieg in der britischen Tagespresse
allmählich das Berufsprofil des Karikaturisten vom Künstler zum ereignisorientierten
politischen Zeichner. Mit Karikaturisten wie Vicky, David Low oder
Leslie Illingworth trat eine neue Generation britischer Karikaturisten auf, deren
Modell der politischen Tageskarikatur oder ›editorial cartoon‹ bis heute ein
etabliertes und maßgebendes Genre geblieben ist.
Nachdem Frankreich und Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert durch
renommierte Künstler die Szene der Bildsatire bestimmt hatten, galt Deutschland
im 20. Jahrhundert als das Land mit den besten Zeichnern und der vielfältigsten
satirischen Magazinlandschaft. Während in Großbritannien das konservative
Satiremagazin Punch eine gewisse Monopolstellung einnahm, konkurrierten
in Deutschland vor allem drei große politische Satiremagazine miteinander.
Der 1848 gegründete Kladderadatsch stand dabei eher auf der nationalkonservativen
Seite und entwickelte sich in den 1920er Jahren immer radikaler
zu einem die nationalsozialistische Propaganda affirmativ unterstützenden Blatt
mit unverhohlen antisemitischen Tendenzen. Die Auflage dieses Blattes lag
vor dem Ersten Weltkrieg bei 40.000 und baute bis Anfang der 1930er Jahre
auf zirka 17.500 Exemplare ab. Der Münchener Simplicissimus entwickelte
sich vom bürgerlich-demokratischen Kampfblatt, dessen beliebtestes Opfer in
der wilhelminischen Ära der Kaiser gewesen war, in den 1920er Jahren ebenfalls
zu einem nationalistischen Organ und ab 1933 schließlich zum 'Aushängeschild
der neuen Machthaber'. Die Auflage des Simplicissimus lag Ende der 1920er
Jahre bei 40.000 und sank seitdem kontinuierlich ab. Als drittes großes Satiremagazin
publizierte der Wahre Jacob politische Karikaturen, konzentrierte sich
als Organ der Sozialdemokratie auf sozialpolitische Probleme insbesondere der
Arbeiterschaft und stand dem aufsteigenden Nationalsozialismus kritisch gegenüber.
Die Auflagenzahl des Wahren Jacob lag in den 1920er Jahren bei 80.000,
wobei der faktische Leserkreis mit zirka sechs Personen pro Exemplar um ein
Vielfaches höher gewesen sein dürfte. Aufgrund der Inflation musste das Magazin
sein Erscheinen im Oktober 1923 kurzfristig einstellen, wurde dann aber
1924 unter dem Namen Lachen links wieder aufgenommen und trug ab 1929
wieder den traditionellen Titel Wahrer Jacob. Obwohl das Themenspektrum
der politischen Satiremagazine der Weimarer Republik weit gespannt war, blieb
doch die innenpolitische Perspektive dominierend und der außenpolitische Blick
vor allem auf die nationalen und internationalen Folgen des Ersten Weltkrieges
gerichtet. Im Gegensatz zu Großbritannien war die deutsche Karikatur der Satiremagazine
vor allem in der Zwischenkriegszeit ein Kampfbild, während die
britische Pressekarikatur eher einen politischen Kommentar darstellte.
Der Verlagerungsprozess der politischen Karikatur von den Satiremagazinen
hin zur Tagespresse, der in Großbritannien verstärkt seit dem Ende des Ersten
Weltkrieges eingesetzt hatte, machte sich in Deutschland vor allem nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemerkbar. Da sich viele Zeitungen zunächst
noch keinen ›Hauskarikaturisten‹ leisten konnten, schlossen sie Verträge
mit anderen Zeitungen und erwarben Publikationsrechte für die Karikaturen
eines Zeichners, so dass diese in verschiedenen Zeitungen parallel erschienen.
Inzwischen gelten politische Karikaturen als ›Visitenkarte‹ eines Blattes und haben
sich als Grundausstattung der meisten Tageszeitungen etabliert. Insgesamt
weisen beide Länder also starke Traditionen der politischen Bildsatire auf, wobei
die Hochzeit der klassischen britischen Satire eher im frühen 19. und die der
deutschen eher im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu verorten ist.
Wie schon im oben wiedergegebenen Zitat von David Low deutlich wurde,
veränderten nicht nur politische Umbrüche wie die beiden Weltkriege die Bedingungen
und Interessen der Bildsatire. Hinzu kam ein medienstruktureller
Wandel, weswegen die Bedeutung der Pressekarikatur auch im Verhältnis wachsender
Medienkonkurrenz gemessen werden muss. Als Stichprobe wurden dafür
acht britische Zeitungen exemplarisch einmal im Juni 1950 und noch einmal im
Dezember 1990 hinsichtlich von Text-Bild-Verhältnissen durchgesehen. Die
Auswertung ergab, dass die Gestaltung der Zeitungen 1950 noch einen überwiegenden
Textanteil aufwies: Vor allem die Qualitätszeitungen druckten nur
vereinzelt Fotos, noch wenig graphische Werbung und, wenn überhaupt, einbis
zweimal wöchentlich eine politische Karikatur. Die Zeitungen des ›middlemarket‹
widmeten dem graphischen und bildlichen Material zwar schon 1950
breiten Raum, allerdings nicht in dem omnipräsenten Maße wie im Vergleichsjahr
1990. Ob eine Karikatur die Aufmerksamkeit der Leser gewinnen kann,
hängt zumindest auch davon ab, mit wie vielen anderen visuellen Eindrücken
sie auf einer Seite konkurrieren muss. Während um 1950 eine politische Karikatur
meist noch den einzigen graphischen Eindruck auf einer Seite bildete, musste
sie sich 1990 häufig gegen graphischeWerbung, Fotos und Infographiken durchsetzen,
ganz zu schweigen von anderen Leitmedien wie Fernsehen und Internet.
Insofern kann davon ausgegangen werden, dass politische Karikaturen in den
1950er Jahren ein tendenziell stärkeres visuelles Wirkungspotential entfalteten
als 1990. Andererseits kann die generell zunehmende Präsenz von visuellen Medien
langfristig dazu geführt haben, dass damit einhergehend auch eine stärkere
Medienkompetenz ausgebildet wurde, die insbesondere in der Fähigkeit besteht,
Bilder hinsichtlich ihrer abbildenden und symbolischen Qualitäten unterscheiden
zu können.